Die vielen medial besprochenen Fälle sexueller Gewalt in pädagogischen Einrichtungen im Jahr 2010 waren Anlass für die Idee zu diesem Forschungsprojekt. Es stellte sich die Frage, wie das Thema sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe wahrgenommen und ob es durch den medialen Diskurs beeinflusst wird. In Stimulus I wurde die mediale Berichterstattung nicht explizit aufgerufen. Methodisch wurde so offengelassen, ob die mediale Berichterstattung und die öffentliche Diskussion überhaupt von den Fachkräften rezipiert wurde und ob diese für sie in ihrem professionellen Alltag relevant wurde.

Als Ergebnis der Rekonstruktion lässt sich festhalten, dass die medialen Berichterstattungen in der Tat durch die pädagogischen Fachkräfte wahrgenommen wurden. In allen Gruppendiskussionen finden sich Hinweise auf unterschiedliche Presseorgane und öffentliche Berichte, die Anlässe zur Thematisierung von sexueller Gewalt waren. Im Folgenden werden die Anlässe unter der Kategorie „mediale Berichterstattung“ zusammengefasst. Zunächst wird deskriptiv dargestellt, was die pädagogischen Fachkräfte in Bezug auf die mediale Berichterstattung ansprechen (7.1). Im Weiteren wird die Rekonstruktion vertieft und aufgezeigt, dass die durch Medienberichte veranlasste Thematisierung eine Sensibilisierung in Bezug auf das Thema sexuelle Gewalt zur Folge hat (7.2.). Das bedeutet zweierlei: erstens kommt es dazu, dass sexuelle Gewalt in Institutionen als potenzielle Gefahr wahrgenommen wird und zweitens, dass die in den Organisationen tätigen pädagogischen Fachkräfte als mögliche Täter*innen in den Blick geraten. Dieses Phänomen der Sensibilisierung lässt sich systematisch auf drei Ebenen verorten: (1) auf der Ebene der individuellen Fachkraft, (2) auf der Ebene der Organisation und (3) auf der Ebene der Gesellschaft.

7.1 Beschreibungen der medialen Berichterstattung

Grundlegend ist festzustellen, dass in allen Gruppendiskussionen die mediale Berichterstattung als Anlass der Thematisierung von sexueller Gewalt angesprochen wird. Dies geschieht zwar sehr unterschiedlich ausführlich und explizit, die umfassende Präsenz zeigt jedoch insgesamt, dass die Relevanz der medialen Berichterstattung sehr hoch ist.

Die einzelnen Berichte und Erzählungen der pädagogischen Fachkräfte aus dem Bereich der medialen Berichterstattung lassen sich in vier Themenkomplexe gliedern:

  • Konkrete Fälle sexueller Gewalt in pädagogischen Einrichtungen

  • Sexuelle Gewalt als internationales Phänomen

  • Mediale Formate, die rezipiert werden

  • Persönliche Betroffenheit, die durch Medien aufgegriffen wurde

Konkrete Fälle sexueller Gewalt in pädagogischen Einrichtungen

In diesem Themenkomplex geht es um Sequenzen, in denen Fälle beschrieben werden. Es wird dabei deutlich, dass es sich um konkrete Gewaltfälle oder -konstellationen handelt, ohne dass immer nachvollzogen werden kann, auf welche Einrichtung sich die pädagogischen Fachkräfte beziehen. So auch in der folgenden Sequenz:

figure a

Betti erinnert sich hier an einen Bericht über einen „mann“, der als „komisch“ und „schwarz“ beschrieben wird. Zunächst erinnert sie sich also an zugeschriebene Merkmale der Person, die für sie in diesem Zusammenhang relevant zu sein scheinen. Markiert werden hier die Abnormität und Fremdheit, sowie die Männlichkeit des vermeintlichen Täters. Die Interpretation der Attribuierung „schwarz“ ist an dieser Stelle nicht einfach, sie könnte auf die Hautfarbe verweisen, sie könnte sich aber auch auf eine Dämonisierung der Person beziehen. Hier wird ein stereotypes Bild von einem Täter angedeutet. Die Täterschaft wird mit zugeschrieben körperlichen Attribuierungen verkoppelt und weist eine alltagsrassistische Konnotation auf.

Des Weiteren erinnert sich Betti noch, dass die Person „als sozial- ähm pädagoge gearbeitet“ hat. Neben den Körpermerkmalen wird nun auch seine Professionalität relevant und der Fall so zu einem, der das Thema sexuelle Gewalt in einer pädagogischen Institution verortet. Auch das Arbeitsfeld wird etwas eingegrenzt: er hat „ganz viele jugendgruppen betreut“. Die Zuständigkeit für viele Jugendgruppen und damit auch viele Jugendliche schließt eine Tätigkeit in der Heimerziehung selbst aus. Offene oder verbandliche Kinder- und Jugendarbeit oder eine Form von sozialer Gruppenarbeit kommen in Betracht. Bemerkenswert ist, dass hier trotz der unterschiedlichen Arbeitsfelder eine Verbindung zur eigenen Arbeit gesehen wird. Es erfolgt eine Generalisierung über pädagogische Kontexte hinweg.

Exemplarisch für die Erinnerung an medial rezipierte Gewalttaten ist auch eine Sequenz, in der sich einige der Fachkräfte an die Fülle der einzelnen Berichte erinnern: „und das ist eigentlich so viel, dass man schon aus den augen verloren hat, was denn eigentlich alles so gelaufen is“ (GD4, 2281–2282). Nach der Feststellung, dass die berichteten Gewalttaten bzw. Gewaltkonstellationen so vielfältig sind, dass sie nicht mehr überschaut werden können, werden von den pädagogischen Fachkräften einzelne benannt. Die meisten bleiben, ähnlich wie das Narrativ über den „komische[n] schwarze[n] mann“, eher unkonkret, nennen keine Namen oder Orte, so dass sie nicht sicher konkreten medial besprochenen Fällen zugeordnet werden können. In den Erinnerungen sind lediglich Bruchstücke hängen geblieben und die Summe der einzelnen Fälle, über die berichtet wurde, hat vielmehr zu einem Bewusstsein beigetragen, dass es sich um ein großes gesellschaftliches Problem handelt.

Bei einzelnen Erzählungen ist dennoch eine konkrete Zuordnung möglich: „es gab auch noch so = n so = n reformhaus im schwarzwald, da wo, wo auch ganz viel gelaufen is“ (GD4, 2283). Hier ist es naheliegend, dass es um die reformpädagogische Odenwaldschule geht, auch wenn sich der konkrete Bezug semantisch verdreht hat und aus der Reformpädagogik ein Reformhaus und aus dem Odenwald der Schwarzwald geworden ist. Am konkretesten ist der Verweis von Herrn Braun auf das Canisius-Kolleg (GD3, 450–452). Hier kennt die pädagogische Fachkraft durch die eigene biografische Betroffenheit (s. o.) die Debatte sogar so gut, dass er weiß, dass mit der Veröffentlichung über das katholische Internat die mediale Berichterstattung angestoßen wurde.

Sexuelle Gewalt als internationales Phänomen

Das Team 6 ordnet die Berichte über Einzelfälle als ein internationales Phänomen des Öffentlich-Werdens ein: „dat war ja jetzt auch nicht nur in deutschland, dat war ja parallel dazu auch in england oder in irland, is das ja auch öffentlich geworden.“ (GD6, 2540 f.) und auch von Team 5 wird ein irischer Skandal erwähnt (GD5, 2285). Die Teams sind sich also zumindest zum Teil darüber im Klaren, dass die Aufdeckung sexueller Gewalt weite Ausmaße hat und nicht nur auf Deutschland reduziert werden kann.

Mediale Formate, die rezipiert wurden

In den Erzählungen des Teams 2 über die „berichterstattung in den medien“ (GD2, 232) werden mediale Formate benannt, die das Thema sexuelle Gewalt an sie herangetragen haben: Ihr EInrichtungsleiter hat ihnen immer wieder „links“ zu Fernsehformaten wie „hart aber fair und wdr“ (GD2, 243) zugeschickt, in denen er zum Teil selbst als Experte aufgetreten ist. Fernsehbeiträge werden auch vom anderen Team des gleichen Trägers erwähnt. Hier ist die Rede von einem „fernsehbeitrag über […] n ehemaligen, (.) bewohner der einrichtung b“ (GD3, 458), den sie ebenfalls vermittelt durch den Einrichtungsleiter wahrgenommen haben. Besonders ist, dass die Medienberichte hier nicht aufgrund von eigenem Interesse rezipiert wurden, sondern dass der Einrichtungsleiter seine Mitarbeiter*innen auf die Berichte hingewiesen hat. Als weiterer Anlass deutet sich hier bereits eine Thematisierung durch die Organisation an, hier in Person des Leiters (siehe Kap. 8).

Persönliche Betroffenheit, die durch Medien aufgegriffen wurde

Für zwei pädagogische Fachkräfte gibt es auch eine persönliche Betroffenheit, die mit der Berichterstattung der Medien in Verbindung steht. Ein Mitarbeiter des Teams 3 berichtet von einem „zeitungsartikel“ (GD3, 470), den seine Mutter als Betroffene veröffentlicht hat (siehe 6.2). Sie ist mit ihrer Geschichte, die auch seine Geschichte ist, Teil der medialen Debatte geworden.

Die männliche, innewohnende Fachkraft des Teams 4 ordnet „diese eine anfrage vom wdr“ (GD4, 362) an ihn in den Kontext „der katholischen kirche, mit all diesen missbrauchsfällen die ja in der presse standen“ (GD4, 390 ff.) ein. In dieser Äußerung kommt es zu einer Verknüpfung zwischen dem medialen Interesse an der Person, bzw. der Funktion des Mitarbeiters auf der einen Seite und den Berichten über sexuelle Gewalt in Institutionen auf der anderen Seite. Die mediale Berichterstattung führt hier dazu, dass die Fachkraft den Eindruck hat, unter Verdacht zu stehen, sexualisierte Gewalt auszuüben.

Diese beiden Erfahrungen von medialer Thematisierung stehen im starken Kontrast zueinander. Während die mediale Veröffentlichung des Leids der Mutter als Ermächtigung und positives Beispiel für mediale Thematisierung angeführt wird, geht es bei der Erzählung über die Anfrage des WDR um eine kritische Einordnung dieses Vorgangs als Teil eines öffentlichen Misstrauens gegenüber männlichen Fachkräften, welches sich in der weiteren Rekonstruktion immer weiter bestätigen wird.

Zusammenfassend kann hier festgestellt werden, dass die mediale Berichterstattung vor allem in Bezug auf Einzelfälle rund um pädagogische Institutionen rezipiert wurde. Gleichwohl gibt es durch das als hoch empfundene Ausmaß an medialer Präsenz ein Bewusstsein dafür, dass sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen ein internationales Problem darstellt. Parallel dazu gibt es dennoch nur wenig Erinnerungen an Orte, Personen und Handlungen. So entsteht eine vage Ahnung davon, dass sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen gesellschaftliche Relevanz besitzt. Insgesamt sind die medialen Berichte etwas, was an die pädagogischen Fachkräfte herangetragen wird. Es gibt keine Erzählungen darüber, dass sie sich aus persönlichem oder fachlichem Interesse selbst aktiv informiert hätten. Des Weiteren lässt sich keine eigene kritische Auseinandersetzung mit dem medialen Diskurs in den Gruppendiskussionen feststellen.

7.2 Die Berichterstattung der Medien sensibilisiert

Die von den pädagogischen Fachkräften wahrgenommenen medialen Berichte sind für diese einflussreich: Sie schaffen ein Bewusstsein für die Möglichkeit, dass es in pädagogischen Einrichtungen zu sexueller Gewalt kommen kann. Diesen Prozess des Bewusstwerdens fasse ich im Weiteren als Sensibilisierung. Sie vollzieht sich auf drei Ebenen: (1) auf der Ebene der individuellen Fachkraft, (2) auf der Ebene der Organisation und (3) auf der Ebene der Gesellschaft. Eine Sensibilisierung durch mediale Thematisierung kann für alle sechs Teams rekonstruiert werden, wobei nicht alle eine Sensibilisierung auf allen Ebenen beschreiben. Da an dieser Stelle die Rekonstruktion des Phänomens zentral ist, und nicht eine Typisierung der einzelnen Teams vorgenommen werden soll, werden die Sensibilisierungsebenen jeweils exemplarisch veranschaulicht.

Sensibilisierung auf der Ebene der individuellen Fachkraft

Ein Teil der pädagogischen Fachkräfte beschreibt, dass die medialen Berichte bei ihnen selbst eine Sensibilisierung ausgelöst haben. Exemplarisch wird hier eine Sequenz aus der Gruppendiskussion 2 interpretiert:

figure b

Herr Adam beschreibt die Sensibilisierung durch die „berichterstattung in den medien“ zunächst als generell und für ihn sehr selbstverständlich – „natürlich“. Die Berichte führen ihm vor Augen, dass die Einrichtung, in der er arbeitet, Gemeinsamkeiten mit den Einrichtungen hat, über die berichtet wird. Eine Verbindung zwischen den medial aufgearbeiteten Gewalttaten und seiner Arbeit entsteht durch die katholische Ausrichtung der Träger. Diese Parallele eröffnet für ihn die Perspektive, dass sexuelle Gewalt folglich auch in der Einrichtung passieren könnte, in der er arbeitet. Die Art und Weise, wie Herr Adam davon berichtet, wie sexuelle Gewalt durch Mitarbeiter*innen auch für ihn zum Thema wird, ist verbal recht unaufgeregt. Nonverbal lässt es ihn jedoch nervös auf dem Stuhl hin und her rutschen. Er stolpert („hoppla“) etwas über den Umstand, dass es eine Verbindung zwischen ihm und sexueller Gewalt in katholischen Einrichtungen gibt. Er – um in der Metapher zu bleiben – fällt jedoch nicht: Diese Verbindung, bzw. das Thema, bedroht ihn nicht dermaßen, dass er stürzt; es macht ihn aber nervös und achtsam. Wenngleich der „gedanke“ im Konjunktiv verbleibt, wird ein Bewusstsein für die Möglichkeit geschaffen, dass er bzw. seine Einrichtung Teil einer Gewaltkonstellation werden kann. Die mediale Berichterstattung trägt dazu bei, dass sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen gedacht wird.

Sensibilisierung auf der Ebene der Organisation

Neben der Sensibilisierung der pädagogischen Fachkräfte wird auch eine Sensibilisierung der Organisationen beschrieben. Zunächst soll hierfür ein Beitrag von Frau März aus dem Team 5 (Organisation C) rekonstruiert werden:

figure f

Die pädagogische Fachkraft konstatiert hier eine Sensibilisierung der Organisation durch die breite Medienpräsenz und berichtet von ihrer Beobachtung, dass sich Einrichtungen positionieren mussten, inwieweit es „verfahrenswege“ gibt. Die Berichterstattung führt in ihrer Perspektive also zu einer bürokratischen Reaktion der Einrichtungen. Die Paraphrase der Frage nach dem Umgang in der ersten Person plural schließt die eigene Einrichtung in diese angeregte Bilanzierung mit ein. Hier zeigt sich eine Generalisierung der Gefahrenzuschreibung, wie sie auch in der individuellen Sensibilisierung schon zu finden ist: Weil es in anderen pädagogischen Einrichtungen zu Fällen sexueller Gewalt gekommen ist, wird deutlich, dass dies auch in der eigenen Einrichtung passieren kann. Die Beschreibung von Frau März ist relativ neutral und wurde emotional unaufgeregt gesprochen. Im Kontrast hierzu stehen zwei Sequenzen von Team 4 und 6:

figure c

In der Sequenz von Team 4 (Organisation C) wird metaphorisch dargestellt, dass das Thema sexuelle Gewalt für die Organisation wichtig wird, ja sogar in den „mittelpunkt rückt“, wenn die Presse dies anstößt. In Zeiten, in denen die Medien nicht über sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen berichten, hört das Thema jedoch für die Organisation auf zu existieren. Bemerkenswert ist hier, dass Team 4 und 5 beide Teile der Organisation C sind. Während in Team 5 jedoch von Verfahrenswegen gesprochen wird, die zwar geprüft werden müssen, aber dennoch präsent sind, scheinen diese in der Perspektive von Team 4 nicht zu existieren. An dieser Stelle lässt sich gut zeigen, dass es hier um die kollektiven Deutungsmuster der Teams geht, die jedoch nicht mit der realen organisationalen Praxis übereinstimmen müssen. Dennoch geben sie Aufschluss darüber, wie die Organisation wahrgenommen wird und das ist entscheidend für die Orientierung der Teams.

Die Fachkräfte des Teams 6 (Organisation D) sprechen analog von einem „pendel“ (GD6, 1574) das ausschlägt und von „fahnen“ (GD6, 1502), die je nach Zeitgeist durch die Einrichtung gehisst werden. Beide Metaphern verweisen darauf, dass die mediale Thematisierung in Konjunkturen verläuft und dass die mediale Berichterstattung einen hohen Einfluss darauf hat, ob sich Organisationen der stationären Kinder- und Jugendhilfe des Themas annehmen. Dies ist sehr ähnlich zum Diskurs in Team 4. Die Beschäftigung der Organisation mit dem Thema sexuelle Gewalt ist keine intrinsische, also aus einer fachlichen Überzeugung heraus, sondern eine, die durch äußere Notwendigkeiten gesteuert wird. So schafft die mediale Berichterstattung auch innerhalb der Organisationen ein Bewusstsein für die Möglichkeit, dass es zu sexueller Gewalt innerhalb der Organisation kommen könnte: Die Organisation wird sensibilisiert. Unklar bleibt hier die Bedeutung der Tatsache, dass die Organisation nicht von sich aus aktiv wird. Möglicherweise reagiert sie lediglich, um mit dem öffentlichen Druck umzugehen. Oder aber sie reagiert, weil auf organisationaler Ebene der Möglichkeit sexueller Gewalt entgegengetreten werden muss und durch die mediale Berichterstattung tatsächlich ein Bewusstsein dafür geschaffen wird.

Anders verhält es sich für die Teams der Organisation B (Team 2 und 3). Sie beschreiben zwar genauso Schwankungen im medialen Diskurs, dieser hat jedoch keine direkten Auswirkungen auf die Einrichtung. Vielmehr bestimmt hier der Einrichtungsleiter den medialen Diskurs teilweise mit und speist also die Position der Einrichtung B in den Diskurs ein. So entsteht in den Berichten zwar eine Verbindung zwischen der medialen Berichterstattung und der Thematisierung in Organisation B. Anders als bei den drei anderen Organisationen, ist Organisation B jedoch aktiv beteiligt und reagiert nicht nur auf den medialen Druck.

Im Gegensatz zur individuellen Sensibilisierung bewerten die pädagogischen Fachkräfte die organisationale Sensibilisierung. Hier konnten deutliche Unterschiede in Bezug auf die Orientierung festgestellt werden:

  1. (1)

    In der ersten Orientierung lässt sich die Organisation in ihrer Bearbeitung des Themas sexuelle Gewalt in pädagogischen Organisationen durch die Medien nur bedingt beeinflussen und gestaltet den Diskurs/die Berichterstattung aktiv mit. Hier wird die mediale Thematisierung positiv eingeschätzt. (Organisation B: Teams 2 und 3, Organisation C: Team 5)

  2. (2)

    In der zweiten Orientierung lässt sich die Organisation stark von den Medien beeinflussen und es kommt in der Folge zu einer überzogenen konjunkturellen Bearbeitung des Themas durch die Organisation. Für dieses Team ist die mediale Thematisierung zwar aktueller Anstoß, der von der Organisation aufgegriffen wird, aus Sicht der Fachkräfte ist jedoch nicht die destruktive Berichterstattung problematisch, sondern ein unprofessioneller Umgang der Organisation mit der medialen Thematisierung. (Organisation D: Team 6)

  3. (3)

    In der dritten Orientierung sehen die Teams einen direkten Zusammenhang zwischen der medialen und der organisationalen Thematisierung. Die mediale Thematisierung ist ursächlich für das unangemessene Misstrauen der Einrichtung gegenüber männlichen Mitarbeitern. (Organisation A: Team 1, Organisation C, Team 4).

Die Organisationen werden hier entweder als proaktiv oder reaktiv erlebt, wobei eine reaktive Haltung zu Verunsicherung und/oder Wut, Aggressionen und Ärger bei den pädagogischen Fachkräften führt. Eine proaktive Haltung scheint den pädagogischen Fachkräften Sicherheit zu geben.

Die Organisation als Anlass für die Thematisierung von sexueller Gewalt ist ebenfalls Gegenstand von Kapitel 8. Dort wird gezeigt werden, dass die organisationale Thematisierung wesentlich mit der pädagogisch-konzeptionellen Ausrichtung der Wohngruppen zusammenhängt.

Sensibilisierung auf der Ebene der Gesellschaft

Die gesellschaftliche Diskussion über sexuelle Gewalt in Institutionen wird von allen Teams wahrgenommen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Zwei Teams beziehen sich überaus positiv auf die mediale Berichterstattung und deren gesellschaftliche Konsequenzen: Das Team 5 klassifiziert die Berichterstattung als „aufarbeitung durch öffentliche medien“ (GD5, 1334). Der Begriff der „aufarbeitung“ ist in dieser Formulierung sehr interessant. Er beinhaltet, dass die Arbeit der Medien die Intention hat, etwas Versäumtes nachzuholen und/ oder offen zu legen, was verdeckt war. Die „öffentliche[n] medien“ sind Akteur*innen bei der gesellschaftlichen Bewältigung von sexueller Gewalt in Institutionen. Auch das Team 3 begrüßt die mediale Berichterstattung und wertet die gesellschaftliche Diskussion als „zweifellos absolut überfällig“ (GD3, 1535) und zudem „sehr angemessen“ (GD3, 1548). Eine pädagogische Fachkraft findet sogar, dass die Diskussion noch „radikaler“ (GD3, 1561) hätte geführt werden müssen. In diesen Formulierungen wird die Orientierung der pädagogischen Fachkräfte deutlich, dass die mediale Berichterstattung einen Beitrag zur gesellschaftlichen Bearbeitung von sexueller Gewalt in Institutionen leisten kann und muss. Die gesellschaftliche Sensibilisierung ist somit ein notwendiger Schritt im Umgang mit dem Thema und den Taten sexueller Gewalt.

Diese ausnahmslos positive Orientierung zeigt sich jedoch nicht für die anderen Teams. Hier lassen sich deutlich ambivalentere, kritischere Orientierungen zum Thema gesellschaftliche Sensibilisierung finden.

figure d

Vor dem Hintergrund der medialen Berichterstattung über sexuelle Gewalt in Institutionen wird Herr Adam von Freunden befragt. Sie ziehen, genau wie er selbst (s. o.), aufgrund der katholischen Trägerschaft der Einrichtung Parallelen zu den pädagogischen Organisationen, in denen Gewalttaten stattgefunden haben. Sie nehmen die parallelen Merkmale der Organisationen als Anlass, einen Verdacht auszusprechen: „was treibt ihr da so?“. Mit diesem Einschluss der pädagogischen Fachkraft in das „ihr“ der Frage, wird er Teil der katholischen Organisationen, die sexuelle Gewalt an Kindern zulassen, bzw. verüben und damit Teil des Tätersystems sind. Herr Adam kommt in eine Position, in der er meint, sich verteidigen zu müssen. Wenn die Beschuldigung auch durch Freunde erfolgt, so ist sie doch zumindest zum Teil bzw. „halb“ ernst zu nehmen. Im zweiten Teil der Sequenz verallgemeinert Herr Adam die Unterstellung seiner Freunde auf die Gesellschaft. Die Freunde sind in dieser Logik Repräsentant*innen des gesellschaftlichen Diskurses. Die mediale „berichterstattung“ führt dazu, dass „alle mitarbeiter“ unter Generalverdacht gestellt werden, „ihre schützlinge [zu] missbrauchen“.

Die Art und Weise des Sprechens, das heftige Atmen, die wörtliche Rede und die Betonungen zeigen eine deutliche Emotionalität des Sprechers. Die Metapher des „hoch gekocht“ -Seins (vgl. auch Team 1) verweist auf einen Überschuss an Energie, die unproduktiv wird und durch das Überkochen, um im Bild zu bleiben, auch Verbrennungen, also dauerhafte schmerzhafte Schädigungen verursachen kann. Diese Übersensibilisierung sieht die Fachkraft als Auslöser dafür, dass seine Freunde ihn ansprechen. In dem metaphorischen „ätzend“ bestätigt sich, dass die Vorwürfe Herrn Adam schmerzhaft verletzt haben.

In der Sequenz wird deutlich, dass eine mediale Aufmerksamkeit prinzipiell durch die Fachkraft begrüßt wird, Misstrauen gegen sie persönlich jedoch als ungerechtfertigt zurückgewiesen wird. Durch die mediale Thematisierung und die daraus resultierende herausfordernde Kritik von Freunden fühlt sich die pädagogische Fachkraft unter einen generalisierten Verdacht gestellt, der sie in ihrer Integrität beschädigt. Dieser gesellschaftliche Generalverdacht richtet sich hier vornehmlich gegen katholische Einrichtungen und ihre pädagogischen Fachkräfte.

Weitere Rekonstruktionen von Sequenzen zu gesellschaftlicher Sensibilisierung bestätigen, dass durch die gesteigerte Aufmerksamkeit generalisierte Verdächtigungen entstehen. Der Generalverdacht wird noch weiter auf männliche Fachkräfte zugespitzt. Deutlich wird dies bspw. in folgender Sequenz von Team 1, anschließend an einen Bericht über eine mediale Schilderung eines Falles sexueller Gewalt (vgl. 4.1.1):

figure e

Die Berichterstattung über die sexuelle Gewalt durch einen Pädagogen führt in diesem Bericht ausgehend von einer Generalisierung vom ‚Mann als Täter im Einzelfall‘ hin zu einem Verdacht gegenüber allen männlichen Pädagogen. Der Verdacht kommt schon im Vorfeld auf, ohne dass es Indizien gibt. Diese indizienlose Verdächtigung wird von den pädagogischen Fachkräften als „absurd“ qualifiziert.

Die bislang angeführten Rekonstruktionen hinsichtlich der öffentlichen Sensibilisierung werfen einen kritischen Blick auf die mediale Berichterstattung und sehen in ihr mindestens auch eine destruktive Übertreibung, die in einen gesellschaftlichen Generalverdacht mündet. Dabei wird in den Orientierungen deutlich, dass nicht die Sensibilisierung kritisch betrachtet wird, sondern der generalisierte Verdacht, welcher durch die mediale Thematisierung hervorgebracht wird.

Die Berichterstattung der Medien als Sensibilisierung zu kategorisieren, zeigt ihre Wirkmächtigkeit. Was durch die mediale Berichterstattung für die Einzelnen, die Organisation und die Gesellschaft präsent wird – man könnte auch sagen: enttabuisiert – ist die Tatsache, dass sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen stattgefunden hat und immer noch stattfinden kann. Auch wenn dieses Phänomen prinzipiell als bekannt vorausgesetzt werden könnte, führt erst die mediale Berichterstattung und deren Rezeption durch die Öffentlichkeit dazu, dass es als soziales Problem erkannt und bearbeitet wird. Als Fazit kann festgehalten werden, dass die pädagogischen Fachkräfte den gesellschaftlichen Diskurs in der oben benannten Dualität erleben: Einerseits als notwendigen Schritt zur Aufarbeitung, andererseits als Auslöser für einen Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte.