Wohin geht die Reise?

Coverstory
Ausgabe
2022/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21023
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(37):12-15

Publiziert am 13.09.2022

50 Jahre SGIDie Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) feiert Jubiläum – und blickt auf ihre bewegte Historie. Der eingeschlagene Weg baut auf eine enge Verzahnung zwischen Intensivmedizin und -pflege. Im Interview erklären die Co-Präsidentinnen den Nutzen interprofessioneller Zusammenarbeit und geben einen Ausblick in die Zukunft.
Die Arbeit auf der Intensivstation hat sich seit ihren Anfängen in den 1960er Jahren stark verändert.
© P.C. Baumann
Franziska von Arx, Sie sind Co-Leiterin des Pflegediensts am Kinderspital Zürich und Antje Heise, Sie sind Leitende Ärztin am Spital Thun. Gemeinsam präsidieren Sie die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin. Wie funktioniert dieses interprofessionelle Präsidium?
Antje Heise: Zurzeit ist Franziska unsere Geschäftsführerin und Präsidentin. Doch eigentlich ist es ein Co-Präsidium mit je einer Vertretung aus der Pflege und aus der Ärzteschaft. Diese haben abwechselnd für zwei Jahre die Geschäftsführung inne. An der Jubiläumstagung werde ich das Präsidium übernehmen.
Franziska von Arx: Antje und ich sind ein extrem gutes Duo. Wir kennen und verstehen uns sehr gut und tauschen uns regelmässig aus. Das ist unsere Grundlage, die uns hilft und im Präsidium sehr bereichert. Natürlich gibt es auch Aufgaben wie beispielsweise die Weiterbildung, die speziell pflegerisch oder ärztlich ausgerichtet sind, um die sich dann das entsprechende Präsidiumsmitglied kümmert. Doch auch dort kann es sehr wertvoll sein, den Rat der anderen Person einzuholen.
«Natürlich gibt es Aufgaben, die speziell pflegerisch oder ärztlich sind. Doch auch dort ist der Rat der anderen Person sehr wertvoll.»
Franziska von Arx
Intensivpflegefachfrau, Co-Präsidentin SGI
Die Fachgesellschaft und die Interessengemeinschaft Intensivpflege haben sich 2011 zusammengeschlossen. Wie kam es dazu?
Antje Heise: Letztlich war das eine logische Entwicklung. Denn ohne die Vorarbeit aus der Basis heraus wäre der Zusammenschluss nicht möglich gewesen. Es liegt im Wesen der Intensivmedizin, dass die beiden Berufsgruppen eng zusammenarbeiten. So kam die Frage auf: Warum nicht eine gemeinsame Fachgesellschaft? Dabei war wichtig, dass es eine Partnerschaft auf Augenhöhe wird.
Franziska von Arx: Es brauchte schon Durchhaltevermögen bei der Umsetzung. Auf beiden Seiten waren es einige wenige Personen, die gesagt haben, jetzt machen wir das. Eine gemeinsame Fachgesellschaft bedeutet: gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten. Das war für uns in der vormals sehr medizinisch orientierten Fachgesellschaft eine Herausforderung, der wir uns aber aufgrund der gemeinsamen Ausrichtung gerne gestellt haben. Wir bringen uns im Präsidium wie auch im Vorstand gleichermassen ein. Diese Rollen waren in der vorhergehenden Organisation selten. Das merke ich als Präsidentin der SGI: Diese Position hat einen anderen Stellenwert als der Vorsitz einer Interessengemeinschaft der Pflege. Letztlich wertet sie die pflegerische Profession auf.
Welche Vorteile sehen Sie in der interprofessionellen Ausrichtung der Fachgesellschaft?
Franziska von Arx: Sie ist sehr bereichernd, weil wir jeweils die andere Seite noch einmal besser kennenlernen. Ich verstehe die Anliegen und Stärken, aber auch die Probleme der Fachdisziplin viel besser, weil der Austausch enger ist. Gerade die Pandemie hat uns gezeigt: Es gibt Stärke, wenn man gemeinsam auftritt. Das hat uns sehr darin bestätigt, dass der interprofessionelle Weg, den wir gehen, der richtige ist. Und dass wir voneinander lernen und uns gegenseitig unterstützen können.
Antje Heise: Trotzdem musste die Ärzteschaft etwas zu ihrem Glück gezwungen werden. Wir sehen uns häufig noch als Einzelkämpfer. Letztlich tragen wir die Verantwortung, das macht es manchmal schwierig, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Deshalb braucht es viel Bereitschaft zu Veränderung. Es ist wichtig, dass wir alle die Stärken des jeweils anderen Bereichs sehen.
In dieser Woche findet die Jubiläumstagung unter dem Motto «50 Jahre SGI im Zeichen der Interprofessionalität und Interdisziplinarität» statt. Wieso haben Sie dieses Motto gewählt?
Franziska von Arx: Die Interprofessionalität ist wichtig, weil wir eine gemeinsame Fachgesellschaft sind. Das wollen wir im Rahmen des Jubiläums noch einmal klar zeigen. Wir sind miteinander unterwegs und das ist einzigartig. In der Schweiz sind wir die einzige Fachgesellschaft, die so funktioniert. Und zur Interdisziplinarität: Oft wird die Intensivmedizin als Querschnittsdisziplin bezeichnet, weil wir teilweise als Dienstleister für andere Fachdisziplinen arbeiten. Daneben sind wir eine eigenständige Disziplin mit einem extrem wichtigen Leistungsauftrag. Deshalb wollen wir die Jubiläumstagung gemeinsam mit unseren Partnern gestalten.
Die Intensivpflegefachfrau Franziska von Arx (52 Jahre) hat ihre Grundausbildung in Luzern gemacht mit Schwerpunkt Pädiatrie. Sie arbeitete auf der kinderchirurgischen Station des Inselspitals Bern, bevor sie 1996 auf die Intensivstation des Universitäts-Kinderspitals Zürich wechselte. Bei ihrer Arbeit schätzt sie die enge Teamarbeit und die Begleitung der Kinder und ihrer Familien während der Zeit ihrer kritischen Erkrankung. Seit 2020 ist sie Co-Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin.
Dr. med. Antje Heise (57 Jahre) ist Fachärztin für Intensivmedizin und für Allgemeine Innere Medizin und arbeitet seit 2004 auf der Intensivstation der Spital STS AG Thun. Wichtig sind für sie die umfassende Betreuung der Patientinnen und Patienten sowie ethische Fragen zu den Grenzen der Intensivmedizin. Sie ist seit 2020 Co-Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin.
Lange war es sogar so, dass der Facharzttitel Intensivmedizin nur als Zweittitel erworben werden konnte. Wie ist der Stand heute?
Antje Heise: Seit 2001 ist der Facharzttitel Intensivmedizin eigenständig. Trotzdem lohnt es sich, zunächst den Facharzttitel in beispielsweise Allgemeiner Innerer Medizin oder Anästhesiologie zu erwerben. Zum einen weil man als Intensivmedizinerin oder Intensivmediziner an die Infrastruktur eines Spitals gebunden ist. Ein weiterer Titel gibt ein zweites Standbein. Zum anderen bieten diese anderen Titel eine gute Grundlage für die Weiterbildung in Intensivmedizin. Deshalb beginnen die meisten Ärztinnen und Ärzte auch heute noch mit einer Weiterbildung in Allgemeiner Innerer Medizin, Chirurgie oder Anästhesiologie.
«Uns beschäftigt die Frage: Wohin entwickelt sich die Intensivlandschaft in der Schweiz?»
Antje Heise
Intensivmedizinerin, Co-Präsidentin SGI
Franziska von Arx: Das gleiche gilt für das Nachdiplomstudium Intensivpflege. Hier wird verlangt, dass man eine gewisse Berufserfahrung mitbringt. Man kann also nicht direkt in die Intensivpflege einsteigen. Wie viel Berufserfahrung es braucht, hängt von der bisherigen Tätigkeit ab. Wir empfehlen ein bis zwei Jahre.
Vor rund 40 Jahren entstanden in den Schweizer Spitälern erste Intensivstationen.
© P.C. Baumann
Gibt es in der Weiter- und Fortbildung auch interprofessionelle Angebote?
Antje Heise: Die ärztliche Weiterbildung zum Facharzttitel ist eigenständig ebenso wie das Nachdiplomstudium Intensivpflege. Einige Ausbildungsorte führen einzelne interprofessionelle Module in der Pflegeausbildung gemeinsam mit den Medizinstudierenden durch. Da ist uns die Pflege voraus. In der Facharztausbildung ist das noch nicht so. Etwas anders gestaltet es sich bei den Fortbildungen. Das sieht man bereits bei unserer Tagung mit interprofessionellen Themen, die gemeinsam von Ärztinnen und Ärzten und Pflegenden referiert und diskutiert werden.
Franziska von Arx: Wir haben das Problem, dass die Facharztweiterbildung nicht gleich lang geht wie das Nachdiplomstudium, und auch mit dem Medizinstudium ist die Koordination schwierig. Die Zusammenarbeit müsste über die Curricula geregelt sein, damit man beispielsweise Module zu ethisch-moralischen Dilemmata, zu transkultureller Kompetenz oder zu Gesprächsführung gemeinsam anbieten könnte. Wir könnten uns gut vorstellen, in der Zukunft gewisse Module selbst oder in Kooperation mit Fachhochschulen und Universitäten anzubieten. Aber das sind Ausblicke. In den nächsten drei Jahren haben wir noch zu viele andere brennende Themen.
Welche Themen sind das?
Antje Heise: Einer der Schwerpunkte in meiner Präsidentschaft wird die Frage sein: Wohin entwickelt sich die Intensivlandschaft in der Schweiz? Durch die Pandemie ist die Intensivmedizin in den Fokus gerückt. Über die 80 Intensivstationen und 800 Betten hat man genügend gelesen. Als Fachgesellschaft fragen wir uns: Wie klein darf eine Einheit sein, damit sie noch funktional ist? Wie gross sollte sie sein? Und auf der politischen Ebene geht es darum, wohin sich die Spitallandschaft in Zukunft entwickeln wird. Dabei sind wir auch von gesundheitspolitischen Entscheiden abhängig.
Franziska von Arx: Daneben sind unsere Mitglieder, also die Mitarbeitenden auf den Intensivstationen, ein zentrales Thema und Anliegen. Auch zu den Arbeitsbedingungen hört man seit der Pandemie viel. Sie müssen verbessert und die Mitarbeitenden gestärkt werden. Wir schauen, wo wir Einfluss nehmen können. Es muss klar sein, dass die Arbeit auf der Intensivstation eine fundierte Ausbildung und spezifische Expertise braucht. Nur mit einer qualitativ hochwertigen Weiterbildung kann eine gute Versorgung gewährleistet werden. Hinzu kommt, dass die Arbeit auf der Intensivstation emotional und physisch anstrengend ist. Dem muss Rechnung getragen werden.
«Die Pflege ist uns voraus bei der Integration von interprofessionellen Modulen in die Ausbildung.»
Antje Heise
Intensivmedizinerin, Co-Präsidentin SGI
Hilft hier die Pflegeinitiative?
Franziska von Arx: Ja sie hilft. Aber wenn man sieht, wie unterschiedlich sie von den Kantonen umgesetzt wird und wie viel Zeit für die Anpassungen benötigt wird, dann braucht es noch mehr. Alle Spitäler haben zurzeit Probleme mit der Finanzierung, weil durch die Pandemie die finanziellen Strukturen durchgerüttelt wurden. Hier müssen wir als Fachgesellschaft dranbleiben und Einfluss nehmen, wo wir können.
Sie haben es erwähnt: Während der Pandemie standen die Intensivstationen stark im Fokus. Wie hat sich dadurch der Stand der Intensivmedizin verändert?
Franziska von Arx: Wir haben in der Pandemie gemerkt, dass die Politik mehr hinhört. Die politischen Entscheidungsträger haben gelernt, dass sie die Kliniken, also die Leute an der Basis und in den Fachgesellschaften, anhören müssen. Nur so können umsetzbare Lösungen erarbeitet werden. Ich würde mir allerdings wünschen, dass dieser Austausch noch stärker wird.
Noch ein Wort zur Praxis: Die Fachgesellschaft lebt die interprofessionelle Zusammenarbeit auf Augenhöhe vor. Spiegelt sich das auch im Arbeitsalltag auf den Stationen?
Franziska von Arx: Das steht und fällt mit den Personen, die auf den Stationen arbeiten. Wir sind uns bewusst, dass es Stationen gibt, auf denen die Zusammenarbeit sehr gut läuft und andere, die noch nicht so weit sind wie wir in der Fachgesellschaft. Deshalb versuchen wir, in der Fachgesellschaft als Vorbilder zu wirken.
«Als Fachgesellschaft wollen wir als Vorbild für die interprofessionelle Zusammenarbeit wirken.»
Franziska von Arx
Intensivpflegefachfrau, Co-Präsidentin SGI
Antje Heise: Wir haben als Fachgesellschaft keinen direkten Einfluss auf unsere Intensivstationen. Die Interprofessionalität funktioniert schlussendlich nur durch das Vorleben. Und natürlich können auch Kündigungen neben der beruflichen Belastung ein Ausdruck von nicht gut funktionierenden Teams oder schlechter Zusammenarbeit sein. Gerade in der Pflege und zunehmend auch in der Ärzteschaft ist der Markt so ausgetrocknet, dass man sich solche Kündigungen nicht leisten kann. Deshalb braucht es eine gute Teamkultur auf den Stationen. Lippenbekenntnisse ziehen nicht.
Nun noch ein Blick in die Zukunft: Wie wird es mit dem Präsidium weitergehen?
Franziska von Arx: Die Nachfolgeplanung ist in fast allen Fachgesellschaften ein grosses Thema. Das Präsidium kommt einer 20%-Stelle gleich. Das machen wir ehrenamtlich zusätzlich zu unserem Job. Wenn man schaut, wohin sich die Generationen entwickeln, dann wird es je länger je schwieriger, Leute dazu zu bewegen, sich im Vorstand und in den Kommissionen aktiv zu beteiligen und sich einzubringen. Das beschäftigt uns nachhaltig. Denn wir brauchen Leute, die sich in dieser Zusatzaufgabe engagieren wollen.

Jubiläumstagung

Die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin feiert dieses Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Vom 14. bis 16. September findet ihre Jubiläumstagung in Basel statt. Lesen Sie auf Seite 37 über die Geschichte der Intensivmedizin und der Fachgesellschaft in der Schweiz.