Ein wesentliches Ergebnis dieser Forschungsarbeit ist, dass pädagogisch alltägliche Situationen der emotionalen und körperlichen Nähe vor dem Hintergrund sexueller Gewalt für die pädagogischen Fachkräfte zu einer Herausforderung werden. Die Fachkräfte passen ihr professionelles Handeln an, um sich selbst schützen zu können. Oder anders formuliert: Sie orientieren sich in ihrem Handeln am Selbstschutz. Empirisch zeigt sich, dass ein Gefühl von Sicherheit für die eigene Person grundlegend ist, um pädagogisch handeln zu können. Um diese Sicherheit herzustellen, muss die durch einen Generalverdacht evozierte Unsicherheit zunächst bearbeitet werden, um dann im nächsten Schritt pädagogisch auf Nähesituationen eingehen zu können. Wie aber erfolgt nun genau diese Bearbeitung? Dieser Frage geht das folgende Kapitel nach.

Nachdem die vorangegangenen Kapitel darauf fokussiert waren, bei welchen Anlässen das Thema sexuelle Gewalt präsent wird, werden im Folgenden für jedes Team die handlungsleitende Orientierung sowie die sich daraus ergeben Bewältigungsstrategien herausgearbeitet. Ziel des Kapitels ist es, in Falldarstellungen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Teams herauszuarbeiten und so zu einer sinngenetischen Typenbildung zu kommen. Während die Stärke der ersten Systematisierung der empirischen Ergebnisse darin liegt, einzelne Themenbereiche sehr genau zu beleuchten, stehen in dieser zweiten Systematisierung nun Systematiken und Muster zwischen den Teams sowie deren Besonderheiten im Fokus. Der thematische Vergleich der vorangegangenen Kapitel bildet die Grundlage, um für jedes Team zusammenfassend handlungsleitende Orientierungen zu formulieren. Diese werden noch durch die Rekonstruktion von Bewältigungsstrategien ergänzt, die die Teams jeweils wählten, um die Herausforderung von Nähesituationen zu bearbeiten.

Es hat sich bereits gezeigt, dass sich die familienanalog arbeitenden Teams und die nicht familienanalog arbeitenden Teams hinsichtlich ihrer handlungsleitenden Orientierung in Nähesituationen stark unterscheiden (vgl. u. a. Kap. 10). In der Darstellung der Fälle wird diesem Befund dadurch Rechnung getragen, dass zunächst die vier familienanalog arbeitenden Teams porträtiert werden. Vorangestellt werden die Teams 6 und 5, weil sie innerhalb der familialen Teams hinsichtlich ihrer Orientierung und der Bewältigungsstrategien einen maximalen Kontrast darstellen. Daran schließen sich die weiteren beiden familienanalogen Teams 1 und 4, sowie die nicht familienanalogen Teams 2 und 3 an. Die Fallbeschreibungen beginnen jeweils mit einer knappen Erinnerung an einige Eckdaten der Teams. Eine ausführliche Vorstellung findet sich in Kapitel 4. Für die Teams 1 bis 5 sind weite Teile der Rekonstruktionen der handlungsleitenden Orientierung bereits in den vorangegangenen Kapiteln erfolgt. Die hier vorgenommene Darstellung ist eine Synopse aus den thematisch geordneten Kapiteln 5 bis 11.

12.1 Team 6 – Wände als Selbstschutz

Die pädagogischen Fachkräfte des Teams 6 arbeiten alle zwischen 10 und 35 Jahre in derselben Wohngruppe und kennen sich sehr gut. Die Ausrichtung der Wohngruppe ist familiär. Die pädagogischen Fachkräfte arbeiten zwar im 24-Stunden-Schichtdienst, haben aber konzeptionell den Anspruch, einen Lebensort für die Kinder zu bieten, die oftmals bis zur Verselbstständigung in der Gruppe wohnen. Ziel ist auch, eine Bindung über die Entlassung aus der Gruppe hinaus aufrecht zu halten. Das zeigt sich etwa darin, dass zusammen mit Ehemaligen gemeinsam Silvester gefeiert wird (für eine ausführliche Vorstellung der Gruppe, siehe Kap. 4). Team 6 arbeitet für Einrichtung D. Die Einrichtung ist einige Monate vor der Erhebung fusioniert, in der Folge haben viele Leitungskräfte in der Einrichtungsleitung gewechselt. Team 6 bewertet diese Veränderungen sehr negativ. In der Orientierung zeigt sich, dass alle Teammitglieder sich immer wieder positiv auf die Einrichtung vor der Umstrukturierung beziehen und sich stark von der heutigen Organisation abgrenzen.

Handlungsleitende Orientierung

Die handlungsleitende Orientierung von Team 6 ist geprägt durch eine sehr starke Spannung zwischen dem eigenen fachlichen Anspruch und den Einschränkungen, die sie durch organisationales Misstrauen erfahren (vgl. Abschn. 9.1).

Das Team stellt sich selbst insgesamt als kompetent im Umgang mit Nähesituationen dar. Alle Fachkräfte haben viel Erfahrung, haben in der Vergangenheit viele stark traumatisierte Kinder und Jugendliche betreut und sind insgesamt sehr zufrieden mit dem Erfolg ihrer Arbeit. Wesentlicher Teil ihrer Orientierung ist der Aufbau von Beziehungen und damit verbundener pädagogischer Nähe zu den Kindern und Jugendlichen (vgl. Kap. 10). In Erzählungen über die Arbeit vor der organisationalen Umstrukturierung wird deutlich, dass die pädagogischen Fachkräfte eine Beratung und Reflexion mit dem einrichtungsinternen Psychologen als sehr gewinnbringend angesehen haben. Durch den organisational geschaffenen und angeleiteten Reflexionsraum war es möglich, pädagogisch sehr herausfordernde Nähesituationen besser zu bewältigen. In der gemeinsamen Reflexion des eigenen Handelns konnten Fehler identifiziert und besprochen und das sexuell auffällige, zum Teil übergriffige Verhalten von Kindern besser verstanden werden (vgl. 9.1). In der Orientierung von Team 6 zeigen die Kinder sexualisiertes Verhalten aufgrund biografischer Traumatisierungen. Das Team hat den Anspruch, die Kinder mit ihren Eigenheiten anzunehmen und ihnen einen sicheren Ort zu bieten, an dem sie u. a. gesellschaftlich akzeptierte Nähe- und Distanzregulation erlernen können. Weitere Bestandteile der handlungsleitenden Orientierung von Team 6 sind die körperliche Versorgung, persönliche Grenzen und die Beantwortung emotionaler Bedürfnisse (vgl. Kap. 10). Seit der Umstrukturierung der Organisation und der Teilnahme an einer Fortbildung zu sexueller Gewalt in Institutionen überschattet der Selbstschutz der Fachkräfte diese handlungsleitenden Teile der Orientierung. Die ausführliche Rekonstruktion der Erzählung über die organisationale Umstrukturierung in Abschnitt 9.1 hat gezeigt, dass die pädagogischen Fachkräfte keinen Rückhalt mehr in der Einrichtung D sehen, sondern sich vielmehr einem generalisierten organisationalen Misstrauen ausgesetzt fühlen. Diese Einschätzung liegt insbesondere in dem Vorgehen begründet, das von der Organisation bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt vorgeben wird. Die pädagogischen Fachkräfte kritisieren das standardisierte Vorgehen scharf und gehen davon aus, dass die Äußerung eines Verdachts bereits zu einem Schuldspruch führen würde, von dem eine Rehabilitation nicht möglich wäre. In der Folge schottet sich Team 6 gegen die Einrichtungsleitung ab und bespricht, ganz entgegen ihrer fachlichen Überzeugungen, keine pädagogischen Herausforderungen mit ihnen.

Ein weiterer, wichtiger Teil der Orientierung des Teams 6 zeigt sich darin, dass für Team 6 die Möglichkeit einer Täter*innenschaft eines Teammitglieds außerhalb des Vorstellbaren liegt. Damit steht die Möglichkeit, unter Verdacht zu geraten, für dieses Team ohne Zusammenhang mit einer möglichen realen Tat. Auch konkretes Wissen um Täter*innenstrategien kann diese Orientierung nicht ändern.

figure a

In dieser Textstelle zeigt sich, dass durch die einrichtungsinterne Schulung für Herrn Aman deutlich geworden ist, dass ein gutes Bild von einem Kollegen mit Blick auf sexuelle Gewalt trügerisch sein kann. Ihm ist vermittelt worden, dass besonderes Engagement und eine öffentliche Distanzierung von sexueller Gewalt auch Teil einer Täter*innenstrategie sein können. Mit dieser Erkenntnis ist die Sicherheit, in der sich Herr Aman gewähnt hatte, „zusammengebrochen“. Er kann sich in dieser Logik nicht mehr auf die eigene Einschätzung der Kolleg*innen verlassen und auch seine offen nach außen getragene Haltung gegen sexuelle Gewalt schützt ihn nicht davor, doch selbst unter Verdacht zu geraten. Diese Erkenntnis ist für ihn zerstörerisch und führt zu dem Standpunkt: „weiß = se wie lotto spielen; mach einfach wie bisher, is dreizig jahre, fünfunddreizig jahre jut jejangen, die letzten vier jahre jet dat auch noch jut;“ (GD6, 1071–1073). Der Ratschlag der Schulung, sich nicht rückhaltlos auf seine Kolleg*innen und seine Einschätzung seiner Kolleg*innen verlassen zu können, stellt ihn vor ein unlösbar erscheinendes Problem. Mit dem Vergleich zur Lotterie konstruiert er sich als ohnmächtig und vom Glück abhängig, ob es in seinem Arbeitsalltag in den nächsten Jahren zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kommen kann. Das neue Wissen um Täter*innenstategien aus der hausinternen Schulung erschüttert Herrn Aman zwar, andere Textstellen belegen jedoch, dass er in seiner Orientierung daran festhält, dass sein Arbeitsort vor sexueller Gewalt durch pädagogische Fachkräfte sicher ist. Das auf der Schulung vermittelte Wissen steht damit in starker Inkongruenz zu seiner eigenen Orientierung. Er lässt sich jedoch nicht beirren und hält an der vertrauensvollen Zusammenarbeit fest, die für die letzten 35 Jahre die Basis seines professionellen Handelns war. Das Wissen ist für ihn nicht in die Handlungspraxis integrierbar. In weiteren Textstellen bestätigen auch die anderen Teammitglieder, dass sexuelle Gewalt durch ihre Kolleg*innen für sie unvorstellbar ist und sie nur bedingt gemäß den Handlungsrichtlinien handeln würden.

Die Möglichkeit, dass es zu sexueller Gewalt durch Kolleg*innen kommt, ist kein Bestandteil der handlungsleitenden Orientierung des Teams. Aus diesem Grund ist der limitierende Faktor für das Handeln der pädagogischen Fachkräfte des Teams 6 in Bezug auf das Thema sexuelle Gewalt durch Fachkräfte überwiegend der Selbstschutz. Eine Orientierung am Kinderschutz im Sinne eines Schutzes vor Gefahr durch Fachkräfte kommt nicht vor, da davon ausgegangen wird, dass es keine Gewalt gibt. So werden durch das Team nur der eigene Schutz und die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen nach Nähe miteinander abgewogen.

Bewältigungsstrategien

Dass die Angst, unter Verdacht zu geraten, und die Bewältigungsstrategie des Selbstschutzes im Alltag übermächtig werden können, illustriert Herr Deich an einem Beispiel körperlicher Versorgung (vgl. auch 10.1): Bei einem Jungen ist eine Vorhautverengung aufgetreten. Diese macht es medizinisch notwendig, dass die Körperhygiene des Jungen stärker begleitet wird. Diese Aufgabe übernimmt Herr Deich in seiner Rolle als Erzieher. Um sich selbst abzusichern, stellt er in dieser körperlich sehr nahen Situation jedoch Öffentlichkeit her und lässt die „tür extra auf“ (GD6, 1080). Die offene Tür ist eine symbolische Geste, um das eigene Handeln sichtbar und öffentlich zu machen. Weiter hat der Kinderarzt Herrn Deich dazu aufgefordert, den Penis des Kindes einzucremen. Diese Aufforderung ist für Herrn Deich zu „risikoreich“ (GD6, 1084) und er verweigert die bessere Versorgung des Kindes. Der Schutz seiner Person wird hier über das medizinische Bedürfnis des Kindes gestellt. Zudem sieht er hier eine Grenze überschritten: das „darf ich nich[t]“ (GD6, 1083). In seinem professionellen Verständnis ist es ihm unmöglich, das Eincremen zu übernehmen. Gleichzeitig problematisiert er dieses Verbot als „totale[n] schwachsinn“ (GD6, 1084) und vergleicht die Situation mit der Versorgung des eigenen Sohnes. Für ihn steht es außer Frage, dass er bei einer medizinischen Indikation seinem eigenen Sohn den Penis eincremen würde. Die Ungleichbehandlung der Kinder bewertet er als problematisch, da er für beide elterliche Aufgaben und Pflichten übernimmt. Dass der Junge, dessen biologischer Vater er nicht ist und der durch seine Biografie schon „probleme genug“ (GD6, 1088) hat, weniger gut versorgt wird, empfindet er als ungerecht. Dem stimmen die Kolleg*innen zu.

Neben Situationen der körperlichen Versorgung werden auch Nähesituationen problematisch, in denen Kinder Körperlichkeit aufgrund emotionaler Bedürfnisse einfordern (vgl. auch 10.1): Ein Mädchen, das nach einem schweren Schultag in die Gruppe kommt und gedrückt werden möchte. Ein Junge, „der lange devin“, der Liebeskummer hat und am liebsten bei den pädagogischen Fachkräften auf dem Schoß sitzen, umarmt werden möchte. Für beide Situationen kommen die Fachkräfte zu der Einschätzung, dass es „aus pädagogischer sicht unheimlich sinnvoll, und unheimlich nötig wäre“, körperliche Nähe herzustellen, „aber wat […] vor diesem hintergrund, des sexuell, der gefahr des sexuellen missbrauchs bezichtig zu werden“ (GD6, 1385–1386) nicht möglich ist. In diesen Beispielen wird als Bewältigungsstrategie, gegen die Überzeugung der Fachkräfte, die Nähe zu den Kindern und Jugendlichen begrenzt:

figure b

Pädagogisch sinnvolle körperliche Nähe wird zugunsten des Selbstschutzes der Fachkräfte verwehrt. Dies bedeutet in der Orientierung von Team 6 eine Deprofessionalisierung der pädagogischen Arbeit.

In den Ausführungen oben wurden bereits Bewältigungsstrategien für Situationen der Nähe erwähnt. Zum einen Fallbesprechungen mit Psychologen, die aber derzeit aufgrund der Abschottung gegenüber der Einrichtung nicht zum Tragen kommen. Darüber hinaus gibt es im Team immer wieder Schilderungen von Selbstreflexion. Diese Bewältigungsstrategie findet sich bspw. auch in der Erzählung über die Vorhautverengung, in der Herr Deich beschreibt, wie er die pädagogische Unzulänglichkeit seines Handelns reflektiert, er sich aber dennoch aufgrund der Gegebenheiten für den Selbstschutz entscheidet.

Schließlich lassen sich eine offene Kommunikation im Team sowie die Dokumentation im Übergabebuch als Teil der Herstellung von Öffentlichkeit rekonstruieren:

figure c

Auffällig an dieser Sequenz ist, dass die Bewältigungsstrategien zum einen zum Selbstschutz angewendet werden („dass das auch n schutz, is für mich; diese offenheit;“), andererseits aber auch der Schutz der Kinder hier deutlich im Blick ist. Sollten die Kolleg*innen hier anders handeln, würden sie sich selbst verdächtig machen.

Zusammenfassend lassen sich sieben Bewältigungsstrategien des Teams 6 identifizieren: (1) Zum einen entscheiden sie sich in Situationen, die für sie gefährlich sein können, dafür Nähe zu verweigern. (2) In anderen Situationen werden Türen geöffnet, um Öffentlichkeit herzustellen. (3) In wieder anderen Situationen entscheiden sich die Fachkräfte auch bewusst dafür, Nähe zu geben, auch wenn sie die Situationen für sich selbst als risikovoll einschätzen. Die Abwägung geschieht individuell und es zeigen sich Tendenzen, dass einige stärker Nähe verweigern als andere. (4) Als weitere Strategie wird Öffentlichkeit hergestellt, sowohl symbolisch als auch tatsächlich. (5) Weiter betreiben die Fachkräfte eine offene Kommunikation im Team. (6) Gegenüber der Einrichtung wählen die pädagogischen Fachkräfte als Bewältigungsstrategie die Abschottung. Sie haben sich zurückgezogen und bearbeiten problematische Nähesituationen intern. Ihnen ist es überaus wichtig, dass sie sich und die Kolleg*innen vor Anschuldigungen schützen, die durch die Einrichtung untersucht würden. Berücksichtigt man noch den positiven Gegenhorizont, den die Fachkräfte mit Blick auf ihr Verhältnis zur vormaligen Leitung formuliert haben, so kommen noch als Bewältigungsstrategie Reflexionsgespräche mit einrichtungsinternen Psycholog*innen dazu (7).

12.2 Team 5 – Vertrauensverhältnis als Basis für Selbstschutz

Bei der Vorstellung des Teams 5 (Einrichtung C) in Kapitel 4 wurde ausführlich dargestellt, dass das Team eine Kinderdorffamilie führt. Es gibt eine innewohnende Fachkraft, Frau März, die der Familie bereits seit 18 Jahren vorsteht. Sie und auch die jüngeren Fachkräfte definieren sich selbst als Teil der Kinderdorffamilie. Als konzeptionelles Merkmal der Wohngruppe wird eine enge Beziehung zu den Kindern herausgestellt. Das Bedürfnis der Kinder nach einer solchen Beziehung wird als Voraussetzung für die Aufnahme benannt.

Handlungsleitende Orientierung

Team 5 gibt analog zu Team 6 an, sich mit dem Thema sexuelle Gewalt beschäftigt zu haben. Während Team 6 hier die einrichtungsinterne Schulung benennt, wird von Team 5 nicht benannt, wie sie sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Weiter wurden ebenfalls mediale Berichte über sexuelle Gewalt wahrgenommen und es werden von Frau März Zusammenhänge zwischen den medialen Berichten und der Überprüfung von organisationalen Verfahrenswegen gesehen (siehe 7.2). Insgesamt wird über die gesellschaftliche und organisationale Thematisierung von sexueller Gewalt sehr unaufgeregt berichtet. Damit steht Team 5 in seiner Orientierung im maximalen Kontrast zu Team 6, bei dem die Fachkräfte sehr emotional über die Handlungsrichtlinien und die Einschränkungen der eigenen Handlungspraxis berichteten.

Einen weiteren maximalen Kontrast bilden die beiden Teams in Bezug auf ihre Möglichkeit, sich sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen vorzustellen (vgl. Kap. 11). Während es Team 6 auch im reflexiven Moment der Gruppendiskussion nicht möglich ist, zeigt Team 5 performativ in seinen Antworten auf den Stimulus II, dass es sich sexuelle Gewalt durch Fachkräfte in ihrer eigenen Handlungspraxis vorstellen kann. Frau März äußert diese Orientierung folgendermaßen:

figure d

Unter weiterem Einbezug der in den vorangegangenen Kapiteln rekonstruierten Fokussierungsmetaphern von Team 5 lässt sich festhalten, dass die Orientierung vor allem aufgrund von zwei Punkten im starken Kontrast zu Team 6 steht:

  1. (1)

    Team 5 formuliert eine „große sorge“ (GD5, 1383) vor Falschbeschuldigungen, weil sie damit rechnen, dass diese weitreichenden Konsequenzen für die pädagogischen Fachkräfte hätten. Dennoch bleiben die Thematisierung und Bearbeitung des Phänomens sexueller Gewalt in Institutionen für das Team 5 weniger bedrohlich für das professionelle Selbst. Es entsteht keine grundsätzliche Verunsicherung der Professionellen. Das Thema sexuelle Gewalt ist zwar präsent, hat auch etwas mit ihrer Arbeit zu tun, es stellt jedoch keine existentielle Bedrohung dar, sondern ist ein Thema, mit dem professionell umgegangen werden muss. Die Fachkräfte bleiben in dieser Orientierung handlungsmächtig und in der Lage, Herausforderungen rund um das Thema sexuelle Gewalt in Institutionen handzuhaben. Die Einrichtung spielt in der Orientierung von Team 5 keine Rolle.

  2. (2)

    Für Team 5 ist sexuelle Gewalt durch Fachkräfte auch für den eigenen Erfahrungsraum potenziell vorstellbar und wird nicht kategorisch ausgeschlossen, wie dies Team 6 tut. Limitierend für das Handeln sind jedoch ebenfalls Falschbeschuldigungen von pädagogischen Fachkräften durch Kinder und Jugendliche, die sie in der Vergangenheit erlebt haben und die für sie selbst sehr unangenehm waren (vgl. 9.1). Das sich durch das Thema sexuelle Gewalt ergebende Risiko für sie selbst sehen die pädagogischen Fachkräfte in dem möglichen Verhalten der Kinder und Jugendlichen. Risikovoll wird es für sie, wenn Kinder und Jugendliche vor dem Hintergrund biografischer Vorprägungen, bspw. früherer Gewalterfahrungen, Falschbeschuldigungen bezüglich sexueller Gewalt gegen sie einsetzen. Ein organisationaler und/oder gesellschaftlicher Generalverdacht, wie er für Team 6 vornehmlich handlungsleitend ist, wird nicht als Gefahr thematisiert. Die Gefährdung, der sich die pädagogischen Fachkräfte ausgesetzt sehen, liegt in der Natur ihrer Arbeit mit vulnerablen Kindern.

Bewältigungsstrategien

Im Folgenden werden nun die Bewältigungsstrategien von Team 5 dargestellt. Alle hier zitierten Textstellen sind bereits unter einem anderen Fokus in den thematisch sortierten Kapiteln betrachtet worden. In der Analyse hier sind nun die Bewältigungsstrategien der zentrale Gegenstand.

Wie für alle Teams wird auch für Team 5 sexuelle Gewalt zunächst in ihrer Handlungspraxis relevant, wenn es um Situationen der Nähe geht (vgl. Kap. 10). Zentrales Motiv ihrer Orientierungstheorie ist hier die Erziehung der Kinder hin zu einem ihrer pädagogischen Einschätzung nach normalen Verhalten im Hinblick auf körperliche Nähe. Pädagogisches Ziel der Fachkräfte ist es, einen „natürlichen umgang zueinander“ (GD5, 940) zu gestalten. Dabei gehen sie davon aus, dass Kinder „körpernähe“ (GD5, 941) brauchen und ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden. Im alltäglichen Handeln stoßen die pädagogischen Fachkräfte dabei immer wieder an Grenzen, in denen die Bedürfnisse der Kinder nach Nähe einen bewusst gestalteten Umgang mit der Situation erfordern:

figure e

Als Beispiel für das bewusste, reflektierte Gestalten von Nähesituationen führt Frau Siepen den Wunsch von Kindern nach einem Gute-Nacht-Kuss an. Hier ist die Frage, ob und wohin die Kinder geküsst werden können. In ihre Überlegungen, wie sie handeln kann, fließen sowohl ihr eigenes Empfinden von körperlichen Grenzen mit ein, als auch die Einschätzungen und Absprachen, die im Team getroffen werden. Dem Bedürfnis der Kinder, einen Gute-Nacht-Kuss auf den Mund zu bekommen, so, wie sie es von Eltern möglicherweise gewöhnt sind, wird hier nicht nachgekommen. Ähnlich wie bei Team 6 werden hier also Bedürfnisse nach Nähe zurückgewiesen. Während es bei Team 6 jedoch darum ging, nicht selbst unter Verdacht zu geraten, geht es hier zunächst um die persönlichen Grenzen von Intimität. Das Bedürfnis der Kinder wird hier zwar zur Kenntnis genommen, muss jedoch vor dem Hintergrund der besonderen Lebensumstände in der Einrichtung angepasst werden. Nähe wird hier nicht zum Schutz der Fachkräfte begrenzt, sondern weil es kein elterliches Verhältnis ist. Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte ist es, den Kindern diese Grenzziehung zu „vermitteln“, dass sie keine Ablehnung ihrer Person ist, sondern in dem Unterschied zwischen Leben in der eigenen Familie und Leben in der institutionalisierten Familie angelegt ist. Die hier benannten Bewältigungsstrategien sind dreischrittig: (1) das Identifizieren eigener Grenzen, (2) die Reflexion von Nähebedürfnissen der Kinder im Team und (3) die Thematisierung und Vermittlung von begründeten Grenzsetzungen den Kindern gegenüber. Weitere Fokussierungsmetaphern, die bereits im Kapitel zu Nähesituationen dargestellt wurden, bestätigen diese Bewältigungsstrategien von Team 5. Die Reflexion der Grenzen stellt sich darin als kontinuierlicher Aspekt ihrer Arbeit dar. Abhängig vom Alter der Kinder, Konstellation und gegenseitiger Vertrautheit wird der Umgang mit Nähe angepasst. Hierbei zeigt sich neben den persönlichen Grenzen und Anpassungen, die aufgrund der besonderen Lebensumstände in der Institution vorgenommen werden müssen, auch eine Vorstellung von normaler Sexualität. Die Fachkräfte sehen es als ihre Aufgabe an, einen normalen Umgang mit körperlicher Nähe zu vermitteln:

figure f

In der Textstelle wird auf Mädchen und Kinder mit distanzlosem Verhalten Bezug genommen. Welcher Maßstab hier als normal angesehen wird, bleibt diffus. Die Begleitung der sexuellen Entwicklung und der Sexualerziehung werden als genuine Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte angesehen. Handlungspraktisch wird hier wiederum auf den Dialog mit den Kindern und Jugendlichen sowie auf Reflexion ihrer Bedürfnisse gesetzt. Die pädagogischen Fachkräfte beschreiben in einer zentralen Fokussierungsmetapher (GD5, 1969–1997, vgl. 8.3.1), dass „der grundstock [ist], das man ne beziehung mit dem kind eingeht“ und ein „vertrauensverhältnis“ aufbaut, um körperliche und sexuelle Entwicklungen gut begleiten zu können. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses ist eine dominante Bewältigungsstrategie von Team 5, um sich vor falschen Beschuldigungen zu schützen. Damit soll ein Status erreicht werden, in dem die Kinder und Jugendlichen Schwierigkeiten ansprechen können, der aber gleichzeitig verhindert, dass sie Verhalten der pädagogischen Fachkräfte in den „falschen hals“ (GD5, 1992) bekommen.

Als weitere Bewältigungsstrategie zur Absicherung gegen falsche Anschuldigungen werden Absprachen im Team und ein bewusster Umgang mit Nähesituationen genannt:

figure g

Ausgangspunkt der hier beschriebenen Bewältigungsstrategie ist, dass „kinder“ oder „pubertierende mädchen […] sagen, der hat mich angefasst; oder auch die hat mich angefasst; und das will ich nicht“. Mit der Aussage wird sexuelle Gewalt als „dieses thema“ präsent. Mit dieser Einordnung wird die Aussage der Mädchen aufgegriffen und ins Team kommuniziert, um einen gemeinsamen Umgang „mit diesem kind“ zu bekommen. Deutlich wird in der Aussage, dass im Folgenden das Kind und dessen Verhalten im Fokus der Beobachtung steht und nicht die pädagogische Fachkraft, der vorgeworfen wird, das Mädchen angefasst zu haben. Zugleich wird aber der Kontakt zwischen den Fachkräften und den Kindern nachfolgend beobachtet und ggf. begrenzt. Dieses Vorgehen kann in doppelter Hinsicht als Schutz gesehen werden. Der Schutz der Fachkraft scheint hier im Fokus zu stehen, gleichzeitig wird durch die Begrenzung auch das Kind oder der*die Jugendliche geschützt.

Interessant ist hier, noch einmal Team 6 als Gegenhorizont heranzuziehen: Auch durch Team 6 wurde von fiktiven Aussagen von Kindern berichtet, mit denen das Thema sexuelle Gewalt präsent werden würde. In der Interpretation der organisationseigenen Handlungsrichtlinien wäre Team 6 ein Vorgehen, wie es von Team 5 beschrieben wurde, verboten. Sie dürften sich nicht mit den Kolleg*innen beraten, sondern müssten die Aussage melden und der*die Kolleg*in würde ggf. suspendiert. Die Voraussetzungen, unter denen die Teams mit einer solchen Aussage eines Kindes arbeiten müssen, sind in dieser Perspektive grundsätzlich verschieden. Während Team 5 Handlungsautonomie behält, ist Team 6 in seinen Handlungsmöglichkeiten stark begrenzt. Demensprechend unterschiedlich ist auch das Risiko, das von einer falschen Anschuldigung durch Kinder und/oder Jugendliche ausgeht. Während sie für Team 5 unangenehm, aber handhabbar ist, ist sie für Team 6 der eigenen Einschätzung nach fatal.

12.3 Team 1 – individuelle Gefühle als Maßstab für das eigene Handeln

Auch Team 1 (Einrichtung A) zählt zu den Teams, die in ihrem pädagogischen Konzept an Familie orientiert sind (vgl. 4.2.2). Mit dieser Ausrichtung geht einher, dass die pädagogischen Fachkräfte bewusst eine gute persönliche Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen aufbauen und den Alltag der Wohngruppe familiär gestalten wollen. Das beinhaltet gerade auch Situationen der körperlichen und emotionalen Nähe.

Handlungsleitende Orientierung

Ähnlich wie bei Team 5 und 6 ist Teil ihrer Orientierung, den Kindern einen normalen körperlichen Umgang zu vermitteln (vgl. GD1 637 ff.). Limitierend sind für ihr professionelles Handeln zum einen die Vorstellungen davon, was normal ist und zum anderen die persönlichen Grenzen von körperlicher Nähe. Von diesen Beurteilungen hängt es ab, wie viel körperliche Nähe die Fachkräfte zu geben bereit sind. So wird bspw. auch in dieser Gruppendiskussion der Gute-Nacht-Kuss, den kleine Kinder einfordern, thematisiert. Man ist sich einig, keinen Kuss auf den Mund zugeben, weil dies nur die Mutter tun dürfe (GD1, 965 ff.). Gleichzeitig empfindet dieses Team auch Angst vor einer Falschbeschuldigung, die das pädagogische Handeln in Nähesituationen zusätzlich begrenzt (vgl. Kap. 9).

Die jungen Erzieher*innen und Praktikant*innen des Teams berichten über eine Sensibilisierung durch ihre Ausbildung. Dort wurde die These vertreten, dass man als männlicher Erzieher immer schon „mit einem bein […] im knast“ (GD1, 558) stünde. Diese Ansicht wird von den übrigen Diskutant*innen geteilt. Hier zeigt sich der Generalverdacht, dem sich viele der Teams ausgesetzt sehen. Wie in Abschnitt 7.2 dargestellt, sieht das Team die mediale Thematisierung ursächlich für das unangemessene Misstrauen gegenüber männlichen Fachkräften. Es werden von den Praktikant*innen Beispiele aus ihren Praktika in Kindertagesstätten angeführt, bei denen Eltern ihr Misstrauen auch explizit äußerten und männlichen Kollegen verboten wurde, Kinder zu wickeln (vgl. GD1, 500 ff.). Aufgrund des Generalverdachts führt sexualisiertes Verhalten der Kinder und Jugendlichen sowie das Erleben von Falschbeschuldigungen durch Kinder, Jugendliche und Eltern dazu, dass Nähesituationen im Alltag problematisch werden (vgl. Kap. 9).

Im Vergleich zu den anderen beiden Teams steht Team 1 in seiner Orientierung hinsichtlich des Generalverdachts zwischen den beiden Teams. Es wird ein Generalverdacht wahrgenommen und es wird auch beschrieben, wie sich daraus Handlungsunsicherheiten ergeben, bspw. wenn männliche Fachkräfte nicht wissen, wie sie mit kleinen Kindern umgehen sollen, die sich eingenässt haben (vgl. GD1, 538 ff.). Es zeigen sich jedoch nicht in gleicher Weise Handlungsunsicherheiten, wie das in Team 6 der Fall ist.

Hinsichtlich der eigenen Einrichtung und deren Umgang mit sexueller Gewalt bzw. einem Verdacht wird berichtet, dass es Phasen gab, in denen die Einrichtung das Thema stärker aufgegriffen hat und sich hieraus auch Risiken für die pädagogischen Fachkräfte ergeben haben, unter falschen Verdacht zu geraten (vgl. GD1, 261). Diese Risiken werden jedoch nicht annähernd so weitreichend eingeschätzt, wie dies bei Team 6 der Fall ist. Analog zu Team 5 können sich bei Team 1 mindestens die Gruppenleiterin und der Elternberater vorstellen, dass es bei ihnen zu sexueller Gewalt durch Kolleg*innen kommen kann (vgl. Kap. 11). Ob die anderen Diskutant*innen diese Orientierung teilen, wird nicht deutlich. Die Aussagen deuten eher darauf hin, dass sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen für sie nicht oder nur sehr schwer vorstellbar ist. Die potenzielle Möglichkeit, dass es zu sexueller Gewalt durch Kolleg*innen kommen kann, ist für das Team nicht handlungsleitend.

Bewältigungsstrategien

Die oben dargestellte Orientierung des Teams 1 ist für den Umgang der pädagogischen Fachkräfte mit Nähesituationen handlungsleitend. Exemplarisch für ihre Bewältigungsstrategien ist die in Abschnitt 10.2 dargestellte, kollektive Erzählung über eine fünfjährige Bewohnerin, die bei verschiedenen Gelegenheiten die Fachkräfte auf den Mund zu küssen versucht hat. Zunächst zeigt sich an den Erzählungen, dass das Team durchaus bereit ist, Nähe zu geben – das Mädchen wird auf den Arm genommen, getragen und zärtlich im Gesicht berührt, auch in dem Wissen, dass sie gelegentlich den Fachkräften einen Kuss gibt. Dieser wiederum wird von den jüngeren Kolleg*innen als persönliche Grenze benannt. Damit verweist die Situation auf beide Bewältigungsstrategien, sowohl das Geben von Nähe trotz eines möglichen Risikos, als auch die Begrenzung von Nähe. In der Kommentierung des bei der Gruppendiskussion anwesenden Elternberaters Franz wird deutlich, dass es in Team 1 zu individuellen Entscheidungen im Hinblick auf Nähe kommt. Für Franz sind gelegentliche Küsse die das Mädchens ihm gibt stimmig. Im Gegensatz zu Teams 5 und 6, bei denen Nähesituationen im Team besprochen und Vorgehensweisen abgestimmt werden, findet sich diese Bewältigungsstrategie bei Team 1 nicht.

Als weitere Bewältigungsstrategie zeigt sich hingegen auch für Team 1 das Herstellen von Öffentlichkeit:

figure h

Auch hier wird wieder die Herstellung von Öffentlichkeit als Bewältigungsstrategie gewählt. Hintergrund der Überlegung ist, dass es zu potenziell gefährlichen Situationen kommt, wenn „kinder was erlebt haben“. Bei dieser indexikalen Aussage ist anzunehmen, dass es um Gewalterfahrungen von Kindern geht. Kinder, die also schon einmal sexuelle Gewalt erfahren haben, wird die Fähigkeit zugesprochen, „einen strick“ zu drehen, also pädagogische Fachkräfte in eine Falle zu locken. Die geöffnete Tür und das Hinzuziehen von Zeug*innen sind dann Bewältigungsstrategien, um falsche Beschuldigungen bereits vorbeugend zu entkräften.

Zusammenfassend lässt sich für die Bewältigungsstrategien des Teams 1 sagen, dass oftmals die eigenen Gefühle und Erfahrungen für ein Abwägen des individuellen Handelns angeführt werden. Besonders deutlich wird dies in der beschriebenen Fokussierungsmetapher über Andrea, die die Fachkräfte nahezu alle schon einmal geküsst hat. Dies scheint jedoch bisher nicht Gegenstand von Aushandlungen im Team gewesen zu sein. Individuell unterschiedliche Grenzen bezüglich Nähe werden toleriert. Die individuellen Bedürfnisse und Grenzen der Kinder sowie der Fachkräfte werden gesehen. Es wird bspw. beschrieben, wie einige Kinder in den Arm genommen werden, andere wiederum nicht, weil die Fachkräfte sich erkundigt haben und aus Erfahrung wissen, wer wieviel Nähe das Kind braucht (vgl. GD1, 1193 ff.). Gemein ist den pädagogischen Fachkräften, dass ihnen ihre Absicherung gegen falsche Beschuldigungen wichtig ist. Dies geschieht vor allem dadurch, dass Öffentlichkeit geschaffen wird. Eine Verweigerung von Nähe mit der Begründung, dass das eigene Handeln zu sehr im Kontext von sexueller Gewalt gesehen werden würde, erfolgt kaum. Wie im Beispiel von Andrea werden andere Wege gesucht, um Nähe geben zu können, ohne Grenzen der Konventionen zu überschreiten.

12.4 Team 4 – Selbstreflexion als Maßstab des Handelns

Bei dem Team 4 handelt es sich um eine gerade gegründete Kinderdorffamilie, der eine männliche Fachkraft als Kinderdorfvater vorsteht. Es arbeiten zwei weitere weibliche Fachkräfte und ein Bundesfreiwilligendienstleistender in der Wohngruppe. Eine Orientierung an Familialität ist konzeptionell verankert und wird auch in den Erzählungen der Fachkräfte über den Alltag deutlich (für die ausführliche Vorstellung siehe 4.2.2). Das Team 4 ist, genau wie Team 5, Teil der Einrichtung C.

Handlungsleitende Orientierung

Wie alle anderen Teams distanziert sich auch dieses Team von sexueller Gewalt durch Fachkräfte und gibt an, diese noch nicht in ihrer Praxis erlebt zu haben. Gleichzeitig werden jedoch im pädagogischen Alltag Gelegenheiten für sexuelle Gewalt gesehen. Dem Team ist bewusst, dass eine vollständige Sicherheit für die Kinder nicht hergestellt werden kann. Dennoch ist für sie die Vorstellung, dass es in ihrer eigenen Wohngruppe zu sexueller Gewalt kommt, unter normalen Umständen unvorstellbar und wird erst im reflexiven Moment der Gruppendiskussion präsent.

Ähnlich wie bei Team 6 ist für die Orientierung des Teams prägend, dass die Mitarbeiter*innen ein unangemessenes Misstrauen der Einrichtung gegenüber pädagogischen Fachkräften beobachten. Das Misstrauen richtet sich in diesem Fall besonders gegen die männlichen Fachkräfte und steht in der Orientierung aller Fachkräfte in Zusammenhang mit der medialen Thematisierung von sexueller Gewalt, welche als Ursache für das organisationale Misstrauen beschrieben wird, ähnlich wie dies bei Team 1 der Fall ist (vgl. 7.2).

Anders als für Team 5, das Einrichtung C als hilfreich wahrnimmt, ist dies für Team 4 nicht der Fall. Die Fachkräfte antizipieren, dass in einem möglichen Verdachtsfall die Reaktion der Einrichtung willkürlich wäre und damit für sie auch potenziell gefährlich. Sie haben Erfahrungen mit verdeckten und stigmatisierenden Überprüfungen von männlichen Fachkräften gemacht. Vor diesem Hintergrund ist für die Fachkräfte gegenüber der Leitung der Einrichtung das Thema sexuelle Gewalt nicht gut zu kontrollieren und ihre Handlungsspielräume werden beschnitten. Wie für Team 6 stellt auch für Team 4 in der Folge das Thema sexuelle Gewalt eine Bedrohung ihrer professionellen Autonomie dar.

Die subjektiv empfundene Einschränkung durch den organisationalen Umgang ist jedoch weniger stark als bei Team 6 (vgl. Kap. 8). Es gibt darüber hinaus die explizit formulierte Akzeptanz von externer Kontrolle des eigenen Handelns:

figure i

Diese Textstelle ist bedeutsam, weil die innewohnende Fachkraft Jan hier erläutert, dass er für sich selbst keine Transparenz des eigenen Handelns braucht. Er kennt und vertraut sich selbst, dass er den Kindern gegenüber nicht gewaltvoll handeln wird. Die Transparenz, die er selbst herstellt, ist also einzig im Interesse der „anderen“; seiner Kolleg*innen und auch der Einrichtungsleitung, die das Bedürfnis der Kontrolle haben.

Team 4 teilt mit den anderen Teams die Orientierung, dass die untergebrachten Kinder und Jugendlichen, biografisch begründet, oftmals ein abnormales Verhältnis zu Nähe haben. Sie berichten von sexualisiertem Verhalten, dass sie als nicht alterstypisch einordnen. Ihr pädagogisches Ziel ist es, den Kindern ein normales Verhältnis von Nähe und Distanz zu vermitteln (vgl. Kap. 10).

Sehr grundlegend für die Orientierung des Teams 4 ist eine Antinomie, die sie in Bezug auf die familiale Konzeption der Wohngruppe und einer professionellen Distanz sehen. Die familiale Konzeption der Wohngruppe wird von allen Fachkräften als gewinnbringend und für die dort untergebrachten Kinder als passend beschrieben. Zu der familialen Logik gehört auch, dass sich die Fachkräfte für kindliche Bedürfnisse nach Nähe sowie sexuelle Erziehung zuständig fühlen. Sie übernehmen diese Aufgaben, die in ihrer Orientierung eng mit Elternschaft gekoppelt sind. Gleichzeitig bleiben sie Professionelle und keine Eltern, sodass die Erfüllung der Bedürfnisse in der Folge begrenzt wird. Aufgrund von persönlichen Bedürfnissen, organisationalen sowie gesellschaftlichen Konventionen werden gegenüber den Kindern Grenzen von Nähe gezogen. Auch der Selbstschutz vor möglichen Anschuldigungen sexueller Gewalt führt zu Einschränkungen im Geben von Nähe. Unter diesen Vorzeichen bleibt die Familialität ein Versprechen, das nie vollständig eingelöst werden kann. Das Aufwachsen in einer Institution bleibt immer präsent und limitiert die Nähe. Die Verantwortung, die intime Beziehung zwischen ihnen und den Kindern zu regulieren, sehen die Fachkräfte bei sich selbst. Grenzüberschreitungen von Kindern und Jugendlichen sind dann eine pädagogische Herausforderung, die von den Fachkräften bearbeitet werden muss.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich für Team 4 sechs Themenbereiche identifizieren lassen, die die Orientierung prägen: (1) Distanzierung von sexueller Gewalt, (2) mediale Berichterstattung als Anlass für organisationales Misstrauen, (3) organisationales Misstrauen als Einschränkung der professionellen Autonomie, (4) sexuell auffälliges Verhalten von Bewohner*innen, das normalisiert werden muss, (5) die Antinomie zwischen familialer Konzeption und professioneller Distanz und (6) die Verantwortung für die Näheregulation, die bei den Fachkräften liegt.

Bewältigungsstrategien

Im Folgenden soll nun weitergehend rekonstruiert werden, welche Bewältigungsstrategien der Professionellen sich aus dieser Orientierung ergeben.

In der folgenden Passage beziehen die Fachkräfte die Frage des Stimulus nach der Relevanz des Themas sexuelle Gewalt auf ihre konkrete Arbeit:

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Nachdem in der Gruppendiskussion bereits über Medien und die eigene Organisation als Anlässe für die Thematisierung von sexueller Gewalt gesprochen wurde, soll es nun um die „praktische[] eben[e]“ – den Arbeitsalltag gehen. Jan beginnt anhand einer konkreten Situation zwischen ihm und einem Mädchen etwas zu verdeutlichen, wird aber von Ruth unterbrochen. Diese bringt als Thema das „duschen“ mit „den kleinen“ ein. Wie bereits in Abschnitt 8.3.1 gezeigt, sind Situationen, in denen Kinder und Jugendliche Duschassistenz durch die Fachkräfte benötigen, für diese hochproblematisch, weil in ihrer Orientierung eine derartige Intimität für eine professionelle Beziehung nicht vorgesehen ist. Jan und Ruth beschreiben gemeinsam, wie Jan mit dieser problematischen Situation umgegangen ist: Zunächst wird die Situation durch Jan als gefährlich und damit bearbeitungsbedürftig identifiziert. Bei Jan läuten „innere alarme“. Weiter kommt es dann zu einer gemeinsamen Reflexion („ham = wir am anfang drüber gesprochen“) und Einschätzung, wie Jan mit der grenzüberschreitenden Intimität umgehen soll. Ziel dieser Reflexion ist die eigene Absicherung – der Selbstschutz. Die pädagogischen Fachkräfte können vor dem Hintergrund ihrer Aufgabe, die körperliche Versorgung übernehmen zu müssen, begründen, warum sie Duschassistenz leisten müssen. In der Verhandlung darüber, wie die Situationen ausgestaltet werden können, geht es dann darum, nach außen die Legitimität des eigenen Handelns zu beweisen. Eine gewählte Bewältigungsstrategie ist, dass Jan bei der Duschassistenz Türen offenstehen lässt, um so Transparenz zu schaffen und in der Situation versucht, den Grad der Privatheit und Intimität zu reduzieren. In der weiteren Gruppendiskussion wird deutlich, dass Jan die Bewältigungsstrategie der Herstellung von Öffentlichkeit vor allem zu Beginn seiner Arbeit in der Wohngruppe eingesetzt hat. Inzwischen schließt er auch Türen, um privatere Gesprächssituationen zu ermöglichen. Er scheint sich sicherer zu fühlen und die Herstellung von Öffentlichkeit durch die geöffneten Türen scheint für ihn nicht mehr in dem Maß notwendig zu sein (vgl. GD4, 362 ff.).

Bereits in Abschnitt 8.3 ist eine Situation rekonstruiert worden, in der Jan davon berichtet, dass sich ihm ein pubertierendes Mädchen in den Weg stellt, um Körperkontakt zu erzwingen. Sie setzt ihren Körper ganz bewusst ein, um Jan den Weg zu versperren. Hier ist die Bewältigungsstrategie die Zurückweisung eines Nähegesuchs. Die Bewältigung beginnt auch hier wieder mit einer Selbstreflexion. Die Fachkraft beschreibt, dass es bei ihm „klack“ (GD4, 493) macht. Er hält inne und entscheidet, dass er in dieser Situation, um professionell zu handeln, die geforderte Nähe verweigern will.

Die Selbstreflexion als Teil der Bewältigungsstrategie bestätigt sich auch an weiteren Textstellen, bei denen Nähe zugelassen wird.

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In diesem Teil der Sequenz abstrahieren die Fachkräfte von den bislang angeführten Situationsschilderungen. Als Bezugspunkt für ihr Handeln benennen sie selbst ein „inneres system“, an anderer Stelle auch einen „innere[n] alarm“ (GD4, 453) und ihr „bauchgefühl“ (GD, 951) als Handlungsrichtlinie. Die Beurteilung, wieviel Intimität sie mit welchem Jugendlichen eingehen, machen die Fachkräfte also abhängig von inkorporierten Normen und Werten, die sie auf der einen Seite auf gesellschaftliche Konventionen zurückführt und zum anderen auf ihre eigenen Bedürfnisse nach Distanz. Ein Teil der Bewältigungsstrategie ist für sie das Vertrauen auf die eigenen Wertvorstellungen. So schreiben sie sich selbst die Deutungsmacht zu, zu definieren was Gewalt ist und was nicht. Die Deutungen decken sich nicht immer mit denen der Kinder, die – wie beschrieben – in einigen Situationen mehr Nähe und Intimität fordern.

Neben den subjektiven Einschätzungen und Reflexionen gibt es auch kollektive Regeln und Verbote, die von den pädagogischen Fachkräften im Team, bzw. innerhalb der Einrichtung eher implizit ausgehandelt werden, sich aber als feststehende Regeln etabliert haben und unabhängig von Personen und Beziehungen Gültigkeit haben (z. B. keine*r zeigt sich dem*der anderen nackt, Fachkräfte küssen keine Kinder GD4, 1345 ff.). Auf Grenzüberschreitungen reagieren die Mitarbeiter*innen unmittelbar und schieben eine Regulierung der Situation nicht auf. Die Bewältigungsstrategie ist dann die Korrektur des kindlichen Verhaltens.

Im Allgemeinen bemühen sich die Fachkräfte jedoch proaktiv, auf grenzüberschreitende Nähebedürfnisse einzugehen und die Kinder nicht zurückzuweisen. Dazu nutzen sie zwei Bewältigungsstrategien: Zum einen bemühen sie sich, Situationen zu vermeiden, in denen die Kinder oder auch sie selbst grenzüberschreitend sein könnten. Jan beschreibt bspw., wie er Bewegungstechniken entwickelt hat, um sich den körperlichen Annäherungen eines Mädchens zu entziehen und von vorneherein anders in diese Situationen hineinzugehen (GD4, 1061–1167). Zum anderen bieten die Fachkräfte auch Ersatzhandlungen an, um sich den Bedürfnissen der Kinder anzunähern, bspw. einen Luftkuss anstelle eines Kusses auf den Mund, (vgl. GD 4, 1104).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass als grundlegende Bewältigungsstrategie (1) die Selbstreflexion angesehen werden kann. Sollte die nicht ausreichen, besprechen die Fachkräfte problematische Nähesituationen im Team. Im konkreten Umgang kommt es dann, je nach Einschätzung der Fachkräfte, zu (2) dem Herstellen von Transparenz, während die Nähe bzw. Intimität gegeben wird, (3) einer Zurückweisung der Nähe evtl. mit einer Korrektur des kindlichen Verhaltens, (4) kollektiven Regeln und Verboten und/ oder (5) Ersatzhandlungen.

12.5 Team 2 – Nichtzuständigkeit für Nähe

Das Team besteht aus vier pädagogischen Fachkräften, von denen drei an der Gruppendiskussion teilnehmen. Es handelt sich um eine 5-Tage-Gruppe, d. h. die Kinder und Jugendlichen leben von Sonntagabend bis Freitagnachmittag in der Wohngruppe, die Wochenenden verbringen sie meist in den Herkunftsfamilien oder mit anderen Bezugspersonen. Konzeptionelle Schwerpunkte sind Elternarbeit und Sozialraumorientierung. Wie in Kapitel 4 ausführlich dargestellt, grenzt sich das Team stark von einem familienanalogen Arbeiten ab und betont, dass sie nicht die Eltern sind und die Wohngruppe nicht das Zuhause der Kinder. Hieraus ergeben sich auch differente Einschätzungen bezüglich der pädagogischen Notwendigkeit, auf Nähebedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einzugehen. Darin wird deutlich, dass es die Fachkräfte nicht als ihre Aufgabe ansehen, emotionale Nähe zu geben (siehe Kap. 10).

Handlungsleitende Orientierung

In den vorangegangenen Kapiteln konnte gezeigt werden, dass die beiden Teams, die sich in ihrer Arbeit konzeptionell nicht an Familie orientieren, eine in einem Punkt grundlegend differente Haltung zu den familienanalog arbeitenden Wohngruppen haben. Während die familial arbeitenden Teams sich für alle Nähebedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zuständig fühlen, also sowohl für die körperliche Versorgung als auch für ein emotionales Bedürfnis nach körperlicher Nähe, fühlen sich die beiden nicht familienanalog arbeitenden Teams nicht, bzw. nicht im selben Maß für emotionale Nähe verantwortlich. In der Orientierung der Fachkräfte äußern die Kinder und Jugendlichen ihnen gegenüber kein Bedürfnis nach körperlicher Nähe außerhalb von Versorgung. Für die Fachkräfte ist diese Beziehung stimmig und wird als Schutz vor sexueller Gewalt und auch vor Verdächtigungen angeführt (vgl. Abschn. 8.3).

In der Orientierung des Teams 2 wird die mediale Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt in Institutionen prinzipiell begrüßt. Gleichwohl wird ein gesellschaftlicher Generalverdacht gegen die pädagogischen Fachkräfte persönlich und gegen katholische Einrichtungen zurückgewiesen (vgl. Kap. 7). Trotz der persönlichen Zurückweisung des Generalverdachtes kann rekonstruiert werden, dass das Team 2 keinen negativen Einfluss eines gesellschaftlichen Generalverdachts auf die Bewältigung des Themas sexuelle Gewalt in pädagogischen Organisationen vermutet. Stattdessen begrüßen sie den Diskurs, der auch vom Leiter der Einrichtung B mitgestaltet wird. Auch in der Bearbeitung des Themas sexuelle Gewalt innerhalb der eigenen Organisation wird die Leitung von Einrichtung B positiv wahrgenommen. Die Leitlinien und die Reaktionen auf Verdachtsfälle werden von Team 2 als angemessen beurteilt. Bei Unsicherheiten geben sie explizit an, die Leitung hinzuzuziehen, um sich abzusichern und Verantwortung abgeben zu können. Insgesamt erlebt Team 2 die Organisation und ihre Vorgaben als entlastend.

Problematisiert werden in der Orientierung des Teams die Schutzbefohlenen mit ihren biografischen Vorbelastungen. Ihnen wird zugeschrieben, dass sie „kriminelle energie“ (GD2, 597) haben und falsche Beschuldigungen nutzen, um ihre Ziele zu erreichen. Damit macht das Team die Kinder und Jugendlichen potenziell zu Täter*innen, auch wenn die von ihnen ausgehende Gefahr nicht groß, ja sogar lächerlich ist (vgl. Kap. 9). Das Team zeigt sich sehr sicher darin, dass es bei falschem Verdacht durch die Einrichtungsleitung Unterstützung erfahren würde.

Ein weiterer wichtiger Teil der Orientierung des Teams 2 ist ihr Referenzrahmen, der die Möglichkeit sexueller Gewalt durch die pädagogischen Fachkräfte nahezu ausschließt (vgl. Kap. 11). Die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt in dem Schutzraum der Wohngruppe passiert, ist für die Fachkräfte jenseits des Vorstellbaren. Der Widerspruch ist so groß, dass sie nach eigener Einschätzung das auffällige Verhalten der Kinder und Jugendlichen nicht auf sexuelle Gewalt durch eine*n Kolleg*in zurückführen würden. Im Reflexionsmoment der Gruppendiskussion sind die pädagogischen Fachkräfte zwar in der Lage, dieses implizite Wissen zu problematisieren; dennoch ist davon auszugehen, dass es handlungsleitend ist. Auch für dieses Team gilt in der Folge, dass in ihrer Orientierung das Handeln der Fachkräfte nicht kontrolliert werden muss und die Kinder in der Wohngruppe grundsätzlich geschützt sind. Handlungsleitend sind dann die durch die Organisation vermittelten Normen und Regeln sowie die Bestrebung, sich selbst vor falschen Anschuldigungen zu schützen.

Bewältigungsstrategien

Zunächst kann auf der handlungspraktischen Ebene aufgrund der konzeptionell nichtfamilienanalogen Ausrichtung der Gruppe festgestellt werden, dass einiges im Alltag der Wohngruppe wesentlich distanzierter strukturiert ist. Die Verweildauer in der Gruppe ist nicht auf Dauer ausgelegt. Die Kinder und Jugendlichen haben weiterhin mindestens einen anderen Standort, an dem sie am Wochenende wohnen. Die pädagogischen Fachkräfte werden von den Kindern gesiezt, was sie selbst als Kennzeichen größerer Distanz beurteilen.

Im Hinblick auf Bewältigungsstrategien von Team 2 gibt es eine längere, sehr dichte Fokussierungsmetapher, deren Rekonstruktion im Folgenden zusammenfassend dargestellt wird. Die Sequenz wird eröffnet mit dem abstrakten Statement, dass in der Arbeit vor Ort sexuelle Gewalt „hintergründig“ (GD2, 326) durch das „einhalten“ (GD2, 328) von „nähe und distanz“ (GD2, 328) sowie „selbstschutz“ (GD2, 330) immer Thema ist. In der gemeinsamen Proposition des Teams wird so der Selbstschutz zur Maxime in der Bearbeitung von Nähesituationen. Es folgt eine Reihe von Situationsbeschreibungen, in denen die Fachkräfte Nähebedürfnisse bearbeiten müssen:

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Frau Groß leitet die Erzählung dadurch ein, dass sie in Erinnerung ruft, dass es sich um eine 5-Tage-Gruppe handelt. Damit macht sie präsent, dass sie der Meinung ist nicht an allen Tagen der Woche und damit nicht in allen Belangen für die Kinder und Jugendlichen verantwortlich zu sein. Als weiteren Rahmen führt sie ein, dass es gelegentlich Kinder in der Einrichtung gibt, die in Bezug auf das „duschen noch nicht so richtig aufgeklärt sind“. Diese Kinder benötigen in ihren Augen also noch weitere Anleitung beim Duschen. In erster Instanz fühlen sich die Fachkräfte für diese Anleitungsaufgabe nicht verantwortlich. Obwohl hier in der Gruppe ein körperliches Bedürfnis nach Versorgung konstatiert wird, wird als Bewältigungsstrategie das Ablehnen von Verantwortung für körperliche Versorgung gewählt. Stattdessen bleiben in der Orientierung der Fachkräfte die Eltern für diesen Teil der Körperpflege zuständig. Nur dann, wenn diese ihre Erziehungsaufgabe nicht wahrnehmen bzw. nicht wahrnehmen können, wird die elterliche Aufgabe übernommen. Die intime Situation, die beim Duschen durch die Nähe zum nackten Körper entstehen würde, muss allerdings weiter abgewehrt werden. Die Kinder müssen eine Badehose tragen, damit die Situation weniger intim wird. Die Badehose, die an anderen Stellen genutzt wird, um Genitalien in der Öffentlichkeit zu verhüllen (z. B. am Strand oder im Schwimmbad), führt dazu, dass die Situation des Duschens einen öffentlichen Charakter bekommt – entprivatisiert wird. Damit kann die hier gewählte Bewältigungsstrategie auch als Herstellen von Öffentlichkeit bezeichnet werden. Der Intimbereich der Kinderkörper wird zum Risiko, dem sich die Fachkräfte nicht aussetzen. Die Abstriche, die hier gegenüber den kindlichen Bedürfnissen gemacht werden, sind weiterreichend als bei den familienanalog arbeitenden Teams. Hier ist die Grenzziehung erst bei der Berührung der Genitalien zum Eincremen (vgl. Textstellen über die Versorgung von Phimosen in Kap. 10). Während die familienanalogen Teams zum Teil die Verweigerung der Versorgung bedauern, zeigt sich für das Team 2 keine Problematisierung in ähnlicher Weise. Für die Fachkräfte ist die Bearbeitung stimmig. Herr Adam und Frau Groß ergänzen noch weitere Bewältigungsstrategien, die in dieser Situation angewendet werden:

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Hier werden weitere Praktiken berichtet, die ebenfalls zur Bewältigungsstrategie der Herstellung von Öffentlichkeit gerechnet werden können. Wie bei anderen Teams auch, geht es darum, Türen nicht zu verschließen, um potenziell sichtbar zu bleiben und sich nicht verdächtig zu machen. Weiter wird die Situation öffentlich, indem sie schriftlich festgehalten und den Kolleg*innen sowie der Leitung mitgeteilt wird. Ziel dieser Öffentlichkeit ist es, falschen oder missverständlichen Aussagen von Kindern vorzubeugen und die eigene Deutung der Situation wirkmächtig gegenüber den Kolleg*innen und der Einrichtung einzubringen. Mit der Öffnung der Situation sichern sich die Fachkräfte selbst ab. Die Strategie, zu dokumentieren und innerhalb des Teams zu kommunizieren, bestätigt sich auch in anderen Beispielen. Im Anschluss an eine Erzählung über die Dokumentation einer Situation, in der sich Kinder vorgestellt haben, „wie pädagogen sich einen runter holen“ (GD2, 361) wird noch einmal die Funktion der Dokumentation betont. Es soll durch die Fachkräfte festgehalten werden „was da wirklich abgelaufen (…) ist“ (GD2, 368 f.). Hintergrund ist hier u. a. eine Erfahrung, dass Fachkräfte in einer anderen Gruppe zehn Jahre nach einem Vorfall eine Stellungnahme schreiben mussten.

Deutlich wird, dass zum einen für Situationen der körperlichen Versorgung und zum anderen für Situationen, in die Kinder und Jugendliche Sexualität mit hineinbringen, von den Fachkräften eine Notwendigkeit zur Bearbeitung gesehen wird. Im Gegensatz zu den familienanalog arbeitenden Teams werden keine Situationen geschildert, in denen die Kinder emotionale Nähe suchen und mit denen in der Folge umgegangen werden muss (vgl. Kap. 8). Körperlichkeit aus der Arbeit herauszuhalten ist eine grundlegende Entscheidung der Fachkräfte und wird von ihnen in Bezug auf das Verhindern sexueller Gewalt als „ne positive grundbedingung“ (GD2, 464) gesehen.

12.6 Team 3 – die einzige Aufgabe ist Transparenz

Team 3 ist, wie Team 2, Teil von Einrichtung B. Auch dieses Team arbeitet nicht familienanalog, unterscheidet sich jedoch konzeptionell stark von Team 2. Die Wohngruppe 3 ist ein quasi-geschlossenes Setting, in dem noch nicht strafmündige Jungen für ca. zwei Jahre untergebracht werden. Die Beschulung findet innerhalb der Gruppe statt und der pädagogische Ansatz basiert auf einem strikt behavioristischen Stufensystem in Kombination mit erlebnispädagogischen Elementen (vgl. Kap. 4). Das Team hebt sich von den anderen Teams weiter dadurch ab, dass hier zwei Fachkräfte während der Gruppendiskussion berichten, dass sie selbst biografisch vom Thema sexuelle Gewalt in Institutionen betroffen sind. Zudem ist Herr Braun die einzige Fachkraft des gesamten Samples, die davon berichtet, selbst unter Verdacht gestanden zu haben.

Handlungsleitende Orientierung

Für Team 3 zeigt sich, wie für Team 5, nicht das Phänomen der Denkunmöglichkeit, d. h. sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen ist Teil ihres Referenzrahmens und prinzipiell vorstellbar: „unmöglich ist das ja in keinster weise“ (GD3, 616). Eine mögliche Erklärung ist, dass das Bewusstsein auch mit der biografischen Betroffenheit zusammenhängt, die für das Team ein Alleinstellungsmerkmal ist. Maßgeblich für die Formulierung der Orientierung sind dann auch die beiden Fachkräfte, die eben diese Erfahrungen gemacht haben. Die anderen Fachkräfte übernehmen die Orientierung bemerkenswerterweise ebenfalls. Teil der Orientierung ist aber auch, dass die Möglichkeit für sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen für das Team als „extreme belastungssituation“ beschrieben wird, von der sie annehmen, dass sie das Team überfordern würde (vgl. Kap. 11). Hier deckt sich die Orientierung mehrheitlich mit denen der anderen Teams. Die Herausforderung, die sich stellt, ist jedoch vor allem eine emotionale. Auf der handlungspraktischen Ebene zeigt sich das Team relativ handlungssicher. Sie sehen es in solch einem Szenario als ihre „einzige aufgabe“, für „transparenz“ zu sorgen und nicht zu verschweigen, was passiert ist. Herr Leut bezeichnet diese Maxime sogar als das „gesetz der transparenz und offenheit“. Im Kontrast zur Orientierung von Team 6 übernimmt Team 3 die proaktive Haltung der eigenen Einrichtung und empfindet diese als entlastend. Nichtsdestotrotz werden, ähnlich wie bei den anderen Teams, Abwehrreaktionen antizipiert, die jedoch durch die organisationalen Regelungen kontrolliert werden. Eine Fachkraft bezeichnet „sexuellen missbrauch“ sogar als „standard situation“, für die klar geregelt ist, wie hier innerhalb der Organisation verfahren würde. In der Orientierung zeigt sich, dass die Prävention von und der Umgang mit sexueller Gewalt durch pädagogische Fachkräfte Teil des Alltags der Organisation ist. Dass die Einrichtungsleitung am medialen Diskurs zu sexueller Gewalt in Institutionen aktiv teilnimmt, trägt dazu bei, dass das Thema präsent ist. Das Engagement des Einrichtungsleiters und die mediale Thematisierung insgesamt werden in der Orientierung von Team 3 positiv bewertet. Die gesellschaftliche Sensibilisierung ist in dieser Orientierung ein notwendiger Schritt im Umgang mit dem Thema und den Taten sexueller Gewalt (vgl. Kap. 7).

Auch das Team 3 diskutiert, welche Risiko- und Schutzfaktoren die konzeptionelle Ausrichtung der Wohngruppe mit sich bringt. Zunächst ist festzuhalten, dass die Fachkräfte des Teams 3 – genau wie des Teams 2 – durch die Kinder geäußerte Bedürfnisse nach körperlicher Nähe nicht erwähnen. Hier liegt es ebenfalls nahe, dass aufgrund der Strukturierung des Lebens in der Wohngruppe Bedürfnisse nach körperlicher Nähe nicht an die pädagogischen Fachkräfte herangetragen werden. Während Team 2 in der Abgrenzung zu familienanalog arbeitenden Teams vor allem Schutzfaktoren in der konzeptionellen Ausrichtung sieht, stellt sich dies bei Team 3 wesentlich ambivalenter dar. Grundsätzlich sehen sie die konzeptionelle Ausrichtung der Wohngruppe, die eben nicht so stark auf Beziehung ausgerichtet ist, als Schutz für die Kinder und Jugendlichen. Sie nehmen an, dass Täter*innen sich eher ein Umfeld aussuchen würden, wo die „persönliche beziehung viel mehr im mittelpunkt steht“ (GD3, 680 f.).

Dass es konzeptionell im Eins-zu-Eins-Kontakt mit den Jugendlichen sehr wenige Situationen der körperlichen Nähe gibt, sehen die Fachkräfte als Sicherheit für die Kinder und für sich selbst. Dies liegt in der starken Strukturierung des Tages begründet, der sehr viele Gruppenaktivitäten umfasst. Zudem sind die Fachkräfte nur sehr selten allein im Dienst und es gibt Videokameras, die ebenfalls eine Art von Transparenz herstellen. Aber auch dieses Team identifiziert Duschsituationen als problematisch, in denen sie Kindern und Jugendlichen assistieren oder über sie wachen, da hier keine Öffentlichkeit hergestellt werden kann. Daraus ergibt sich eine potenzielle Möglichkeit für sexuelle Gewalt. In der Orientierung der Fachkräfte leitet sich aus dieser Möglichkeit ab, dass die Fachkräfte eine Hinterfragung ihres Handelns zulassen müssen. Auffällig ist hier im Kontrast zu den anderen Teams, dass die Frage nach der Legitimität zwar als „unangenehm“ empfunden wird, die Möglichkeit der Kontrolle allerdings nicht erkennbar zu einer Anpassung pädagogischen Handelns führt. Die fachliche Kompetenz wird nicht infrage gestellt.

Als konzeptionelles Risiko sehen die pädagogischen Fachkräfte die starke Machtasymmetrie, die in dem behavioralen Stufensystem angelegt ist und die Kinder und Jugendliche eher in eine abhängige Position bringt. Weiter sind für die Fachkräfte Situationen der körperlichen Begrenzung risikovoll, da diese Situationen in ihrer Erfahrung für Beschuldigungen genutzt werden können.

Ebenfalls Teil der Orientierung ist, dass es nicht mögliche Falschbeschuldigungen selbst sind, vor denen die Fachkräfte Angst haben. Entscheidend ist hier der Umgang der Organisation damit. Unter Bezugnahme auf frühere Arbeitgeber als negativen Gegenhorizont wird Einrichtung B als sicherer Rahmen beschrieben, in dem ein Verdacht für die Fachkräfte zwar unangenehm wäre, sie sich jedoch einer fairen Behandlung durch die Organisation sicher sind. Diese Sicherheit in Bezug auf die Organisation wird auch nicht durch Berichte über ehemalige Kolleg*innen erschüttert, denen sexuelle Gewalt vorgeworfen wurde und die entlassen bzw. suspendiert wurden. Hier sehen die Fachkräfte die Verantwortung bei den Individuen. Das Handeln der Organisation wird nicht kritisiert.

Resümierend kann festgehalten werden, dass die Handlungssicherheit, die die pädagogischen Fachkräfte durch ihr Vertrauen in Einrichtung B bekommen, für ihr Handeln maßgeblich ist.

Bewältigungsstrategien

Wie bereits bei der Beschreibung der Orientierung angeklungen, ist das Herstellen von Öffentlichkeit im Handeln die bestimmende Bewältigungsstrategie des Teams 3. Wieder sind es Situationen der Intimpflege, die als problematisch beschrieben werden, weil die notwendige körperliche Versorgung die Grenzen der körperlichen Nähe überfordert, die in der Beziehung zwischen Pädagog*in und Bewohner*in als angemessen eingeschätzt werden.

Im Herstellen von Transparenz geht Team 3 noch einen Schritt weiter als die anderen. Die anderen Teams stellen bei der Duschassistenz Öffentlichkeit her, indem sie die Tür des Badezimmers öffnen. Dies scheint eine Geste zu sein, mit der die Intimität aufgehoben werden soll. Ob ein anderer die geöffnete Tür wahrnimmt oder nicht, wird nicht überprüft. Anders bei Team 3; hier haben die Fachkräfte als Bewältigungsstrategie eine reale Person, eine andere Fachkraft oder auch einen anderen Bewohner zu der Situation hinzuzuziehen, um Öffentlichkeit herzustellen. Die reale Anwesenheit eines Dritten wird zum Schutz der pädagogischen Fachkraft eingesetzt. Als Beispiel führen sie mehrere Situationen an. Zunächst eine, in der aus der Gruppe weggelaufene Kinder und Jugendliche wieder in die Gruppe kommen. Aufgabe der Fachkräfte ist es dann, ihre Kleidung beim oder nach dem Duschen zu durchsuchen.

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Herr Leut berichtet, dass er darauf achtet, die Durchsuchungen nach dem Duschen nie allein durchzuführen. Er zieht einen „jungen“ hinzu, der ihn beobachtet oder auch einen „kollegen“. Was der „grüne bereich“ ist, indem ein Dritter positioniert wird, wird im Material nicht deutlich.

In der weiteren Sequenz zeigt sich, dass es beim Herstellen der Öffentlichkeit darum geht, einen Schutz für die Fachkraft aufzubauen, um möglichen Bezichtigungen grenzüberschreitender Handlungen vorzubeugen. Als weitere Bewältigungsstrategie der Situation werden an anderer Stelle noch ergänzt: „raus auf den flur trete[n]“ und so auf der Kamera im Flur sichtbar sein (GD3, 801–815).

Herr Leut begründet das Hinzuziehen von Zeug*innen mit der Erfahrung, dass Kinder und Eltern nach Situationen, in denen sich Fachkräfte und Kinder körperlich nahe waren, Fachkräfte eines übergriffigen Verhaltens beschuldigten:

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Eine weitere Situation, die ebenfalls als „ganz ganz unangenehm“ (GD3, 1870), ja sogar „furchtbar“ (GD3, 1867) wahrgenommen wurde, beschreiben Herr Braun und Herr Leut gemeinsam:

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Ausgangspunkt sind Situationen mit einem Jungen, der sich auch auf den „erlebnispädagogischen fahrten“ der Wohngruppe mutwillig eingekotet hat. Hier wird ebenfalls, wie bei der Durchsuchung festgestellt, dass es zu den Aufgaben der Fachkräfte gehört, den Jungen „ordentlich sauber zu kriegen“. Besonders problematisch war dies bei den erlebnispädagogischen Fahrten, bei denen die Säuberung in der Öffentlichkeit stattfinden musste. Als Bewältigungsstrategie wird hier abermals der Einsatz eines Zeugen gewählt: „jemanden, den ich auch dahin gestellt hab“. Gleichzeitig wird die Situation jedoch auch gerade deshalb „furchtbar“, weil sie öffentlich ist und Spaziergänger*innen die Säuberung im Fluss beobachten können. Obwohl Herr Leut klar formuliert, dass es seine Aufgabe ist, für die Säuberung zu sorgen, fragt er sich rhetorisch „was mach ich hier“. Eine Lesart ist, dass er die Situation mit den Augen der Spaziergänger*innen betrachtet und vermutet, dass diese ungewöhnlich und evtl. auch grenzüberschreitend wahrgenommen werden kann. Er als erwachsener Mann steht im Fluss und wäscht einen Jungen. Eine Situation, die im Heimalltag durchaus vorkommt, für den Alltag der Spaziergänger*innen jedoch ungewöhnlich erscheinen könnte. Hier stößt die Bewältigungsstrategie an ihre Grenzen. Die Ambivalenz zwischen dem Herstellen von Öffentlichkeit und gleichzeitig dem Heraushalten von Nacktheit aus der Öffentlichkeit zeigt sich auch in der Bewältigung einer weiteren Situation. Herr Braun wurde von einem Jungen angesprochen, dass er eine Zecke an der Eichel habe.

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Herr Braun fühlt sich in dieser Situation für die körperliche Versorgung zuständig. Dennoch ist für ihn die Inaugenscheinnahme des Penis eine Herausforderung, gerade weil die Gruppe unterwegs ist. Sich alleine mit dem Jungen in den Wald zurückzuziehen, wäre eine Strategie, die ihm in den Sinn kommt, die aber nicht gewählt wird: „okay ich geht jetzt nicht mit dir irgendwie, in = n wald“. Der Gedanke daran ist lächerlich. Eine zweite Möglichkeit, sich den Penis vor 35 Personen zeigen zu lassen, wird aber auch verworfen: „kann ja jetzt auch nicht machen“. Gewählt wird daher ein Zwischenraum, in dem die Personen öffentlich bleiben, der Akt des Penisvorzeigens jedoch vor Blicken etwas geschützt wird. Die Lösung, hier „an den rand“ zu gehen, bewegt sich innerhalb der Grenzen und ist „noch unproblematisch“. Es ist zu vermuten, dass die Situation auch unproblematisch bleibt, weil der Penis nicht berührt werden muss, da die vermeintliche Zecke „gott sei dank nur dreck“ (GD3, 1912) war. Dass das Berühren des Penis zur Versorgung dagegen wohl eine Grenzüberschreitung gewesen wäre, zeigt die Erzählung über eine Vorhautverengung bei einem neunjährigen Kind:

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Diese Situation erinnert stark an eine analoge Situation, welche von Team 6 beschrieben wurde. Wie Team 6 schließt Team 3 aus, dass eine der Fachkräfte das Eincremen des Penis übernehmen kann. Die Berührung des Penis ist eine Grenzüberschreitung, die die Fachkräfte auch auf die medizinische Anweisung des Arztes hin nicht befolgen. Die Übernahme dieser Aufgabe der körperlichen Versorgung wird abgelehnt und es wird kein Ersatz gesucht. Stattdessen wird in Kauf genommen, dass der Junge weniger gut versorgt werden könnte. Während Team 6 vor allem die Perspektive des Jungen einnimmt und bedauert, dass sie ihn nicht gut versorgen könne, steht in der hier dargelegten Orientierung vor allem die Perspektive der Fachkraft im Vordergrund, die gegenüber dem Mediziner die Limitierungen ihrer eigenen Arbeit offenlegen muss und deren Grenzen vom Urologen nicht anerkannt werden – „ja müssen = s aber“. Als Bewältigungsstrategie wird hier die Verweigerung von Körpernähe gewählt. In der Orientierung der Fachkräfte wird hier keine Wahl deutlich, sondern die Verweigerung erscheint notwendig.

12.7 Sinngenetische Typenbildung

Mit den Falldarstellungen ist das jeweils Spezifische der einzelnen Teams, ihrer Orientierungen und Bewältigungsstrategien in den Blick genommen worden. Darauf aufbauend werden abschließend Strukturen und Muster identifiziert, die den herausgearbeiteten Orientierungen der beforschten Teams zugrunde liegen. Ziel ist es, eine sinngenetische Typenbildung vorzunehmen. Grundlegend dafür ist das den Vergleich strukturierende Dritte – das Tertium Comparationis. In den Begrifflichkeiten der dokumentarischen Methode formuliert, soll ein Orientierungsproblem identifiziert werden, „welches allen Fällen auf abstrakter Ebene gemeinsam ist und […] den Vergleich zu strukturieren vermag.“ (Wäckerle: 70).

Auf der sinngenetischen Ebene löst sich die fallübergreifende komparative Analyse von der fallspezifischen Besonderheit eines rekonstruierten Orientierungsrahmens und rekonstruiert ein gemeinsames Orientierungsproblem, das in den einzelnen Typen oder Typiken unterschiedlich bewältigt wird und vor dessen Hintergrund Kontraste in den typisierten Orientierungen deutlich werden.

(Wäckerle: 70 f)

Um Systematiken und Muster im Vergleich besser erkennen zu können, ist für die Falldarstellungen eine Tabelle angelegt worden, in der die handlungsleitenden Orientierungen sowie die Bewältigungsstrategien der Teams zusammengefasst werden. Durch die Reduktion der Komplexität des einzelnen Falles treten in der Darstellung Muster deutlicher hervor (Abbildung 12.1).

Übersicht Falldarstellungen

Abbildung 12.1
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Übersicht Falldarstellungen

Als grundlegendes Orientierungsproblem konnte in dieser Arbeit die Herausforderung identifiziert werden, Situationen körperlicher Nähe zwischen den pädagogischen Fachkräften und Kindern bzw. Jugendlichen zu bewältigen. Situationen der Nähe werden über alle Teams hinweg vor dem Hintergrund des Themas sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen problematisiert. Über alle Orientierungen hinweg verweisen Situationen der Nähe auf das Thema sexuelle Gewalt. Über alle Teams hinweg wird Verhalten von Kindern und Jugendlichen immer wieder als sexuell aufgeladen beschrieben.

Die Fachkräfte klassifizieren Verhalten von Kindern und Jugendlichen, mit dem diese Nähe einfordern, immer wieder als unangemessen für ihr Alter und die Umstände. Die Gründe werden in den biografischen Erfahrungen der Kinder gesehen, die häufig Erleben von Gewalt beinhalten. Gemeinsam für alle Teams ist weiter, dass zumindest ein Teil ihrer handlungsleitenden Orientierung der Selbstschutz vor einem falschen Verdacht auszumachen ist. Die Gewichtung im Verhältnis zu anderen handlungsleitenden Motiven ist hierbei unterschiedlich. Der Selbstschutz spielt aber für alle eine Rolle.

Im Folgenden soll nun versucht werden, von den konkreten Fällen zu abstrahieren und Typen zu beschreiben, die sich anhand des Samples identifizieren lassen.

Die Rekonstruktion der Nähesituationen als Anlässe in Kapitel 10 und die Fallbeschreibungen in diesem Kapitel konnten zeigen, dass für eine Unterscheidung der Teams vor allem ausschlaggebend ist, ob und in welchem Umfang die pädagogischen Fachkräfte sich für die Bedürfnisse nach Nähe verantwortlich fühlen. Bereits das Kapitel 10 hatte hier den Unterschied zwischen den familienanalog und den nicht familienanalog arbeitenden Teams herausgestellt. Die Gegenüberstellung in der Tabelle verdeutlicht noch einmal die Diskrepanz. Als grundlegende Orientierungsdifferenz wurde daher die Zuständigkeitserklärung für körperliche Nähe aufgrund emotionaler Bedürfnisse identifiziert. Wenn die Teams ihr pädagogisches Handeln konzeptionell an der Übernahme elterlicher Aufgaben ausrichten, dann schließt dies mit ein, dass sie prinzipiell für das Befriedigen der emotionalen Bedürfnisse nach körperlicher Nähe verantwortlich sind. Die beiden nicht familienanalog arbeitenden Gruppen des Samples sehen diese Verantwortung nicht. Vielmehr noch, sie berichten, dass an sie keine emotionalen Bedürfnisse nach körperlicher Nähe herangetragen werden und führen dies auf ihre differente konzeptionelle Ausrichtung zurück. Auch der pädagogische Anspruch an den Umgang mit Nähesituationen ist in der Folge different.

Im Folgenden soll nun entlang von fünf Vergleichsdimensionen (VD) eine Beschreibung der beiden Typen I – näheorientiert und II – distanziert erfolgen. Die Vergleichsdimensionen sind dabei 1) Nähe, 2) Organisation, 3) Mediale Sensibilisierung, 4) Denkunmöglichkeit, 5) Bewältigungsstrategien. Bereits jetzt können die Teams 1, 4, 5 und 6 dem Typus I, Teams 2 und 3 dem Typus II zugeordnet werden.

Vergleichsdimension Nähe

In dieser Vergleichsdimension gibt es eine klare Differenz zwischen den beiden Typen. Die näheorientierten Teams sehen emotionale Bedürfnisse nach körperlicher Nähe, während die distanzierten Teams dieses Bedürfnis nicht sehen bzw. erklären, dass die Kinder und Jugendlichen ihnen gegenüber diese Bedürfnisse nicht äußern würden.

Bei beiden Typen wird Nähe, die durch das Verhalten der Kinder und Jugendlichen sexuell gefärbt ist, problematisiert. Die Ursache für das auffällige Verhalten wird auf die Herkunftsfamilie und die Sozialisation vor der Unterbringung zurückgeführt. Der näheorientierte Typus zeigt sich für das pädagogisch herausfordernde Verhalten verständnisvoll. Er sieht es als seine Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen ein Verhalten beizubringen, in dem sie die eigenen und die Grenzen anderer wahren können. Dabei wird eine Vorstellung von Normalität zugrunde gelegt, die sich am subjektiven Maßstab der Fachkräfte orientiert und die nicht weiter expliziert wird. Wesentlicher Bestandteil der Orientierung des näheorientierten Typus ist der pädagogisch konzeptionelle Bezug zu Familialität. Es wird als die Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte angesehen, emotionale Bedürfnisse der körperlichen Nähe zu beantworten und so elterliche Aufgaben zu übernehmen. Kennzeichnend für den Typus I ist auch, dass die Fachkräfte sich ihrer Unzulänglichkeit bewusst sind, die Beantwortung der emotionalen Bedürfnisse in ihrer Gänze zu erfüllen, weil es in ihrer Orientierung Grenzen von körperlicher Nähe gibt, die in der Institutionalisierung der Beziehung begründet liegen. Besonders deutlich wird dies beim Kuss auf den Mund, den „nur die mutter“ (GD1, 965) geben darf. Neben diffusen Vorstellungen von Normalität sind auch persönliche Grenzen dessen, was jede individuelle Fachkraft an Nähe geben möchte, sowie der bereits erwähnte Selbstschutz handlungsleitend. Der näheorientierte Typus sieht zwischen dem, was er an Nähe geben kann bzw. will und dem, was die Kinder einfordern und teilweise auch brauchen eine Lücke. Diese Lücke wird vor dem Hintergrund, dass das Thema sexuelle Gewalt seit 2010 in der Öffentlichkeit und den Medien stärker thematisiert wird, eher größer. Auch die Tatsache, dass das gesellschaftliche Interesse in den pädagogischen Institutionen zu einer stärkeren professionellen Orientierung am Selbstschutz geführt hat, vergrößert die Diskrepanz zwischen Bedürfnissen und Möglichkeiten. In der Orientierung dieses Typus ist die pädagogisch gute, wenn auch immer noch unzureichende Beantwortung von Nähesituationen durch einen starken Diskurs um sexuelle Gewalt in Institutionen gefährdet, der zu einem Generalverdacht gegenüber den Fachkräften führt.

Vom distanzierten Typus wird sexualisiertes Verhalten der Kinder und Jugendlichen als abweichend markiert. Die Kinder und Jugendlichen haben in der Orientierung dieses Typus kriminelle Energien, die sie intentional, bspw. als Falschbeschuldigungen, gegen die Fachkräfte einsetzen. Die Bewältigung von Nähesituationen durch diesen Typus erfolgt hauptsächlich in Situationen, in denen es um körperliche Versorgung und Sanktionierung geht. Handlungsleitend sind dann organisationale Vorgaben und der Selbstschutz der pädagogischen Fachkräfte. Körperliche Nähe zwischen den Kindern und den Fachkräften ist tendenziell ein notwendiges Übel, das möglichst kontrolliert abgewickelt werden muss.

Falschbeschuldigungen sind auch für den näheorientierten Typus hochproblematisch. In der Orientierung der Fachkräfte wird jedoch vornehmlich die organisationale Reaktion auf Verdächtigungen problematisiert.

Vergleichsdimension Organisation

Im Kapitel 8 wurden pädagogische Institutionen sowie organisationale und konzeptionelle Rahmenbedingungen als Anlässe für sexuelle Gewalt detailliert beschrieben. Die soeben diskutierte Vergleichsdimension der Nähe steht in engem Zusammenhang mit der konzeptionellen Ausrichtung der Einrichtungen. Die Vergleichsdimension der Organisation hingegen nimmt das Verhältnis der pädagogischen Fachkräfte zur eigenen Einrichtung in den Blick. Neben den Erkenntnissen über organisationale Rahmenbedingungen spielen hier auch die Ergebnisse aus Kapitel 9 eine Rolle, in dem es um Verdächtigungen durch die eigene Organisation geht. Im Vergleich der Fälle konnte rekonstruiert werden, dass es für die handlungsleitende Orientierung der Teams überaus relevant ist, ob sie Vertrauen und Rückhalt in die eigene Einrichtung haben, wenn es um das Thema sexuelle Gewalt geht.

Mit Blick auf die Typenbildung ist für dieses Sample festzustellen, dass der distanzierte Typus ein umfassendes Vertrauen in die eigene Organisation hat und der organisationale Umgang mit sexueller Gewalt ihnen Handlungssicherheit gibt. Potenziell kritische Nähesituationen werden mit Vorgesetzten besprochen. Fortbildungen zum Thema werden dankbar angenommen. Berücksichtigt werden muss hier, dass beide Teams, die diesem Typus zugeordnet werden, aus der Einrichtung B stammen. An dieser Stelle ist das Sample zu klein, um generalisierende Aussagen treffen zu können. Die hier vorliegenden Ergebnisse suggerieren, dass distanzierte Teams ein besseres Verhältnis zu ihren Einrichtungen haben. Eine andere Erklärung wäre, dass die konzeptionelle Ausrichtung der Teams 2 und 3 gut mit standardisierten Handlungsrichtlinien zu sexueller Gewalt korrespondiert. Den Fachkräften geben die organisationalen Regeln Sicherheit für die Bewältigung von Nähesituationen.

Ganz anders ist dies für die näheorientierten Teams, die sich konzeptionell an Familialität orientierten. Für sie sind die individuellen Bedürfnisse zentral, die nicht standardisiert werden können. Vom Typus I geht dann auch eher eine Kritik an standardisierten Regeln aus. Organisationale Regeln schränken sie in ihrer Handlungsautonomie ein. Für alle vier Teams, die diesem Typus zugeordnet sind, lässt sich Misstrauen in unterschiedlichen Abstufungen gegen die Organisation feststellen. Keine der Fachkräfte bezeichnet die Einrichtung als hilfreich, einige sehen in ihr sogar eine Bedrohung. Die Gefahr, die von einem Verdacht ausgeht, ist für alle individuell, es geschieht keine Verantwortungsübernahme durch die Organisation. In der Folge werden die Handlungsmöglichkeiten der näheorientierten Teams durch das fehlende Vertrauen in die Organisation eingeschränkt. Eine Ausnahme bilden hier zwei Fachkräfte des Teams 1, die sowohl Einschränkungen als auch ein Vertrauen in die Einrichtungsleitung beschreiben.

In der Folge wird auch das handlungsleitende Motiv des Selbstschutzes weniger relevant.

Vergleichsdimension mediale Sensibilisierung

In Bezug auf die mediale Sensibilisierung konnte in Kapitel 7 herausgearbeitet werden, dass die Teams sich dahingehend unterscheiden, ob die mediale Thematisierung als angemessen oder unangemessen wahrgenommen wird. In den Fallbeschreibungen spielt diese Vergleichsdimension eine eher untergeordnete Rolle. Gleichwohl ist die mediale Thematisierung ausschlaggebend für einen gesellschaftlichen Generalverdacht, welcher sehr wohl die Orientierungen der Fachkräfte mitprägt. Diejenigen Fachkräfte, welche die mediale Berichterstattung dahingehend kritisieren, beziehen diesen Generalverdacht auch in ihre handlungsleitende Orientierung mit ein. Die Differenzlinie ist hier jedoch nicht dominant der Bezug zu pädagogischer Nähe. Der Generalverdacht richtet sich vielmehr gegen Fachkräfte im Allgemeinen und männliche Fachkräfte im Besonderen. Für Team 2 zeigt sich, dass der Generalverdacht zwar wahrgenommen wird, er jedoch keine handlungsleitende Komponente der Orientierung bildet. Hier kann angenommen werden, dass das Vertrauen in die Einrichtung dies verhindert. Für Teams 4 und 6 ist dagegen zu beobachten, dass in der Orientierung der gesellschaftliche Generalverdacht die Haltung der Organisation bezüglich sexueller Gewalt negativ beeinflusst und so ihr Misstrauen in die Organisation verstärkt.

Auf die Typen bezogen kann hier festgehalten werden, dass ein durch die mediale Sensibilisierung hervorgerufener Generalverdacht vor allem für die näheorientierten Teams problematisch ist, wenn sie keinen Rückhalt in der Organisation haben. Da sie in ihrer Arbeit konzeptionell stärker auf Beziehungen und Nähe setzen, wird diese durch den Generalverdacht potenziell stärker erschwert.

Vergleichsdimension Denkunmöglichkeit

In Bezug auf die Denkunmöglichkeit ist in Kapitel 11 herausgearbeitet worden, dass die Vorstellung, es könne in ihrem Team zu sexueller Gewalt durch Kolleg*innen kommen, allen Teams zumindest schwerfällt, wenn nicht sogar undenkbar erscheint. Die Gegenüberstellung der Fälle gibt Hinweise darauf, dass eine Denkmöglichkeit für Teams leichter ist, die sich weder durch die Organisation noch durch die mediale Thematisierung in ihrem Handeln eingeschränkt fühlen. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die Konsequenzen eines solchen Verdachts weniger umfassend wären. Je sicherer die Fachkräfte sich fühlen, je weniger sie fürchten, bei Fehlern bloßgestellt zu werden, desto leichter fällt es ihnen, die Möglichkeit sexueller Gewalt in ihren Referenzrahmen zu integrieren.

Vergleichsdimension Bewältigungsstrategien

Vergleicht man die Bewältigungsstrategien der beiden Typen, so fällt zunächst auf, dass sie sich in den grundlegenden Kategorien ähneln. Als dominante Strategien über beide Typen hinweg lassen sich die „Herstellung von Öffentlichkeit“, das „Begrenzen von Nähe“ sowie das „Geben von Nähe trotz Risiko“ identifizieren. Auch die „Selbstreflexion“ sowie die „Reflexion im Team“ können für beide Typen rekonstruiert werden. Differenzlinien in den Bewältigungsstrategien werden erst deutlich, wenn man die Strategien differenzierter in den Blick nimmt und sich die Nähesituationen anschaut, in denen sie angewendet werden bzw. in welcher Intensität diese angewendet werden.

Das Herstellen von Öffentlichkeit hat zum Ziel, den abgeschlossenen, für die Kinder und einen Teil der Fachkräfte auch privaten Raum für nicht näher definierte Dritte transparent zu machen. Für den näheorientierten Typ zeigt sich hier, dass vor allem die symbolische Geste der offenen Tür eingesetzt wird, um zu intim scheinende Situationen aufzubrechen. Die Türen des Bades, der Kinderzimmer oder des Büros bleiben geöffnet, damit andere hineinsehen können. Dabei ist unwichtig, ob es andere gibt, die dies tun. Die dominanten Bewältigungsstrategien, die im distanzierten Typ angewendet werden, zielen auf eine tatsächliche Kontrolle und Absicherung der pädagogischen Fachkräfte ab. Zeugen, Dokumentationen und Berichte schaffen Material, das bei späteren Nachfragen beweisen kann, dass es nicht zu einem Übergriff gekommen ist.

Eine weitere Bewältigungsstrategie ist das Abwägen zwischen dem, was trotz des Risikos an Nähe gegeben wird und den Stellen, an welchen Nähe begrenzt wird. Für beide Typen gilt, dass sie sowohl von Begrenzungen als auch von Nähezugeständnissen mit eigenem Risiko berichten. Die Intensität, mit der Nähe gegeben wird, ist jedoch stark unterschiedlich. Dies liegt in dem bereits ausgeführten differenten Verständnis von Nähe begründet. Während die Näheorientierten mit den Kindern kuscheln, diese trösten, mit ihnen im Bad stehen und sich teilweise sogar küssen lassen, wird emotional naher Körperkontakt von den Distanzierten abgelehnt. Ein im Konzept vorgesehenes Fixieren hingegen ist durchaus möglich. Dieses ist jedoch gänzlich anders gelagert und die Differenz bleibt deutlich, auch wenn es hier zu einem hohen Grad an Nähe kommt.