Heinz Funke war fünf, als er die Schuhe seiner Mutter mit einer Schere zerstörte. Er ritzte die Schnallen an und behauptete, der Hund habe sie zerkaut. Heute ist Heinz Funke 53. Er ist Fachkraft für Lagerlogistik, ist aber arbeitsunfähig. Er sieht einen Zusammenhang zwischen seiner jetzigen Verfassung und der Sache mit den Schuhen: Funke konnte simple Alltagsgeräusche bereits in der Kindheit nicht ertragen, z. B. die klackernden Schuhabsätze seiner Mutter; außerdem explizit Kaugeräusche, sodass z. B. das Essen in Anwesenheit anderer nicht möglich war (und bis heute nicht ist). Heinz Funke leidet unter Misophonie, was er aber erst seit einigen Jahren weiß. Vorher dachte er immer, er sei „nicht richtig im Kopf“ [28].

Geräuschüberempfindlichkeit

Prinzipiell lassen bestimmte Geräusche jeden zusammenzucken; man denke z. B. an das schrille Kratzen der Kreide an der Tafel oder die penetrant quietschenden Bremsen des einfahrenden Zuges in den Bahnhof. Geräusche, die durch ihre Intensität förmlich zu Schmerzen, Gänsehaut und zusammengezogener Nackenmuskulatur führen können. Doch wann ist diese Wahrnehmung pathologisch?

Unter dem Begriff der Geräusch(über)empfindlichkeit können nosologisch differente Phänomene subsumiert werden, die alle dadurch gekennzeichnet sind, dass die Betroffenen auf normale Umgebungsgeräusche mit hohem subjektivem Leiden und oft mit Vermeidungsverhalten reagieren. International wird die Geräuschüberempfindlichkeit als „hyperacusis“ oder „decreased sound tolerance“ im Sinne eines Sammelbegriffs verwendet [25]. Schaaf et al. geben eine gute Übersicht zu diesen Geräuschüberempfindlichkeiten [53]. Hierzu gehören:

  1. 1.

    die Hyperakusis

  2. 2.

    die Phonophobie

  3. 3.

    die Misophonie

Hyperakusis

Der Begriff „hyper“ (griechisch, über), akusis („akuo“: ich höre) beschreibt eine negativ bewertete, subjektive Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen normaler Lautstärke (unterhalb 70–80 dB HL) über das gesamte Frequenzspektrum menschlicher Hörwahrnehmung und führt unmittelbar zu einer psychischen Reaktion wie motorische Unruhe, Konzentrationsschwankungen, Angst, Panik und Frustration. Körperliche Symptome sind physiologische Schreckreaktionen wie Zu- oder Abnahme des Blutdrucks, Brady- oder Tachykardie, verstärkte Schweißsekretion, Mundtrockenheit, im Ohrbereich lokalisierte Schmerzempfindung, Zunahme des Muskeltonus insbesondere im Schulter-Nacken-Bereich und Abwendung von der Geräuschquelle (Kopf, Körper). Ein eventuell vorbestehender Tinnitus kann für mehrere Stunden bis Tage verstärkt sein.

Die Hyperakusis ist eine Abneigung gegen „alle“ lauten Geräusche, die von Nichtbetroffenen als unbedeutend wahrgenommen werden (z. B. Staubsauger, Telefonklingeln, Waschmaschinenschleudergang). Sämtliche Geräusche des Alltags, können beim Betroffenen die genannten Symptome auslösen [53].

Phonophobie

Phonophobie (griechisch „phōnē“: Sound, Stimme, und „phobos“: Scheu, Furcht, Angst, zu altgriech. „phobeisthai“: fürchten, scheuen).

Bei der Phonophobie handelt es sich – anders als bei der Misophonie – nicht um eine Abneigung definierter Geräusche, sondern um eine allgemeine Angst/Abneigung vor Geräuschen [52].

Phonophobie-Betroffene haben meistens konstant Angst vor möglichen lauten Geräuschen und auch bereits vor dem möglichen Eintreten eines akustischen Phänomens. Der Knall oder die laute Musik müssen also aktuell gar nicht vorhanden sein, um Angst auszulösen.

Misophonie

Die Misophonie (griechisch „miso“: Hass oder Abneigung, „phōnē“: Sound, Stimme, englisch „hatred of sounds“), der dieser Beitrag gewidmet ist und im nachfolgenden Kapitel weiter erörtert wird, ist eine selektive Geräuschempfindlichkeit. Unmittelbar nach Wahrnehmung von sog. Triggergeräuschen reagieren die Betroffenen reflexartig z. B. mit Wut, Irritation, Aggression u. a. Es findet sich keine eindeutige physikalische Eigenschaft des Stimulus’ [33]. Stattdessen scheinen die Bedeutung, der soziale Kontext oder die Interpretation des Auslösers die Reaktion auf diese Geräusche zu beeinflussen [6, 54, 63]. Die aversiv erlebten Geräusche werden bereits bei geringer Lautheit als überlaut, störend und bedrohlich empfunden, andere Geräusche mit vergleichbarem Frequenzspektrum verursachen keine Symptome. [33, 53, 65].

Misophonietrigger

Die Auslöser („Trigger“) einer misophonen Reaktion sind meistens „menschliche Körpergeräusche“, vorrangig Essgeräusche wie schlucken/schmatzen/schlürfen/kauen sowie Atemgeräusche/schniefen ([5, 29, 31, 46]; Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

„Geht das auch`n bissl leiser“ (Cartoon: ©Christian BOB Born, Freiburg, mit freundl. Genehmigung)

Auch Alltagsgeräusche können Triggergeräusche sein, die von Menschen, aber nicht direkt vom menschlichen Körper erzeugt werden, wie z. B. Klicken mit dem Kugelschreiberknopf, mit Papier rascheln, Geräusche von Schuhabsätzen, außerdem Geräusche, die von (Haus‑)Tieren [12, 46] produziert werden, sowie Maschinengeräusche u. Ä. (z. B. Toilettenspülung) [46]. Eine Triggerauslösung kann auch bestehen, wenn diese Trigger z. B. im Fernsehen wahrgenommen werden [19].

Neben akustischen Triggern können – seltener – auch visuelle Trigger Auslöser sein wie z. B. das Schlenkern des übergeschlagenen Beins beim Sitzen, der Anblick der Lippenbewegung beim Essen [19, 35, 54], auch wenn das Essensgeräusch durch z. B. größere Entfernung nicht gehört werden kann [11, 29, 65]. Die Symptomatik fängt meist mit einem bestimmten Triggergeräusch an und kann sich längerfristig auf weitere Geräusche ausweiten, nach Rouw et al. bei über 70 % der Betroffenen [37, 50].

Nachfolgende Tab. 1, modifiziert nach Jager [29], zeigt die wichtigsten Triggerauslöser und ihre prozentuale Verteilung.

Tab. 1 Prozentuale Häufigkeit von Triggerauslösern nach Jager et al. 2020 [29, 69]

Misophoniereaktion

Die Misophoniereaktion ist individuell unterschiedlich. Sie steht meistens in einem grotesken Missverhältnis zu dem wahrgenommenen Geräusch, auch weil die Geräuschintensität eine deutlich untergeordnete Rolle spielt und es sich um „von klein auf“ gewohnte Geräusche handelt, die man ja auch selbst produziert (wie z. B. Kaugeräusche).

Die Misophoniker verspüren bei Wahrnehmung „ihrer“ Triggergeräusche objektivierbare Veränderungen wie Herzfrequenzerhöhung, Schweißausbrüche, Blutdruckerhöhungen und Atemnot [19]. Die emotionale Reaktion zeigt sich einschießend häufig durch Aversion, Irritation, Aggression (auch Wut), überstürztes Weglaufen (z. B. vom Esstisch), Ekel und andere, ausschließlich negativ-emotionale Assoziationen [5, 12, 13, 19, 29, 41, 54, 65]. Auch Schlagen des „Verursachers“ (11,9 %), verbale Aggression (28,6 %) oder Attacken gegen Gegenstände in der Umgebung (16,7 %) wurden beschrieben [54]. Emotional-gedankliche Reaktionen auf den Triggerverursacher beschreiben u. a. „Ich hasse diese Person“, „warum tut er/sie mir dies an“, „die Person sollte aufmerksamer sein, was sie anderen antut“ [19]. Soziale Konflikte wie z. B. in der Konstellation Eltern – Kind oder in einer Partnerschaft sind vorprogrammiert: Triggerinduzierte Reaktionen sind häufig ausgeprägter, wenn der Trigger von Angehörigen und engen Vertrauten „produziert“ wird [19]. Trotzdem erkennen Misophoniker, dass ihre Reaktion unbegründet und der Verlust der Selbstkontrolle inakzeptabel war [54]. Teilweise werden Bewältigungsstrategien entwickelt bzw. Veränderungen im Alltag von Misophonikern vorgenommen, die den Umgang mit den Triggerreaktionen erleichtern [67].

In vielen Fällen vermeiden Misophoniker Situationen, die das Auftreten des misophonen Reizes wahrscheinlich machen (z. B. nicht zusammen essen). 7 % der Misophoniker vermeiden es außerdem, den/die Trigger selbst zu produzieren [19].

Das Ausmaß der Triggerreaktion ist auch abhängig von der Möglichkeit, sich zurückzuziehen (öffentlicher Platz versus Autoinsasse) [19]. Betroffene zeigen oft ein Vermeidungsverhalten mit Einschränkung des Bewegungsradius, brechen soziale Kontakte ab [13, 19], verlassen im Extremfall kaum noch den eigenen Wohnbereich, fahren nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, brechen Ausbildungen oder das Studium ab und sind nicht oder nur sehr begrenzt arbeitsfähig [28, 53], Kinder mit Misophonie können nicht mehr in der Lage sein, mit der Familie zu essen [19, 28] oder zur Schule zu gehen [9]. Vereinzelt bestehen suizidale Gedanken [19]. Ist die Triggervermeidung nicht möglich, oder ein Triggergeräusch kommt unerwartet, ergibt sich entweder „Flucht oder Konfrontation“. Der Begriff „fight-or-flight response“ (deutsch: „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“) umschreibt dieses Phänomen. Der US-amerikanische Physiologe Walter Cannon (1871–1945) prägte diesen Begriff, der neurobiologische Abläufe bei Tieren auf Bedrohung beschreibt. Ausgangsbasis waren Auswirkungen von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Soldaten im/nach dem Ersten Weltkrieg [8]. Die Cannon-Bard-Theorie, die er mit seinem Schüler Philip Bard entwickelte, beschreibt, dass ein Emotionsreiz zwei gleichzeitig ablaufende Reaktionen induziert: die physiologisch induzierte und die Emotionswahrnehmung. Keine der beiden Reaktionen bedingt die andere.

Substanzen wie Alkohol führen möglicherweise zu einer Verminderung der Triggerreaktion, Koffein vermutlich zu einer erhöhten Reaktion [50].

Schaut man in die internationale Literatur, zeigt sich eine Imbalance zwischen popularmedialen Interneteinträgen und der wissenschaftlichen Literatur, hier exemplarisch bei „PubMed“ mit dem Stichwort „misophonia“ 65 Einträge, unter den Stichworten „misophonia“ und „german“ 0 Einträge (Zugriff 16.04.2020), wenn auch kurz nach dem Zugriff 2020 neue Arbeiten veröffentlicht wurden [12, 13, 29, 62]. In den gängigen Suchmaschinen wie „Google“ stößt man bei dem Stichwort „misophonia“ auf 554.000 Einträge, unter dem Stichwort „Misophonie“ auf 45.100 Einträge (Zugriff 16.04.2020). Vor allem Misophonie-Foren sind möglicherweise deshalb so präsent, weil der Austausch von Betroffenen immer dann auch eine große Rolle spielt, wenn die wissenschaftliche und medizinische Auseinandersetzung und Therapie zu diesem Thema eher rar ist.

Wissenschaftlich zeigte sich seit 2013 ein größeres Interesse [50]. Überwiegend wurden Einzelfallbeschreibungen oder kleinere Fallstudien publiziert [4, 6, 14, 22, 35, 37, 47, 66, 5], eine umfassende Übersicht gab Taylor 2017 [65]. Jager veröffentlichte die bisher größte Studie mit 575 Teilnehmern [29].

Historie

In den 1990er-Jahren beschrieb die Audiologin Marsha Johnson erstmals das „selective sound sensitivity syndrome“ [63, 12, 36] oder „soft sound sensitivity“ [4].

Die Neurowissenschaftler Pavel und Margret Jastreboff verwendeten Anfang der 2000er-Jahre für den „Hass auf Geräusche“ („hatred of sounds“) den Begriff „Misophonie“ [31]. Bereits in den 1990er-Jahren, entwickelten sie ein audiologisch-neurologisches Modell der Tinnitusentstehung als komplexes Geschehen einer Phantomperzeption, das auch für die Misophoniewahrnehmung konzeptionell beschrieben wurde [30, 46]. Eine Koexistenz der Misophonie und der Hyperakusis als allgemeine Geräuschüberempfindlichkeit wurde frühzeitig postuliert [21, 26, 33, 34]. Schröder et al. prägten 2013 erstmals Definitionskriterien aufgrund einer eigenen Studie [54], die von Dozier 2017 erweitert wurden [17, 63]. Diese Kriterien sind nicht unbestritten, weil u. a. das Kriterium „Zorn“ nicht immer zuträfe und dies in der Diagnose der Misophonie berücksichtigt werden müsste [41]. Sowohl der Begriff „selektive Geräuschempfindlichkeit“ als auch „Misophonie“ sind in der Literatur präsent [63], Letzterer ist jedoch gebräuchlicher geworden [61].

Die Misophonie ist bisher als Krankheit nicht definiert und keinem offiziellen Diagnosesystem zugeordnet, weder dem diagnostischen und statistischen Handbuch für psychische Störungen, 5. Auflage (DSM-V) noch der Internationalen Klassifikation von Krankheiten, 11. Auflage (ICD-11) [1, 12, 29].

Häufigkeit, Symptombeginn, Geschlechtsverteilung

Über die Inzidenz und Prävalenz kann bisher nur spekuliert werden [56]. Einige Forscher vermuten ein „relativ häufiges“ Auftreten [10, 65]. Im Hinblick auf die Koexistenz verschiedener Hörpathologien bei Misophonie beziehen sich die Schätzungen häufig auf das Konstrukt Geräuschüberempfindlichkeit und/oder Tinnitus. Fast 20 % von 483 amerikanischen Psychologiestudierenden [67] und 6 % von 415 chinesischen College-Studierenden [68] gaben an, unter klinisch signifikanten misophonen Symptomen zu leiden, andere Schätzungen postulierten 3 % in der Allgemeinbevölkerung [42].

Misophone Reaktionen treten oft erstmals in der späten Grundschulzeit [19] oder frühen Pubertät auf [67]. Verschiedene Studien gaben im Mittel 12 Jahre an [20, 39], aber auch über die Symptomatik bei einem Fünfjährigen wurde berichtet [28, 39] sowie in Interviews „so lange, wie ich schon denken kann“ [19]. Schröder beschrieb 2013 eine große Bandbreite der Erstmanifestation von 2–38 Jahren [54]. Neuere Veröffentlichungen postulieren die Erstmanifestation um das 14. Lebensjahr [29]. Möglicherweise ist die Gefahr für eine Misophonie einerseits durch sensible/vulnerable Phasen der Gehirnentwicklung, andererseits durch bereits bestehende Erfahrung/Bewertung, Lernen und Prägung zu Anfang der hormonellen Veränderung in der Pubertät am höchsten.

Auffällig ist der deutlich spätere Diagnosezeitpunkt (überwiegend im Erwachsenenalter), der von Schröder mit 19–62 Jahren beziffert wurde [54]. Die Symptomatik fängt meist mit einem bestimmten Triggergeräusch an und kann sich längerfristig auf weitere Geräusche ausweiten [50, 58].

Frauen sind vermutlich häufiger betroffen. Cavanna berichtete zwar von einem balancierten Verhältnis von Frauen zu Männern (55/45 %) [10, 65], aber andere von einem 2:1-Verhältnis [13, 19] bis 3:1 [29, 56]. Wu et al. beschrieben einen Anteil von über 83 % von Frauen [67].

Ursachen

Die Misophonie wird im Kontext audiologischer, psychiatrischer, kognitiv-verhaltensspezifischer und neurologischer Ursachen eingeschätzt. Inwiefern sie als eigenständige Krankheit oder als Kosymptom anderer Krankheiten zu bewerten ist, ist bisher ungeklärt [5].

Genetische Faktoren als additive Ursache könnten prinzipiell möglich sein. Eine Analyse mit 15 Familienmitgliedern und Misophonie beschrieb eine mögliche autosomal-dominante Vererbung [51]. Danesh und Aazh berichteten über die Häufung von Chromosom-5q34-Veränderungen bei Misophoniepatienten, die eine genetische Analyse mit kommerziell erhältlichen Chromosomen-Kits durchführen ließen [12].

Verschiedene Studien beschrieben Komorbiditäten zu Tinnitus/Hyperakusis [31], Migräne [64], Störungen aus dem autistischen Formenkreis [3, 24], posttraumatischen Störungen [2], Borderline-Störungen [49], bipolaren Störungen/Schizophrenien [7, 22], Angst- und Zwangsstörungen [22], Essstörungen [37], Depressionen und Aufmerksamkeitsdefizitsyndromen [23, 29]. Einzelfallkasuistiken berichteten von einem Kind mit Tourette-Syndrom [66], Zwangsstörung und Misophonie [27]. Zhou et al. befragten 415 chinesische College-Studenten: Assoziationen bestanden mit sensorischer Empfindlichkeit, Zwangsstörungen, Angstzuständen und depressiven Symptomen [68]. Taylor postulierte die Misophonie zusammenfassend als psychiatrisches Syndrom [65], das von jüngeren Veröffentlichungen gestützt wird [29] und vermutlich mit einer verminderten kognitiven Kontrolle assoziiert ist [13]. Es gilt aber als wahrscheinlich, dass das Störungsbild nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen ist.

Neuronale Korrelate

Nach Jastreboff [33] gibt es Symptomgemeinsamkeiten von Misophonie und Tinnitus durch eine abnormale neuronale Aktivität mit nachfolgend negativ-assoziierter Bewertung des Organismus. In subkortikalen Prozessen ist die Abschwächung oder Verstärkung eines Reizes davon abhängig, ob das betreffende Signal zu diesem Zeitpunkt von Bedeutung ist. So ergeben sich prägende neuronale Lernprozesse und Interaktionen, die auch von Stimmungslage, persönlicher Betroffenheit u. a. abhängig sind. Ein bisher irrelevantes akustisches Signal kann jederzeit plötzlich die Bedeutung eines wichtigen Signals bekommen und als Mustererkennung über das limbische System eine emotionale Bewertung erhalten. Edelstein postulierte, dass ein zugrunde liegender Mechanismus für eine neurobiologische Reaktion Ähnlichkeiten mit synästhetischen Wahrnehmungen hat, eine sensorische Wahrnehmung („inducer“) die Aktivierung verschiedener neurologischer Systeme gleichzeitig konkurrierend initiiert [19, 5]. Kritisch ist anzumerken, dass eine Synästhesiewahrnehmung überwiegend stabil bleibt, was klinisch für die Misophonie oftmals nicht zutrifft [5].

Eine EEG-Studie 2014 zeigte eine geringere N1-Aktivität hinsichtlich ereigniskorrelierter Potenziale bei Misophoniebetroffenen, das möglicherweise auf ein neurobiologisches Defizit in der auditiven Verarbeitung hinweist. Unklar blieb, ob dieses Defizit allgemein bei psychiatrischen Patienten auftritt oder nur speziell bei Misophoniebetroffenen, außerdem, ob das Defizit auch auf Dysfunktion der kortikalen Kontrolle zurückzuführen ist [55]. Kumar et al. postulierten 2017 aufgrund von funktionellen Magnetresonanztomografie-Daten (fMRT) eine erhöhte neuronale Vernetzung im ventromedialen Präfrontalkortex und die Aktivierung des anterioren insulären Kortex. Der Präfrontalkortex ist an der Verarbeitung sensorischer Informationen beteiligt und beeinflusst die Funktion anderer Gehirnbereiche (z. B. Areale Gedächtnisverarbeitung und -speicherung; Amygdala für emotionale Konditionierung, Verarbeitung für Kampf-Flucht-Reaktion sensorischer Stimuli). Der insuläre Kortex ist vor allem an der Bewertung/Verarbeitung sensorischer Informationen und Emotionen beteiligt [40]. Andere fMRT-Studien fanden Korrelationen zwischen Misophonie und perfektionistischem bzw. zwanghaftem Verhalten [20].

Diagnostik

Die Diagnose ist eine klinische Diagnose, die aufgrund der Anamnese und der Erhebung der Symptomatik gestellt wird. Hilfsmittel sind Checklisten, Fragebogenverfahren und Interviews. HNO-ärztlich sind begleitend HNO-Untersuchung, objektive und subjektive audiologische Diagnostik zu möglichen Kofaktoren der Hörpathologie wie periphere Höreinschränkungen, Tinnitus, auditorische Neuropathien sowie Beurteilung der Unbehaglichkeitsschwelle und Lautheitsskalierung, psychoakustische Tests unter Störschallbedingungen sinnvoll. Überschwellige Tests, Stapediusreflexdiagnostik sind bezüglich ihrer tonalen Lautstärke nicht ratsam.

Schröder et al. definierten 2013 [54] die Misophonie anhand von 6 Punkten, die von Dozier 2017 modifiziert wurden. Beide Kriterien-Sets basieren auf Forschungsergebnissen und Fallstudien von Menschen mit Misophonie, wurden bisher aber nur begrenzt empirisch verifiziert [63]. Nachfolgend zeigt Tab. 2 die Kriterien von Schröder, modifiziert von Dozier [17]:

Tab. 2 Kriterien für Misophonie. (Mod. nach Dozier 2017, [17])

Fragebogeninventare geben hilfreiche Aussagen bezüglich Vorhandensein/Ausprägung. Alle beschriebenen sind in englischer Sprache und wurden von Seebeck in das Deutsche übersetzt [58]. Eine Validierung auch in der englischen Fassung besteht nicht.

  1. 1.

    Misophonie-Selbstbewertungsfragebogen (Misophonia Assessment Questionnaire, MAQ): Von M. Johnson entwickelt, modifiziert von Dozier [18, 62], 21 Fragen, Punktescore 0–3/Frage, Summenscore zur Beurteilung nicht/kaum bis sehr deutlich ausgeprägt [45].

  2. 2.

    Misophonie-Fragebogen (Misophonia Questionnaire, MQ): Im englischsprachigen Sprachraum verbreitet, Kombination aus Symptombeurteilung/Emotion/Verhalten, 17 Items [67].

  3. 3.

    Misophonie Aktivierungsskala (Misophonia Activation Scale, MAS‑1): Von Fitzmaurice auf der Internetplattform misophonia-uk.org publiziert [s. auch in 62], Stufe 0–10, Einordnung der eigenen Reaktionsschwere auf Trigger.

  4. 4.

    Amsterdam Misophonieskala (Amsterdam-Misophonia-Scale, A‑MISO-S) [54], Adaption Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS) für Zwangsstörungen. Beurteilung der Misophoniebeeinflussung zeitlich, Beeinflussung von Lebensqualität und Arbeitsleistung. Häufig verwendet, ökonomisch rasch durchführbar. Nachfolgend exemplarisch dargestellt in Tab. 3.

Tab. 3 Fragebogen A‑MISO‑S [53]

Da ein psychiatrisches Syndrom Basis oder Kofaktor bei der Misophonie sein kann, ist eine entsprechende psychiatrisch-fachärztliche Begutachtung wichtig, auch zur Frage einer möglichen Therapieplanung (z. B. Verhaltenstherapie, medikamentöse Unterstützung bei Angststörung, Depression u. a.).

Bewältigungsstrategien

Als Bewältigungsstrategien sind das Vermeiden von oder Sichentfernen aus Triggersituationen, das Nachahmen von Auslösegeräuschen zum „Aufheben“ oder „Gegensteuern“, das Verwenden von Ohrstöpseln, Kopfhörern oder Hören von Musik, Ablenken, Rezitieren, positiver interner Dialog zur Beruhigung, andere aufzufordern, keine Geräusche mehr zu machen, sowie gewissenhaft mit den eigenen Geräuschen umzugehen, bekannt [44, 55, 63].

Seebeck und Dozier 2019 führten Bewältigungsstrategien an, die zwar nicht misophone Reflexe ändern, aber deren Auswirkung reduzieren können: Offen über Misophonie reden, eine triggerfreie Oase schaffen (einschließlich Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung sowie Rausch-App, um Trigger zu blockieren), auf Wohlbefinden achten wegen dann geringerer Beeinträchtigung durch Trigger, Bewältigungspläne für die ganze Familie erstellen [59].

Therapie

Eine standardisierte Therapie der Misophonie ist bisher nicht bekannt. Die Therapie beginnt mit der Benennung der Misophonie, was für die Betroffenen ein erster Schritt in der Bewältigung darstellen kann. Allgemein fußt die Therapie multimodal auf Aufklärung von möglichen Zusammenhängen, Informationen zu dieser besonderen Geräuschüberempfindlichkeit und mögliche Bewältigungsstrategien/Alltagsmodifizierungen, auch zu möglichem Berufswechsel und über die psychiatrische/psychologische Expertise.

Eine medikamentöse Therapie gibt es aktuell nicht, jedoch könnte bei komorbider psychischer Störung deren medikamentöse Behandlung auch die Misophoniereaktion reduzieren. Angst kann signifikanter Mediator bzgl. der Beziehung zwischen Misophonie und Wutausbrüchen sein [67, 68]. Da selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) auch Angst vermindern können, stellen sie möglicherweise eine Therapieoption bzgl. aggressiver Impulse bei Misophonie dar. Seebeck berichtete im Jahr 2016, dass sein Sohn mit 18 Jahren in eine Depression gerutscht sei, die mit Citalopram behandelt worden sei, das die Empfindlichkeit Geräuschen gegenüber etwas zu verbessern schien [57]. 2019 äußerte Seebecks Sohn „Seit ich Medikamente dagegen nehme, ist wenigstens die extreme Wut weg.“ [63].

Technisch-elektronische Hilfsmittel zur Dämpfung der Triggerlautstärke sind Kopfhörer, zur Maskierung (z. B. Musik hören über Kopfhörer oder im Raum, z. B. „Zimmerbrunnen“) sowie professionelle Tinnitusmasker mit individuell angepassten Otoplastiken im Sinne von „Noisern“ [53]. Tinnitusmasker („Noiser“) generieren entweder Umgebungs- oder individuell maßgeschneiderte Geräusche. Trotz der häufigen Verwendung dieser technischen Maskierungsverfahren liegen nur begrenzt Daten aus kontrollierten Studien vor [38].

Neuromodulatorische Therapieansätze

Bisher publizierte oder von Einzelpersonen entwickelte Verfahren umfassen häufig in Kombination Verhaltenstherapien [4, 43, 48, 56, 1], die Gegenkonditionierung [15] und audiologisch-technische Verfahren. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT, CBT, „cognitive behavioral therapy“) [4, 15, 26, 43, 48] ist das Ziel das Sich-bewusst-Machen maladaptiver Muster [38], Überprüfung von Schlussfolgerungen auf ihre Angemessenheit, Korrektur von irrationalen Einstellungen und Transfer korrigierter Einstellungen ins konkrete Verhalten. Basis für diese Behandlung ist die reduzierte kognitive Kontrolle bei Misophonikern während der Exposition zu Triggergeräuschen [13, 50]. Ist die Kognition inadäquat (z. B. durch Wahrnehmungsselektion und -bewertung), ist auch die Möglichkeit beeinträchtigt, Affekt und Verhalten zu korrigieren [16, 56].

Die von Jastreboff ursprünglich entwickelte Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) zur Tinnitusbehandlung [30, 32, 33], findet auch bei der Misophoniebehandlung Anwendung. Sie ist eine Kombination von Counseling (Information/Unterrichtung zur Hörpathologie) und auditorischer Stimulation durch Masker bzw. Hörgeräte. Die Tinnitus-Bewältigungstherapie (TBT) stellt eine Modifikation der Tinnitus-Retraining-Therapie dar. Sie stützt sich vorrangig auf kognitiv-behaviorale Interventionen: Edukation, Vermittlung von Aufmerksamkeitslenkungsstrategien, kognitive Umstrukturierung, Vermittlung allgemeiner Stress- und Tinnitusbewältigungsstrategien, Abbau von Vermeidungsverhalten und Entspannungsmethoden. Einige Studien belegen positive Effekte der Methoden [38]. Es fehlen qualitativ hochwertige kontrollierte Studien.

Seebeck und Dozier führen weitere Behandlungsmöglichkeiten auf: Die Neural-Repatterning-Technique (NRT, Gegenkonditionierung des misophonen Reflexes durch minimale Darbietung des Triggers, entscheidender Muskelreflex wird unterdrückt, misophone Rektion bleibt aus), Sequent-Repatterning-Hypnotherapie (SRT; Unterstützung emotionale Kontrolle trotz körperlicher Reaktion auf Trigger), Trauma Buster Technique (TBT, Reduktion Triggerreaktion durch gezielte Triggergeräuschverfremdung und Klopfakupressur), Trauma and Tension Releasing Exercises (TRE, Muskelreflexreduktion bei Trigger) [60].

Sämtliche dieser neuromodulatorischen Ansätze sind trotz vielversprechender Erfahrungsberichte derzeit als experimentell zu betrachten. Weitere Verfahren sollen die aktive Entspannung fördern wie z. B. die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Yoga und Meditation, auch Hypnose kann wirksam sein.

Eine Übersicht über technische Hilfsmittel wie Rauschgeneratoren, Kopfhörer, Apps u. a.:

Hilfreiche Adressen:

Fazit für die Praxis

  • Kinder, ihre Eltern und Erwachsene mit Misophonie wissen oftmals nicht, wie ihr Geräuschempfinden benannt werden kann: denn wer erklärt, er platze vor Wut, wenn die Partner/die Eltern beim Essen laut kauen/schlucken, erhält eher selten eine Diagnose, sondern eher ein ungläubiges Staunen oder Unverständnis.

  • Die HNO-ärztliche Vorstellung von Misophoniebetroffenen ist primär die Beurteilung einer Hörstörung, auch im Hinblick auf eine mögliche Hyperakusis/Phonophobie oder einen Tinnitus, in Einzelfällen auch der Ausschluss einer auditiven Verarbeitungs-/Wahrnehmungsstörung.

  • Die Ursachen sind letztendlich bis heute ungeklärt, die Diagnostik nicht standardisiert und eine (evidenzbasierte) Therapie zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Wichtiges Standbein ist aber die Initiierung auch einer psychiatrischen Beurteilung/Unterstützung sowie eine HNO-Beratung über mögliche Behandlungskonzepte. Eine Verbesserung mit „Auswachsen“ der Misophonie ist bei praktiziertem Nihilismus nicht zu erwarten.