Dieses erste empirische Kapitel beginnt mit der Darstellung des theoretical Sampling (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 181 ff.), also der theoriegeleiteten Zusammenstellung der Teams, mit denen Gruppendiskussionen durchgeführt wurden. Anschließend werden diese Teams vorgestellt.

4.1 Theoretical Sampling und erste Ergebnisse der Komparation

Am Anfang der Erhebung stand die Frage, welche Teams für eine Gruppendiskussion ausgewählt werden sollten. Um eine Vergleichbarkeit der Gruppen zu ermöglichen, wurden hierzu theoriegeleitet Kriterien für die Teams bzw. die Wohngruppen festgelegt. Als erstes wurde das Feld auf vollstationäre Wohngruppen eingegrenzt, in denen Kinder und Jugendliche nach §34 SGB VIII untergebracht sind. Damit wurden Kleinsteinrichtungen und professionelle Großpflegefamilien ausgeschlossen. Weiter wurde Wert daraufgelegt, dass in den Wohngruppen der beforschten Teams Kinder zwischen 8 und 12 Jahren als Teil der Bewohner*innen untergebracht waren. Als drittes Kriterium wurde eine koedukative Konzeption der Wohngruppe festgelegt. Dies begründet sich in der absehbar kleinen Fallzahl der Untersuchung. Es ist zu vermuten, dass monoedukative Wohngruppen hinsichtlich sexueller Gewalt andere Herausforderungen mit sich bringen, weil die Frage des Geschlechts bereits in der Konzeption stark zum Thema gemacht wird.

Zwei weitere Kriterien ergaben sich aus dem damals schon bekannten Forschungsstand. Die erste war die geschlechtliche Mischung der Teams. Im öffentlichen Diskurs zeichnete sich früh ab, dass männliche Fachkräfte im besonderen Fokus stehen. Es wurde angenommen, dass es vor diesem Hintergrund wichtig wäre, ihre Perspektive mit einfließen zu lassen. Um die Rolle von männlichen Fachkräften aussagekräftig zu erfassen, wurde zudem angenommen, dass die Perspektive von weiblichen Fachkräften als Vergleichshorizont sinnvoll wäre. Dieses Kriterium zielte, wie im Vorfeld beschrieben, auf eine Homogenisierung des Samples, das einen Fallvergleich vereinfachen soll.

Weiter deutete sich in den zum Zeitpunkt der Erhebung zur Verfügung stehenden Forschungsergebnissen an, dass die konzeptionelle Ausrichtung von Institutionen als mehr oder weniger risikovoll in den Blick genommen werden müssen. Dies führte dazu, dass zunächst drei konzeptionell sehr differente Teams ausgewählt wurden (1, 2, 3). Es handelte sich um eine Schichtdienst-Regelgruppe, deren Träger konfessionell evangelisch ausgerichtet ist (1), sowie um zwei Teams eines katholischen Trägers mit einer konzeptionell sozialraumorientierten Gruppe im Fünf-Tage-Betrieb (2) und einer verhaltenstherapeutisch und erlebnispädagogisch arbeitenden, zu einem sehr hohen Grad geschlossenen Gruppe (3). Die Wohngruppen 2 und 3 erfüllten dabei nicht alle vorher formulierten Kriterien. So stellte sich für die Gruppe 2 erst vor Ort heraus, dass die Kinder und Jugendlichen nur unter der Woche in der Gruppe wohnen und die Gruppe 3 richtet sich konzeptionell ausschließlich an Jungen zwischen 9 und 14 Jahren. Die Abweichung von den Kriterien wurde in der ersten Phase der Auswertung mitberücksichtigt. Die Gruppendiskussionen wurden dennoch genutzt, da sie aufgrund ihrer drei sehr stark unterschiedlichen Konzeptionen ideal waren für eine erste Komparation.

Das den Fallvergleich strukturierende Dritte – das Tertium Comparationis – war also zu Beginn der Erhebung die konzeptionelle Ausrichtung der Wohngruppen. In der ersten Rekonstruktion stellte sich heraus, dass die Frage, wie sich die Wohngruppen zur Familienanalogie positionieren, im fallimmanenten und thematischen Vergleich besonders relevant wurde. Zudem deuteten sich, je nachdem wie die Wohngruppen sich zu Familialität positionieren, Differenzen in den Orientierungsrahmen an (Nohl 2013: 274 f.). In der Folge wurden weitere Wohngruppen gesucht, die in unterschiedlichen Abstufungen familienanalog arbeiten. Dabei wurden zwei Teams mit innewohnenden Fachkräften ausgewählt, die nach §34 SGB VIII arbeiten (4, 5) und eine weitere Schichtdienstgruppe (6).

Im Folgenden sollen nun die sechs Teams eingeführt werden. In der Vorstellung der unterschiedlichen Teams liegt ein besonderes Augenmerk auf der Darstellung der konzeptionellen Differenz zwischen familienanalog und nicht familienanalog arbeitenden Teams. Dieser Kontrast ist der erste rekonstruktive Schritt, den diese Arbeit beschreibt.

4.2 Vorstellung der Teams

Für die Falldarstellungen werden die Teams jeweils in Bezug zu der Wohngruppe vorgestellt, für die sie verantwortlich sind. Relevante Informationen zu den Trägern werden ebenfalls gegeben.

Die Informationen für die Falldarstellungen stammen aus den die Gruppendiskussion rahmenden Gesprächen, den Sozialdatenbögen der Befragten und den Darstellungen in der Gruppendiskussion. Während die Eckdaten zu den Teams und den Wohngruppen zunächst deskriptiv sind, sind die dargestellten Rekonstruktionen in Bezug auf die Positionierung zur Familialität der Gruppe bereits eine weitreichendere Rekonstuktionsleistung. Für alle Teams dieser Studie ist festzuhalten, dass sie nicht tatsächlich den Anspruch haben, die Herkunftsfamilie zu ersetzen. Es wird in allen Gruppendiskussionen betont, dass die Herkunftsfamilie für die Kinder ein wichtiger Bezugspunkt ist und bleiben soll. Dennoch unterscheiden die Gruppen sich deutlich in ihrem konzeptionellen Verständnis, ob sie als pädagogische Fachkräfte Aufgaben, die sonst Eltern erledigen würden, übernehmen sollen oder nicht. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, wird in familienanalog und nicht familienanalog arbeitende Teams unterschieden.Footnote 1

Die Reihenfolge der Darstellung der Wohngruppen orientiert sich an der Positionierung der Wohngruppen zur Familienanalogie. Es wird mit der am wenigsten auf Familialität bezogenen Wohngruppe begonnen.

4.2.1 Nicht familienanalog arbeitende Teams

Beide nicht familienanalog arbeitende Teams sind bei einem katholischen Träger angestellt, welcher seinen Hauptsitz in einer Kleinstadt hat. Es handelt sich um einen vergleichsweise großen Träger, der sowohl stationäre, teilstationäre und ambulante Hilfen als auch eine Förderschule betreibt. Der Kontakt zum Träger kam über ein zufälliges Treffen der Forscherin mit dem Einrichtungsleiter auf einem Tagungsworkshop zustande. Auf der Tagung zu sexueller Gewalt in Institutionen stellte der Einrichtungsleiter seine Arbeit als Best-Practice-Beispiel in Bezug auf Aufarbeitung und Prävention sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene vor.

Team 3

Das Team 3Footnote 2 besteht zum Erhebungszeitpunkt aus fünf Personen. Vier von ihnen geben männlich als Geschlecht an, eine weiblich. Der älteste Mitarbeiter ist 43, der jüngste 24 Jahre alt. Alle vier festangestellten pädagogischen Fachkräfte haben Sozialpädagogik studiert. Der jüngste Mitarbeiter ist Erzieher im Anerkennungsjahr. Die drei ältesten pädagogischen Fachkräfte arbeiten bereits seit über sieben Jahren miteinander in derselben Wohngruppe. Alle pädagogischen Fachkräfte geben an, durch den Träger zum Thema sexuelle Gewalt in Institutionen fortgebildet worden zu sein. Bezüglich des Umgangs unterscheiden sich die Angaben etwas. Vornehmlich wird jedoch auf Wissensvermittlung verwiesen. Eine Besonderheit bei diesem Team ist, dass sowohl der Gruppenleiter, Frederik Leut, als auch die pädagogische Fachkraft, Tim Braun, sich als vom Thema sexuelle Gewalt in Institutionen persönlich betroffen beschreiben (vgl. 6.2.). Frederik Leuts Mutter hat als Kind/Jugendliche sexuelle Gewalt in einem Kinderheim erfahren und dies vor einigen Jahren öffentlich thematisiert. Tim Braun war Schüler am Canisius-Kolleg und hat die mediale Debatte um das Internat wahrgenommen. Tim Braun ist auch die einzige pädagogische Fachkraft, welche in den Gruppendiskussionen explizit seine eigene sexuelle Orientierung thematisiert. Wie später noch gezeigt wird, bringt er seine Homosexualität mit gegen ihn geäußerten Verdächtigungen, sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene ausgeübt zu haben, in Zusammenhang. Abbildung 4.1 zeigt eine Zusammenfassung der Sozialdaten, die im Anschluss an die Gruppendiskussion abgefragt wurden.

Abbildung 4.1
figure 1

Übersicht Team 3

Das Team 3 arbeitet in der Wohngruppe 3. Im Folgenden wird die konzeptionelle Ausrichtung der Wohngruppe dargestellt. Die pädagogischen Fachkräfte beschreiben den Auftrag der Wohngruppe darin, sich um „extremfälle“ (GD3, 90) zu kümmern, die schon viele Hilfeabbrüche hinter sich haben. Es gibt den Anspruch, einen weiteren „dreh-tür-effekt“ (GD3, 86) zu verhindern und „ne alternative [zu] sein zu diesen eins zu eins auslandsmaßnahmen“ (GD3, 93). In der Gruppe gibt es einen Betreuungsschlüssel von 1:1.

Konzeptionell ist die Wohngruppe stark behavioristisch ausgerichtet, die pädagogischen Fachkräfte sprechen von einem „verhaltenstraining“ (GD3, 104), das sie anwenden. Das zeigt sich in einem stark reglementierten Tagesablauf, in dem im Zehn-Minuten-Takt geplant wird, was die Kinder wann tun. Zudem gibt es den für dieses Konzept typischen „stufenplan“ (GD3, 268). Abhängig von der Stufe, in der die Jugendlichen sich befinden, bekommen sie mehr oder weniger Möbel auf ihre Zimmer, Zugang zu persönlichen Gegenständen, z. B. ihrem Handy sowie Taschengeld und die Möglichkeit, das Gelände der Wohngruppe zu verlassen. Belohnt wird sogenanntes „prosoziales verhalten“ (GD3, 319), dieses wird von aggressivem, gewalttätigem und regelbrechendem Verhalten abgegrenzt. Aggressives Verhalten wird zum Teil durch körperliches Begrenzen durch die Mitarbeiter*innen unterbunden. In den Gruppendiskussionen wird beschrieben, wie Kinder über längere Zeiträume durch die Kraft und das Körpergewicht der pädagogischen Fachkräfte auf dem Boden fixiert werden. Die Beschulung der Kinder erfolgt in eigenen Räumen der Wohngruppe mit einer eigenen Lehrkraft. Die pädagogischen Fachkräfte sind mit den Kindern circa hundert Tage im Jahr im Rahmen von erlebnispädagogischen Maßnahmen unterwegs. Die Verweildauer der Kinder ist von vorneherein auf mindestens zwei Jahre festgelegt. Die Räumlichkeiten der Gruppe sind „weglaufhemmend“ (GD3, 174) konzeptioniert und die pädagogischen Fachkräfte sprechend davon, dass Kinder „entweichen“ (vgl. GD3, 493). Formal handelt es sich jedoch um eine Intensivgruppe und keine fakultativ geschlossene Unterbringung.

Die pädagogische Konzeption der Wohngruppe 3 ist nicht an einen familialen Alltag angelehnt. In der Beschreibung der Konzeption kommt das Idealbild der Herkunftsfamilie als Ort des Aufwachsens nicht vor. Auf Nachfrage der Diskussionsleiterin grenzt sich das Team auch explizit von einer Familienanalogie ab (GD3, 1989 ff.).

Team 2

Im Team 2 arbeiteten zum Erhebungszeitpunkt vier pädagogische Fachkräfte, von denen drei an der Gruppendiskussion teilnahmen, eine war kurzfristig erkrankt. In der Wohngruppe sind zusätzlich eine Bundesfreiwilligendienstleistende und eine Hauswirtschaftskraft tätig. Diese werden erwähnt, jedoch nicht als Teil des Teams dargestellt. Alle drei anwesenden Fachkräfte sind um die dreißig Jahre alt, wobei der Gruppenleiter als einzige männliche Fachkraft mit 34 Jahren der Älteste ist. In dieser Konstellation arbeiten die Fachkräfte seit drei Jahren zusammen. In den Sozialdatenbögen haben alle drei keine Angaben zur Vorbildung bezüglich sexueller Gewalt gemacht. In der Gruppendiskussion wird jedoch deutlich, dass sowohl unterschiedliche Ansprachen des Einrichtungsleiters als auch mindestens ein Fachtext allen dreien bekannt sind (Abbildung 4.2).

Abbildung 4.2
figure 2

Übersicht Team 2

In der Wohngruppe 2 leben zehn Mädchen und Jungen, die zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen neun und sechzehn Jahren alt sind. Konzeptionell ist es eine 5-Tage-Gruppe. Die Kinder und Jugendlichen sind an jedem Wochenende in ihrer Herkunftsfamilie und verbringen die Zeit von Sonntagabend bis Freitagnachmittag in der Wohngruppe. In den Ferien schließt die Wohngruppe für einige Wochen. Konzeptionell ist eine räumliche Nähe zur Herkunftsfamilie gewünscht, damit die Kinder auch dann, wenn sie wieder in der Familie leben, Vereine und Schulen weiter besuchen können. Darüber hinaus ist die Arbeit mit den Eltern ein expliziter Bestandteil der Konzeption. Die Wohngruppe ergänzt und unterstützt die Herkunftsfamilie so für eine bestimmte Zeit und begleitet dabei, helfende Netzwerke aufzubauen. Im Regelfall ist das Ziel der Hilfe, dass die Kinder und Jugendlichen wieder ganz bei den Eltern wohnen können. Auch wenn der Alltag in der Wohngruppe die pädagogischen Fachkräfte an Familie erinnert, wird die Übernahme der Elternrolle abgelehnt: „irgendwie wie ne große familie nur äh sind wir nicht (Y: mhm) die eltern und wir ham n bisschen viele kinder“ (GD2, 158–160). Zum Beispiel sind für das Erlernen der persönlichen Hygiene die Eltern zuständig:

figure a

Auch konzeptionell grenzt sich die Wohngruppe 2 ab. Durch das Wechselmodell zwischen Wohngruppe und Eltern ist die Wohngruppe kein Zuhause.

figure b

Damit arbeitet das Team 2 eher familienergänzend und übernimmt andere Aufgaben als die Familie, die nach wie vor für Care-Tätigkeiten zuständig bleibt.

4.2.2 Familienanalog arbeitende Teams

Die weiteren vier Teams arbeiten sich wesentlich stärker an dem Idealbild der Familie als Lebensort von Kindern und Jugendlichen ab. Sie suchen eine konzeptionelle Antwort darauf, dass die Kinder und Jugendlichen nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben können.

Team 1

Das Team 1 besteht zum Erhebungszeitpunkt aus sechs pädagogischen Fachkräften. Fünf Fachkräfte nehmen an der Diskussion teil. Ein weiterer Mitarbeiter der Einrichtung ist ebenfalls anwesend. Er arbeitet mit den Eltern der Einrichtung und ist regelmäßig bei den Teamsitzungen anwesend. Weiter gibt es noch eine feste pädagogische Fachkraft, die im Urlaub ist, und eine Hauswirtschaftskraft, die aber vom Team nicht eingeladen wurde. Das Team ist vom Altersdurchschnitt deutlich am jüngsten. Alle bis auf die Gruppenleiterin und den Elternberater sind Anfang zwanzig. Zudem arbeiten sie in dieser Konstellation erst seit sehr kurzer Zeit zusammen, die teilnehmende Praktikantin ist als Letzte vor vier Wochen dazu gekommen, der Erzieher im Anerkennungsjahr vor zwei Monaten. Mit 4,5 Jahren arbeitet Doreen Peter, die Gruppenleitung, am längsten in der Gruppe. Bedauerlicherweise wurden für diese Gruppe die Sozialdatenbögen lückenhaft ausgefüllt. Insgesamt kann aber davon ausgegangen werden, dass die vier jüngeren Kolleg*innen wegen ihres Alters keine lange Berufserfahrung haben können (Abbildung 4.3).

Abbildung 4.3
figure 3

Übersicht Team 1

Der Träger des Teams 1 ist evangelisch und betreibt nur diese Einrichtung sowie einige lokale ambulante und teilstationäre Angebote. Das Gebäude der Wohngruppe liegt auf einem Gelände mit vier weiteren. Jede Wohngruppe ist in einem eigenen Gebäude untergebracht. Zudem gibt es angrenzende Wohnungen für Mitarbeiterende und ein Verwaltungsgebäude. Die Wohngruppen liegen wie ein kleines eigenes Dorf in einem Naturschutzgebiet nahe einer mittelgroßen Stadt. Die Wohngruppe 1 wird vom Träger selbst als Familiengruppe bezeichnet. Sie zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass sie bereits Kinder im Kindergartenalter aufnimmt und bis zur Volljährigkeit begleitet. Derzeit wohnen sechs Mädchen und vier Jungen zwischen fünf und 16 Jahren dort. Die Wohngruppe ist als langfristige Unterbringung konzipiert und die Kinder der Gruppe leben dort zum Teil schon seit acht Jahren. Das gemeinsame Leben in der Gruppe wird als „familiär“ (GD1, 100) bezeichnet, auch weil unter den Kindern zwei biologische Geschwisterkonstellationen sind. Räumlich werden von den Diskutant*innen ebenfalls Analogien zum Wohnen in der Familie gesehen:

figure c

Hier wird ein deutlicher Unterschied zu Team 2 ersichtlich. Das Team 1 sieht die Wohngruppe als „zuhause“ für die Kinder und Jugendlichen. Das macht es möglich, dort zu wohnen, und grenzt es von einer Institution ab. Die Wohngruppen sind jeweils in einem eigenen Haus untergebracht. Auf dem Gelände befinden sich weitere Wohnungen, die von Privatpersonen genutzt werden. Das Gelände wirkt dörflich. Das alles führt dazu, dass es sich für die Forscherin eher nach einem privaten Wohnraum anfühlt, ähnlich einem gemütlichen Einfamilienhause.

Team 6

Im Team 6 arbeiten drei männliche Fachkräfte gemeinsam mit einer Kollegin bereits seit zehn Jahren in der gleichen Zusammensetzung, gelegentlich ergänzt durch eine*n Jahrespraktikant*in. Die Stelle war zum Erhebungszeitpunkt jedoch unbesetzt. Der Gruppenleiter, Thorsten Aman, und Cliff Wallfaß arbeiten seit über 34 Jahren gemeinsam in derselben Wohngruppe, Frau Brand gehört seit zwanzig Jahren mit ihnen zum Team. Der deutlich jüngere Kollege Timm Deich (32) ist seit zehn Jahren mit dabei. Alle vier haben eine ähnliche Ausbildung, sie sind Heilpädagog*in, bzw. Heilerziehungspfleger. Einige Wochen bevor die Gruppendiskussion stattgefunden hat, hat der Gruppenleiter an einer Fortbildung der Einrichtung zum Thema sexuelle Gewalt in Institutionen teilgenommen (Abbildung 4.4).

Abbildung 4.4
figure 4

Übersicht Team 6

Die Einrichtung ist in öffentlicher Trägerschaft und nicht konfessionell gebunden. Im Zuge einer Fusion des Trägers und aus Altersgründen hat ein Wechsel in der Leitung des Trägers stattgefunden, welcher zu einer Entfremdung der pädagogischen Fachkräfte von der Einrichtung selbst geführt hat. Das Team 6 hat, wie das Team 1, als Selbstverständnis, dass die Wohngruppe das „zuhause“ (GD6, 326) der Kinder und Jugendlichen ist. Das machen sie bspw. daran fest, dass junge Erwachsene, deren Hilfen beendet sind, auch immer wieder in die Wohngruppe zurückkommen und einmal im Jahr gemeinsam Silvester gefeiert wird (GD6, 326). Aber auch für die Kinder, die gerade in der Gruppe leben, beschreiben die pädagogischen Fachkräfte die Wohngruppe als zuhause:

figure d

Auch der Tagesablauf „is eigentlich wie in nem in anführungsstrichen normalen familienleben“ (382ff). Hier ziehen die Diskutant*innen die Parallele zum Leben in der Familie und markieren gleichzeitig, dass ein „normales familienleben“ ein Bild darstellt, das so generalisiert gar nicht zusammengefasst werden kann.

Neben den Begriffen „zuhause“ und „familienleben“ rekurrieren die Diskutant*innen der Wohngruppe 6 noch auf das Bild der „lebensgruppe“:

figure e

Mit der Bezeichnung Lebensgruppe grenzen sich die Mitarbeiter*innen von anderen „behandlungsgruppen“ ab. Der Unterschied ist für sie die Perspektive, mit der die Kinder und Jugendlichen in der Gruppe aufgenommen werden. In einer Behandlungsgruppe ist das Ziel immer, bestimmte Fähigkeiten zu erlernen oder eine Krise zu überstehen und dann wieder woanders zu leben. In der Lebensgruppe ist das Ziel, dass die Kinder und Jugendlichen dort möglichst lange bleiben, um auf ein selbstständiges Leben vorbereitet zu werden. Mit dieser Perspektive auf eine langzeitige Verweildauer gehen „vielfältige“ „aufgaben“ einher. Genannt werden hier Erziehungsaufgaben im Bereich der „emotionalen, sexuellen (…) bereich“. Es ist für die Mitarbeiter*innen genuine Aufgabe, mit den Kindern und Jugendlichen an der Nähe-Distanz-Regulation zu arbeiten und auch über Fragen rund um Sexualität zu sprechen. Diese Art und Weise des Umgangs, die die Ausrichtung der Lebensgruppe mitbringt, bedeutet auch, dass die Wohngruppe zum „zuhause“ der Kinder und Jugendlichen wird.

Am stärksten familienanalog arbeiten die Teams 4 und 5. Dies spiegelt sich bereits in den Begrifflichkeiten des Trägers C wider, denen beide angehören. Die Wohngruppen heißen in der Organisation „Kinderdorf-Familien“ und die innewohnenden Fachkräfte werden „Kinderdorf-Vater“ oder „Kinderdorf-Mutter“ genannt. Auf diese Art und Weise stellt die Organisation selbst semantisch eine Verbindung zu der Lebensform Familie her. Dass diese Verbindung nicht nur semantisch ist, sondern wesentlicher Bestandteil der pädagogischen Haltung, wird in beiden Diskussionen deutlich.

Team 4

Das Team 4 besteht zum Erhebungszeitpunkt aus drei pädagogischen Fachkräften und einem Bundesfreiwilligendienstleistenden. Des Weiteren arbeitet noch eine Hauswirtschaftskraft in der Wohngruppe, die nicht an der Gruppendiskussion teilnimmt. Die drei festen Mitarbeiter*innen sind zwischen 28 und 45 Jahre alt und haben alle eine abgeschlossene Ausbildung als Erzieher*in. Jan Hansen ist der Älteste und seit kurzem die innewohnende Fachkraft der Gruppe. Er hat bis vor wenigen Jahren beruflich etwas Anderes gemacht und arbeitete seit zwei Jahren in der Einrichtung darauf hin, innewohnende Fachkraft zu werden. Die beiden weiblichen Fachkräfte arbeiten seit fünf Jahren gemeinsam in derselben Wohngruppe. Bevor Jan Hansen innewohnende Fachkraft wurde, hat er mit den beiden im Schichtdienst gearbeitet. Jetzt übernimmt er sehr viele Nachtdienste und hat dann mehrere Tage am Stück frei. Dann übernehmen Ruth Renner und Sabine Schulze wechselnd die Nachtdienste. Die Vorbildung hinsichtlich sexueller Gewalt durch Mitarbeitende ist in dieser Gruppe sehr different. Während Ruth Renner und Sabine Schulz hier keine Angaben machen, gibt Jan Hansen an, dass er sich mit dem Thema sowohl über die Medien, als auch durch Literatur und während seiner Ausbildung beschäftigt hat (Abbildung 4.5).

Abbildung 4.5
figure 5

Übersicht Team 4

Die Wohngruppe 4 ist auf einem Gelände mit mehreren Wohngruppen untergebracht, wobei diese nach dem Grad der Familialität voneinander unterschieden werden. Mit auf dem Gelände sind auch Verwaltungsgebäude. Das Areal grenzt an den Wald. Das Gelände ist abgelegen am Rand einer Kleinstadt. In der Wohngruppe 4 leben derzeit sechs Kinder zwischen sieben und fünfzehn Jahren. Die drei jüngeren sind Mädchen, die drei älteren sind Jungen. Unter ihnen sind zwei Geschwisterkonstellationen. Die Kinder leben in dieser Konstellation seit vier Jahren, einige auch schon länger miteinander. Ein Kriterium für die Aufnahme in die Gruppe ist, dass die Kinder „bindungsfähig“ (GD4, 88) sind. Hier zeigt sich der deutlichste Unterschied zu den nicht familienanalog arbeitenden Gruppen, in denen der Aufbau einer Beziehung zwischen den Fachkräften und den Kindern nicht als pädagogisches Ziel ausgewiesen wird. Die Familialität ist das zentrale Moment der Konzeption der Wohngruppe, was in folgender Sequenz deutlich wird:

figure f

In der Deutung der pädagogischen Fachkräfte ist der Bezug zur Lebensform Familie der „entscheidende unterschied“ (GD4, 185) zu anderen stationären Heimeinrichtungen. Die Familienanalogie ist für die Wohngruppe im Speziellen, aber auch für die ganze Organisation (GD4, 226ff) ein konzeptionell entscheidendes Kriterium. Dabei bleibt es nicht bei der pädagogischen Herstellung einer Lebensumgebung für die Kinder, vielmehr geht es auch um ein Lebensmodell für die pädagogischen Fachkräfte. Der innewohnenden Fachkraft kommt dabei eine besondere Position zu, denn „durch die dauerhafte präsenz einer person“ (GD 4, 125 f.) wird die Wohngruppe „familenähnlich“ (ebd.). Und das gilt nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, die nicht mehr in Ihrer Herkunftsfamilie leben können, sondern auch für die innewohnende Fachkraft und die weiteren pädagogischen Mitarbeiter*innen ist es ein „stück familie“ (GD4, 223). Letztere sind, auch wenn Sie nicht ihren Lebensmittelpunkt in der Wohngruppe haben, Teil des familienähnlichen Arrangements. In der Passage ist die Spannung, die Familialität aufruft, deutlich nachgezeichnet. Zum einen ist sie „wertvoll“ (GD4, 218+221), zum anderen aber auch immer zum Scheitern verurteilt, da die pädagogischen Fachkräfte die Eltern nicht ersetzen können (GD4, 192ff). Familialität ist für das Team also gleichzeitig erklärte Maxime und ein wertvolles Gut sowie bewusste Sisyphus-Arbeit.

Team 5

Das Team 5 arbeitet bzw. lebt zum Erhebungszeitpunkt ebenfalls in einer Kinderdorf-Familie derselben Einrichtung. Henni März ist die innewohnende Fachkraft der Wohngruppe. Sie ist bereits seit zwanzig Jahren in der Einrichtung tätig. Ihre beiden Kolleg*innen, die sie tagsüber unterstützen oder ihre Aufgaben übernehmen, wenn sie frei hat, sind Mitte zwanzig und arbeiten auch schon länger in der Einrichtung. Beide haben eine Erzieher-Ausbildung abgeschlossen. Thiemo Weiler hat seit einem halben Jahr einen BA in Sozialer Arbeit. Die beiden Frauen arbeiten schon seit fünf Jahren zusammen, Thiemo Weiler ist vor vier Monaten zum Team dazu gekommen. Alle drei geben vielfältige Arten der Beschäftigung mit dem Thema sexuelle Gewalt durch Mitarbeitende an (Abbildung 4.6).

Abbildung 4.6
figure 6

Übersicht Team 5

Konzeptionell ist die Wohngruppe 5 genauso ausgerichtet wie die Wohngruppe 4, wobei das Team 4 die Besonderheit des Familialen eher am Konzept der ganzen Organisation festmacht. Für Team 5 liegt der Unterschied dahingegen in der konzeptionellen Ausrichtung einzelner Wohngruppen. Für die Fachkräfte ist das Zentrale an dem Konzept, dass es eine innewohnende Fachkraft gibt:

figure g

Genau wie für das Team 4 ist hier die Fähigkeit, sich auf Beziehungen einlassen zu können, ein wichtiges Kriterium für die Aufnahme in die Gruppe, deren Konzept der innewohnenden Fachkraft besonderen Wert auf Beziehungsarbeit legt und für die Familienanalogie essenziell ist.

Für das Team 5 wird das Beziehungsgefüge in das Konzept der Gemeinschaft übersetzt, das für sie einen familialen Wert darstellt: „und wir versuchen hier auch familiäre werte zu leben; das heißt für mich gemeinschaft leben“ (GD5, 550). Dabei wird die Person der innewohnenden Mitarbeiterin deutlich hervorgehoben:

figure h

Hier zeigt sich eine klare Exklusivstellung der innewohnenden Fachkraft in dem Gefüge der Familienanalogie. Sie ist diejenige, die sich dazu entschieden hat, ihre Zeit über die normale Arbeitszeit hinaus mit den Kindern zu teilen und es ist ihr wichtig, dies den Kindern zu vermitteln. Dennoch gehören die anderen Fachkräfte zu der Kinderdorf-Familie dazu, wie sie nur wenig später erklärt: „äh das ist schon bei uns so, dass wir n wir-gefühl alle haben, ne? wir sind kinderdorffamilie, und dazu gehören wir als team,“ (GD5, 660).

Eine weitere Parallele zu Team 4 ist für das Team 5, dass für sie die Arbeit in der Kinderdorf-Familie „nicht nur stur arbeit“ (GD5, 268f) ist, sondern „einfach n teil von mir“ (ebd.). Die innewohnende Fachkraft beschreibt das wie folgt:

figure i

Das gemeinsame Leben mit den Kindern ist für Frau März entscheidend für die Umsetzung ihres pädagogischen Anspruchs, die Werte von Gemeinschaft gegenüber den Kindern zu vermitteln. Es handelt sich dabei um ein reziprokes Verhältnis, das den anderen akzeptiert und das verlangt, dass er sich auch selbst einbringt. Ihr Teil des Einbringens ist es, ihr Leben zu teilen, „vorzuleben“ und so ein „beziehungsangebot“ zu machen. Die sich hieraus ergebende „vertrauensbasis“ ist für Frau März „der grundsatz von ner familie“. Hier zeigt sich deutlich, dass sich Frau März und auch die anderen Fachkräfte an einem idealisierten Bild von Familie orientieren, das eben genau dieses Vertrauen und die Beziehungsmöglichkeiten bietet. Dieses Ideal ist konstitutiv für das Konzept der Kinderdorf-Familie.

Gleichzeitig ist es nicht dasselbe wie ein „herkömmliche[s] familiensystem“ (GD5, 1119). Das Konzept für die Lebenskonstellation des Teams 5 wird von ihnen sowohl gegen die Herkunftsfamilie, als auch gegenüber anderen Wohngruppen abgegrenzt:

Aufgrund der oftmals langen Zeit, die sie mit den Kindern verbringen, bekommen die ergänzenden Fachkräfte im Haus der Kinderdorf-Familie Besuch von ihren Partner*innen und die alleinstehende Kinderdorf-Mutter von ihrer Familie. Dies sehen sie als eine Besonderheit, die sie von einer anderen Form der Wohngruppe unterscheidet. Andernorts wäre, so die hier formulierte Annahme, diese Vermischung von Privatem und Arbeit nicht erwünscht. In dieser Wohnform ist es jedoch normal, dass die Fachkräfte Besuch empfangen, oder auch Kinder zu privaten Ausflügen mitnehmen, ohne diese Aktivität als Arbeitszeit anzusehen. Dennoch trennt das Team Privates und Arbeit. Frau März: „mein privates ist mir auch sehr sehr wichtig; und da gehört ihr halt auch eben nicht dann dazu; also so sachen sind schon, ähm schon wichtig für sich rauszuarbeiten;“ (GD5, 605 ff.). Auch die beiden ergänzenden Fachkräfte betonen, dass es für sie wichtig ist, Abstand von der Arbeit zu gewinnen, wenn sie frei haben. Die Freizeit außerhalb der Kinderdorf-Familie beschreibt Frau März als den größten Unterschied zu einer herkömmlichen Familie, sieht aber gleichzeitig Parallelen zu einer Patchwork-Familie (GD5, 707 ff.), bei der Eltern aufgrund mehrerer Lebensorte der Kinder auch öfter mehrere kinderfreie Tage haben. Abschließend zeigt Abbildung 4.7 noch eine Übersicht über das ganze Sample.

Abbildung 4.7
figure 7

Übersicht Sample