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Publicly Available Published by De Gruyter November 11, 2022

Der Ukrainekrieg als Nagelprobe einer christlichen Friedenserziehung: Konzeptionelle Reflexionen und konkrete Handlungsperspektiven für den Religionsunterricht

  • Jan-Hendrik Herbst

    Wissenschaftlicher Mitarbeiter

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Zusammenfassung

Der Ukrainekrieg fordert grundlegende Annahmen christlicher Friedensethik und -erziehung heraus. Vor diesem Hintergrund legt der Artikel drei Erkenntnisse der Friedenspädagogik frei, hinter die heute nicht mehr zurückgefallen werden darf: Religionen besitzen eine ambivalente Rolle in politischen Konflikten; entwicklungsabhängig sind individuelle und strukturelle Aspekte von Krieg und Frieden zusammen zu denken; und eine ‚pazifistische Positionalität‘ ist heute im Religionsunterricht kontrovers zu diskutieren. An diese konzeptionellen Reflexionen anschließend werden konkrete Handlungsperspektiven für den Unterricht entfaltet und exemplarisch anhand von drei Großmethoden diskutiert: Friedensgebete, Planspiele und sozialpolitische Aktionen.

Abstract

The war in Ukraine challenges fundamental assumptions of Christian peace ethics and education for peace. Viewed in this context, this article gives three insights into peace education which should not be overlooked: religions have an ambivalent role in political conflicts; depending on learning development, individual and structural aspects of war and peace should be combined; and a ‘pacifist position’ should be a controversial topic in religious education today. Following on from these conceptual reflections, perspectives for teaching practice are developed and discussed using three major methods as examples: prayers for peace, simulation games, and socio-political initiatives.

Allenthalben wird davon gesprochen, dass der Ukrainekrieg eine christliche Friedensethik deutlich herausfordert.[1] Dies gilt auch für eine christliche Friedenspädagogik. Als Schulfach sollte sich der Religionsunterricht (RU) gesellschaftlichen und politischen Krisensituationen stellen, zu denen der russische Angriffskrieg zweifellos gehört. Dafür sprechen konzeptionelle Argumente, z. B. eine theologische Ausrichtung an den ‚Zeichen der Zeit‘ oder eine pädagogische Orientierung an epochaltypischen Schlüsselproblemen. Krieg und Frieden werden nicht zufällig als wesentliches Zeitzeichen im Zweiten Vatikanischen Konzil verstanden[2] und auch Wolfgang Klafki sieht dieses Inhaltsfeld als zentrales Schlüsselproblem an.[3] Ein religionspädagogischer Reflexionsbedarf ergibt sich darüber hinaus aus einem einfachen Sachverhalt: Die Schule ist Spiegel der öffentlichen Debatten, die Schüler:innen tragen ihre eigene Wahrnehmung des Weltgeschehens in das Klassenzimmer. Das gilt es pädagogisch reflektiert zu bearbeiten.[4]

1. Relektüre christlich-religiöser Friedenspädagogik im Horizont des Ukrainekriegs

Die Tradition einer christlich-religiösen Friedenspädagogik ist dünn und ökumenisch orientiert.[5] Wesentliche Beiträge sind älteren Datums.[6] Besonders präsent ist die Thematik in der religionspädagogischen Reformdekade von „1968“. Neuere Arbeiten finden sich vorwiegend in der evangelischen Religionspädagogik (RP), etwa bei Christiane Caspary oder Elisabeth Naurath. ‚Frieden‘ als religionsdidaktisches Lernprinzip wird besonders hinsichtlich der politischen Dimension religiöser Bildung thematisiert.[7] Die folgenden drei Lernergebnisse lassen sich aus einer Relektüre bisheriger Schriften gewinnen.

1.1 Wahrnehmung der ambivalenten Rolle von Religion in Konflikten

Erstens gilt es, die ambivalente Rolle von Religion in Konflikten adäquat wahrzunehmen. Das bedeutet, dass einerseits konfliktive Verstrickungen religiöser Akteure im Rahmen der „Schuldgeschichte von Religionen“[8] betrachtet werden sollten. Eine Auseinandersetzung mit gewaltvollen Kriegstexten aus der Bibel[9] bedarf es dabei genauso wie einer Problematisierung abgründiger Erfahrungen der Kirchengeschichte: „Als Symbol dafür stehen Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverfolgung, Zwangsmissionierung und Antijudaismus.“[10] Im Bewusstsein dieser Ambivalenzen kann ein differenzierter Blick auf die Rolle religiöser Akteure in gegenwärtigen Konflikten wie dem Ukrainekrieg angemessener gelingen. Dazu ist es jedoch auch nötig, andererseits das „Friedenspotenzial der Religionen“[11] darzustellen. Hierzu zählen nicht nur friedensorientierte Traditionen – Mette nennt hier etwa „die sog. Friedenskirchen (Böhmische Brüder, Herrnhuter Brüdergemeine, Mennoniten, Quäker u. a.)“[12] –, sondern auch die biblisch-christliche Grundperspektive, dass Friede als šalōm weit verstanden werden muss und Aspekte sozioökonomischer und ökologischer Gerechtigkeit umfasst.[13] Religionen können dann als eine gewaltminimierende und gerechtigkeitsstiftende „Befreiungspraxis“[14] verstanden werden.

In Bezug auf den Ukrainekrieg lässt sich dies an der Rolle von Papst Franziskus exemplifizieren. Der Papst wird in einer theologischen Publikation von 2022 als „Mensch des Friedens“[15] vorgestellt. Er trete „nicht nur prophetisch für konkrete Maßnahmen der Abrüstung und des Friedens ein, sondern praktiziert durch Diplomatie, gezielte Auslandsreisen und öffentliche Stellungnahmen auch selbst, was er theologisch anmahnt.“[16] In diesem Zusammenhang sind etwa die Bemühungen einer Annäherung an die russisch-orthodoxe Kirche zu sehen. Das Treffen von Franziskus und Patriarch Kyrill I. 2016 in Havanna wurde als ein relevanter Beitrag zur Ökumene betrachtet – z. B. vom Salzburger Kirchenhistoriker Dietmar Winkler.[17] In einer gemeinsam unterzeichneten Erklärung rufen sie dazu auf, durch Gebet, Dialog und humanitäre Hilfe Krieg zu überwinden.[18] Diese Perspektive wird durch die Rolle von Franziskus im aktuellen Krieg herausgefordert. Der katholische Dogmatiker Hans-Joachim Sander kritisiert den Papst etwa gerade dafür, dass er zu diplomatisch auftrete, den „putinhörigen“[19] Moskauer Patriarchen Kyrill zu sehr schone und keine Worte finde, die den Krieg deutlich genug verurteilen. Zwar erkennt auch Sander an, dass sich der Papst gegen den Krieg und dessen Opfer positioniere, „[a]ber zugleich will er die potentielle Einladung nach Moskau durch eben diesen Patriarchen noch nicht in den Wind schreiben und lässt dessen symbolische Jacht weiter im Vatikan ankern.“[20]

Neben dieser Perspektive auf konkrete Religionsgemeinschaften – hier könnte auch die Rolle der DBK/EKD, der russisch-orthodoxen oder der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine (bes. die Kriegsansprachen des Großerzbischofs Swjatoslaw Schewtschuk) von Interesse sein –, lässt sich auch die Rolle religiöser Rhetorik in der kriegerischen Politik in den Blick nehmen. Historisch wurden Kriege häufig göttlich legitimiert („Für Gott und Vaterland“ oder „Deus vult“),[21] religiöse Sprache wird auch heute noch zur Deutung und Motivierung verwendet: Beispielsweise bezeichnet Schewtschuk das Töten von Zivilist:innen als ‚Sünde‘, Selenskyj verspricht russischen Soldaten ‚die Hölle‘ sowie das ‚Gericht Gottes‘ und Putin zitiert im Moskauer Luzhniki-Stadion aus dem Johannes-Evangelium.[22] An dieser Stelle lässt sich die religiöse Tendenz zur Gewalttätigkeit und die Frage reflektieren, inwiefern Religionen auch eine gewaltmindernde Kraft entfalten können.[23] Dazu kann erneut auf die ambivalente Rolle von Franziskus Bezug genommen werden. Dieser äußert zumindest teilweise prophetische Kritik am Moskauer Patriarchen und warnt diesen davor, sich zum „Staatskleriker“ und zum „Ministranten Putins“[24] zu machen.

1.2 Entwicklungsspezifische Verbindung von individueller, sozialer und politisch-struktureller Dimension

Zweitens gilt es, multidimensionale Ansätze zu stärken, die sowohl individuelle und soziale als auch politisch-strukturelle Dimensionen berücksichtigen. Eine Friedenserziehung, die religiöse Dialog- und Pluralitätsfähigkeit im Nahbereich fördert, ist gerade für jüngere Lerngruppen weiterführend.[25] Erst in älteren Gruppen sind die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen derart gegeben, dass auch politisch-strukturelle Aspekte systematisch in den RU integriert werden können. Dann aber müssten auch die Eigenheiten des Politischen (z. B. Global Governance) thematisiert werden. Die Herausforderung dabei ist, die enorme Komplexität unterschiedlicher Handlungslogiken zu berücksichtigen.[26] Wahrzunehmen gilt es hierbei religiöse, politische und auch ökonomische Zusammenhänge – bestmöglich „in fächerübergreifenden Unterrichtsprojekten“[27].

Gerade die friedenspädagogische Forschung im Anschluss an Johan Galtung hat bereits in den 1970er Jahren deutlich gemacht, dass analytisch immer auch eine „strukturelle u. gesellschaftskrit. Perspektive“[28] zu berücksichtigten ist, die etwa systemischen Rassismus umfasst. In politikdidaktischer Terminologie, die in der RP aufgegriffen wird, heißt das, dass von den Lehrkräften sehr bewusst zwischen sozialem und politischem Lernen unterschieden werden sollte, um beides adäquat aufeinander beziehen zu können und problematische Fehlvorstellungen zu vermeiden.[29]

1.3 Kontroverse Auseinandersetzung mit einer ‚pazifistischen Positionalität‘

Drittens sollten auch materiale Positionen der christlichen Tradition zu ‚Krieg und Frieden‘ im RU dargestellt werden. Friedenspädagogisch wird im Sinne einer ‚Option für die Armen‘[30] dafür plädiert, von der traditionsgeschichtlich bedeutsamen Frage nach der Möglichkeit ‚gerechter Kriege‘ abzuweichen und stärker auf die Perspektive eines ‚gerechten Friedens‘ abzuheben.[31] Zum Teil wird sogar eine ‚pazifische Positionalität‘ eingenommen.[32] Eine solche Positionalität ist in ihrer Eindeutigkeit in der heutigen Situation fragwürdig. Sie ist jedoch im Blick auf die Fachgeschichte erst einmal als ein Humanisierungsschritt anzuerkennen. Schließlich ist seitdem die ungebrochene Bezugnahme auf eine dem entgegengesetzte ‚bellizistische Positionalität‘ – wie sie z. B. in der RP zur Zeit des Ersten Weltkriegs[33] zu finden ist – nicht mehr möglich. Daraus ergeben sich auch konzeptionsgeschichtliche Ressourcen wider einer politischen Instrumentalisierung von Pädagogik und Bildung in Kriegszeiten.[34]

Allerdings wird – gerade vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs, der die Legitimität eines militärischen Verteidigungskriegs aufzeigt – ebenfalls deutlich, dass ein RU, der sich einlinig an einer ‚pazifischen Positionalität‘ orientiert, heute ebenfalls kaum mehr tragfähig ist. Auch in Abgrenzung zu früheren Entwürfen gilt es hierbei, angemessen mit der relativ großen Pluralität an biblischen, kirchlichen und theologischen Stimmen zum Krieg umzugehen. Mokrosch und Spiegel weisen etwa darauf hin, dass kirchliche Verlautbarungen „vom reinen Pazifismus bis zur Gewaltzustimmung im Verteidigungsfall und von einer völligen Ablehnung der Bundeswehr und ihrer Einsätze bis zu einer gemäßigten Zustimmung derselben“[35] reichen. Das schließt aber gleichzeitig auch ein, dass Positionen von Antimilitarismus und Pazifismus, welche derzeit in der Öffentlichkeit kaum mehr als allzu plausibel gelten, gerade aufgrund ihrer bedeutsamen Tradition in der theologischen[36] und religionspädagogischen Fachgeschichte, aber auch mit Blick auf Ergebnisse der Friedensforschung,[37] als eine plausible Option im Unterricht darzustellen und als Bestandteil einer legitimen Kontroversität zu behandeln sind. Beispielhaft lässt sich dies anhand von einer Anforderungssituation umsetzen, die an die Praxis der Pflugscharbewegung anschließt, in der Priester oder Ordensschwestern gegen Militär- und Waffenpräsenz vorgehen.[38] So ließe sich ‚pazifistische Positionalität‘ selbst zur Kontroverse machen, weil sie mit Blick auf Schrift und Tradition nicht a priori abgelehnt oder eindeutig befürwortet werden kann.

2. Konkretisierung für den Religionsunterricht

Um politische Themen im RU adäquat zu behandeln, sind unterschiedliche didaktische Analysekategorien zu beachten.[39] Exemplarisch wird im Folgenden ein Schwerpunkt auf Lernformen gelegt.

2.1 Allgemeine Koordinaten: Diagnostik und Lerninhalte

Religionspädagogische Forschung zur Friedenserziehung hat hilfreiche Unterscheidungshilfen hervorgebracht, um die Lernausgangslage zu diagnostizieren: (1) eigene Vorerfahrungen mit Gewalt/Krieg, (2) das Rezeptionsverhalten in Bezug auf die mediale Darstellung des Kriegs, (3) jugendliche Wertvorstellungen, (4) geschlechtliche Unterschiede (z. B. maskuline Gewaltbereitschaft) und (5) der Bildungsgrad (z. B. steigt mit diesem die Skepsis gegenüber Militäreinsätzen).[40] Diese Aspekte gilt es durch verschiedene Methoden[41] zu erheben und beim Unterrichten zu berücksichtigen.

Abhängig von der Lernausgangslage lässt sich auch inhaltlich auf Überlegungen einer christlichen Friedenspädagogik zurückzugreifen – welche auch in neueren Unterrichtsmaterialien ihren Widerhall finden.[42] Produktive Lernanlässe für den RU eröffnen drei Perspektiven: In der Bibel finden sich Modelle für den Umgang mit Großreichen, Zeugnisse von Kriegserfahrungen und Friedenssehsucht sowie Lernprozesse der zunehmenden Kritik an (religiös legitimierter) Gewalt.[43] Von besonderer Rolle ist dabei sicherlich die Bergpredigt (Kap. 1.3), die das jesuanische Programm einer proaktiven Gewaltlosigkeit enthält.[44] In der Kirchengeschichte findet sich eine große Bandbreite unterschiedlicher Positionen und Denkmodelle, die kontroverse Diskussionen besonders stimulieren könnten. Einerseits gibt es Überlegungen zum ‚Gerechten Krieg‘ etwa bei Augustinus und Thomas von Aquin, andererseits christliche Pazifist:innen (Kap. 1.1) (2).[45] In Bezug auf kirchliche Positionen bietet es sich an, neuere Stellungnahmen der Kirchen – z. B. die EDK-Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) oder das Wort der Deutschen Bischofskonferenz „Gerechter Friede“ (2000) – zu berücksichtigen (3) und auf die ambivalente Rolle von Religion im Ukrainekrieg (Kap. 1.1) zu beziehen.[46]

2.2 Exemplarische Vertiefung: Diskussion dreier inhaltsstrukturierender Lernformen

Exemplarisch vertieft werden sollen die bisherigen Überlegungen an drei didaktische Großmethoden, die eine Lerneinheit zum Thema strukturieren können und erfahrungsbezogen ausgerichtet sind.

(1) Friedensgebet: In der religionspädagogischen Fachliteratur finden sich Beispiele für ein Friedensgebet, welches mit einem Kurs vorbereitet, gestaltet und reflektiert wird.[47] Bei der Vorbereitung ist besonders zu berücksichtigen, wer über welche Kommunikationskanäle über das Gebet informiert wird. Dementsprechend gilt es, Ort und Zeit auszuwählen. Grundlegend für ein gelingendes Friedensgebet ist eine inhaltliche Erarbeitung im Vorhinein sowie eine nachträgliche Reflexion. Sinnvoll ist eine thematische Schwerpunktsetzung, etwa die Beschäftigung mit dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche[48] oder mit „Pussy Riots Punk-Gebet“[49]. Die Schüler:innen sollten wichtige Elemente der Liturgie (z. B. Fürbitten) mitgestalten und passende biblische Texte[50] und Lieder auswählen, um liturgisch zu lernen.[51]

Für diese Methodenwahl spricht, dass Liturgie theologisch „ins Zentrum des christlichen Glaubens“[52] führt und damit zum Ziel beiträgt, einen verantwortlichen Umgang mit Glaube und Religion anzubahnen. Insofern die Methode dazu anregt, mit Traditionen, Symbolen und existenziellen Krisen umzugehen und sich zu diesen in ein reflektiertes Verhältnis zu setzen, eröffnet sie auch einen „Beitrag zur Allgemeinbildung“[53]. Eine liturgische Feier kann zudem ein Ort der Kontingenzbewältigung sein, indem ein kaum lösbarer Konflikt thematisiert werden kann, ohne Zynismus zu evozieren.

Allerdings besteht erstens die Gefahr, dass das Gebet, gerade von Konfessionslosen, als überwältigend wahrgenommen wird.[54] Hier braucht es Formen der Freiwilligkeit, z. B. die Alternativmöglichkeit der teilnehmenden Beobachtung, und Möglichkeiten der Distanzierung. Hilfreich ist es zudem, wenn im Vorhinein unterschiedliche liturgische Formen (z. B. politisches Nachtgebet) besprochen werden, damit die Schüler:innen diese mitbestimmen können. Zweitens stellt sich die Frage, wie die religiöse Pluralität der Lerngruppe berücksichtigt wird. Unterschiedliche Gebetsformen, z. B. inter- oder multireligiöse Feiern,[55] könnten hier kontextabhängig weiterführend sein. Allerdings sind mit den jeweiligen Gebetsformen wiederum eigene Probleme verbunden, etwa die theologische Anfrage, ob interreligiöse Feiern nicht relevante Differenzen im Gottesverständnis unterminieren.[56] Drittens stellt sich die Frage, inwiefern im Friedensgebet eine ‚bürgerliche Religion‘ inszeniert wird, die allein vertröstende, nicht aber störende Impulse der Unterbrechung setzt. Eine Gefährdung liegt darin, dass eine abstrakt-positionslose Sprache gewählt wird, die allgemein auf ‚Frieden’ zielt. Dementgegen besteht die Möglichkeit, wie beim politischen Nachtgebet, auch ‚Diskussion‘ und ‚Aktion‘ als Bestandteil von Liturgie zu verstehen, um nicht an einen Gott zu beten, der auf magische Weise „von oben die Kriege beenden […] sollte“[57]. Zumindest sollte im Nachgang im Unterricht explizit darüber nachgedacht werden, inwiefern das durchgeführte Gebet als eine politisch folgenreiche Praxis wahrgenommen wurde.

(2) Planspiel: Auch für Planspiele zum Themenbereich finden sich einige religionspädagogische Publikationen.[58] In Bezug auf die Rahmenbedingungen lässt sich zwischen selbst organisierten Planspielen und solchen unterscheiden, die von professionellen außerschulischen Kräften durchgeführt werden. Für die Friedensthematik kommen dafür verschiedene Akteure infrage, z. B. Vereine und NGOs aus der Friedens- und Konfliktforschung sowie der Friedenspädagogik, aber auch die Kooperation mit Jugendoffizieren der Bundeswehr wird gesucht.[59] Es gibt kürzere und zeitlich umfassenderen Varianten von Planspielen. Letztere können während fächerübergreifender Projekttage durchgeführt werden. Inhaltlich handelt es sich zumeist um imaginäre Konfliktsituationen (z. B. in fiktiven Ländern), die zugleich einen starken Realitätsbezug aufweisen, um einen Erkenntnistransfer zu gewährleisten. Beispielsweise sind beim Planspiel POL&IS möglichst realistische Rahmenbedingungen hinsichtlich von „Energie- und Rohstoffvorkommen, Bevölkerung und Militär“[60] vorgegeben. Und die Akteure, die die Schüler:innen repräsentieren, spielen auch in der internationalen Politik eine wichtige Rolle: Sie agieren als Regierungsvertreter:innen und Minister:innen oder als UN-Generalsekretär:in. Zudem finden sich auch ökonomische (z. B. Weltbank), zivilgesellschaftliche (z. B. NGOs) und mediale Player. Dadurch sollen unterschiedliche Handlungslogiken (z. B. politisch, militärisch, sozial), Interessenkonflikte und Lösungsmodelle performativ kennengelernt werden. Politische Bildung soll also erreicht werden, indem politisches Handeln simuliert und reflektiert wird. Dass dies auch relevant für religiöse Bildung ist, weil diese eine politische Dimension besitzt, wird in jüngerer Zeit ausführlich begründet.[61]

Für diese Methodenwahl spricht, dass sie es besonders gut ermöglicht, die soziale und die politisch-strukturelle Dimension (Kap. 1.2) in ihrer Komplexität darzustellen und zu elementarisieren. Zudem stellen Planspiele ein motivierendes Lernsetting dar, in dem Sach-, Urteils-, Handlungs- und Sozialkompetenzen (z. B. Dialogfähigkeit) mit einem Bezug zur Lebenswelt erworben werden können.[62] Gleichzeitig eröffnet der komplexe Realitätsbezug die Notwendigkeit, unterschiedliche Fachperspektiven zu verbinden, interdisziplinär Probleme zu lösen und damit Bildung im emphatischen Sinn zu ermöglichen.

Der ersten Schwierigkeit, dem hohen Organisationsaufwand, kann optimaler Weise dadurch begegnet werden, dass mit außerschulischen Partnern im Rahmen von fächerübergreifenden Projekttagen zusammengearbeitet wird. Zweitens fällt auf, dass bei Planspielen häufig ein enges, institutionsnahes Verständnis von politischer Bildung gepflegt wird und so die Verbindung zu religiöser Bildung selten konzeptioneller Art ist. Religiöse Akteure und theologische Positionen erhalten kaum genügend Raum. Dem sollte mindestens durch eine explizite Thematisierung in der Reflexionsphase begegnet werden. Bestmöglich werden Anpassungen am Planspiel vorgenommen und neue Akteursrollen (z. B. der Papst) eingeführt. Die dritte Gefahr, eine subtile Indoktrination, ergibt sich aus dem Simulationscharakter des Spiels, der auf mehr oder weniger ausgewiesenen Modellannahmen beruht. Planspiele treffen Optionen, z. B. den „Vorrang der zivilen einheimischen Akteure gegenüber einer externen Intervention“[63], die es transparent zu machen und mit den Schüler:innen kritisch zu reflektieren gilt. Diese Schwierigkeit wird besonders dann verstärkt, wenn Jugendoffiziere der Bundeswehr (wie bei POL&IS) als Akteure der politischen Bildung in den Unterricht kommen. Dies ist besonders dann schwierig, wenn Lehrkräfte nicht gleichermaßen fachlich geschult sind und alternative Akteure strukturell benachteiligt werden.[64] Mindestens die Kriterien der ‚Freiwilligkeit‘ und der ‚kritischen Reflexivität‘ sollten in diesem Fall gewährleistet werden.

(3) Sozialpolitische Aktion: Sozialpolitische Aktionen, z. B. die Teilnahme an einer Friedensdemonstration, finden sich ebenfalls in der religionspädagogischen Fachliteratur.[65] Darunter lässt sich „zivilgesellschaftliches Handeln [fassen], das aus dem […] Unterricht heraus entsteht“[66]. Beispielhaft können Projekte „[a]uf Krieg und Gewalt aufmerksam machen wollen, also die Menschen ‚wachrütteln‘“ – etwa durch „Straßeninterviews“[67], Lesungen oder mediale Stellungnahmen. Bei den Rahmenbedingungen sind rechtliche (z. B. Aufsichtspflicht) und organisatorische Fragen (z. B. Kooperationspartner) zu klären. Inhaltlich wird ein Schwerpunkt auf dem Ukrainekrieg dadurch ermöglicht, dass deutschlandweit kirchliche Aktionen existieren, an die angeschlossen werden kann. Exemplarisch dafür stehen die Aachener Friedensläufe, eine Mischung aus Sponsorenlauf, friedenspädagogischem Bildungsprogramm und Kundgebung. Diese werden von kirchlichen Akteuren (z. B. Pax Christi und BDKJ) mitorgansiert und Schulen im Umkreis nehmen daran teil.[68] Die Zielperspektive solcher Aktionen liegt, abhängig von der genauen Umsetzung, im Bereich des sozialen bzw. politischen Lernens. Häufig wird Dialog- und Konfliktfähigkeit im sozialen Nahbereich gelernt. Für ältere Schüler:innen sollte auch politisches Lernen, die Auseinandersetzung mit Struktur- und Machtfragen, anvisiert werden, um Fehlvorstellung – z. B. die Annahme, dass politischer Streit im Parlament aus einer fehlenden Dialogfähigkeit resultiert – zu vermeiden (Kap. 1.2).[69]

Für diese Methode spricht, dass religiöse Bildung so einen Zugang zur Religion inhärenten Handlungsdimension eröffnet. Aus religiösen Überzeugungen folgt eine spezifische Weltsicht und eine weltgestaltende Praxis, die so performativ deutlich und reflexiv zugänglich wird. Zudem können sozialpolitische Aktionen Selbstwirksamkeitserfahrung eröffnen und Hoffnungspotenziale freisetzen, weil die Schüler:innen lernen, die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem Sinn mitzugestalten.[70] Neben einem individualethischen Zugang werden so auch transformative Handlungsformen zu einem erfahrungsbezogenen Unterrichtsgegenstand. Der Ernstfallcharakter besitzt einen Vorzug gegenüber simulativen Methoden, weil deren spielerischer Charakter zu Fehldeutungen einladen kann – etwa wenn ein realistisches Planspiel zu ‚Krieg und Frieden‘ „als eine Mischung aus Risiko, Siedler und Monopoly“[71] erscheint.

Aufgrund der rechtlichen und organisatorischen Herausforderungen, gilt es erstens, mit Eltern, Schüler:innen, Schulleitung und anderen Lehrkräften Absprachen zu treffen. Um den Arbeitsaufwand möglichst gering zu halten, lohnt sich die Kooperation mit Kolleg:innen und außerschulischen Partnern. Zweitens ergibt sich die Gefahr einer Politisierung aus den Themenbereichen, Formen und Organisatoren möglicher Aktionen (z. B. kontroverse Debatte über die sog. ‚Ostermärsche‘). Hier ist die Verfassungskonformität der Kooperationspartner zu gewährleisten. Jede sozialpolitische Aktion, die aus dem Schulunterricht erfolgt, sollte auf das „Eintreten für demokratische Grundwerte“[72] zielen. Dieser Gefahr kann auch durch eine multiperspektivische Vor- und Nachbereitung sowie eine pädagogische Begleitung der Aktion entgegengetreten werden. Zudem gilt es auch hier die Freiwilligkeit der Teilnahme zu gewährleisten, z. B. durch die zeitliche Verortung der Aktion außerhalb des Unterrichts oder eine angeleitete Form der teilnehmenden Beobachtung. Drittens gilt es, die religiöse Dimension der sozialpolitischen Praxis besonders in den Phasen der Vor- und Nachbereitung herauszuarbeiten, damit die Bildungsprozesse von der Fachlichkeit des Unterrichts profitieren können. Nur wenn der religiöse Motivationshorizont für sozialpolitische Praxis und die christliche Signatur der kirchlichen Projektpartner deutlich wird, kann religiöse Bildung als religiöse einen Beitrag zum politischen Lernen leisten.

3. Fazit und Ausblick

Die Auseinandersetzung mit der religionspädagogischen Fachgeschichte hat drei konzeptionelle Lerneffekte ergeben, hinter die auch heute nicht zurückgefallen werden darf: Die ambivalente Rolle von Religion sollte reflektiert; individuelle, soziale und politisch-strukturelle Aspekte sollten entwicklungsabhängig miteinander verbunden; und ‚pazifistische Positionalität‘ sollte kontrovers diskutiert werden. Vor diesem Hintergrund wurden drei didaktische Großmethoden vorgestellt und diskutiert, die allesamt affektive und diskursive Elemente miteinander verbinden, hinsichtlich der Zielperspektive aber unterschiedliche Schwerpunkte besitzen: liturgisches, soziales oder politisches Lernen. Sie vereint herausfordernde Rahmenbedingungen und die Frage wie religiöse und politische Bildung produktiv zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können – und zwar so, dass keine Überwältigung der Schüler:innen stattfindet. Aufgrund der unterschiedlichen Vorzüge und Nachteile aller drei Methoden ist eine didaktische Auswahlbegründung besonders am Verwendungskontext festzumachen.

Abschließend seien noch zwei weiterführende Punkte markiert. Einerseits stellt sich auf der Ebene wissenschaftlicher Forschung die Frage, wie religionspädagogisch noch stärker interdisziplinäre Ansätze und Perspektiven – z. B. der Peace and Conflict Studies oder einer „Kritischen Friedenserziehung“[73] – aufgenommen werden können, damit die RP sich diesbezüglich auf der Höhe der akademischen Auseinandersetzung befindet. Andererseits ist offen, wie eine adäquate Zielbestimmung religiöser Bildung zum Thema ‚Krieg und Frieden‘ ausformuliert werden kann, wenn nicht mehr eindeutig an ‚pazifistischer Positionalität‘ festgehalten wird. Sollte religiöse Friedenserziehung dann wirklich auf eine ‚friedliche Einstellung‘ und ein entsprechendes Verhalten „im Nah- als auch im Fernbereich“[74] zielen?


Anmerkung

Für Hinweise und Rückmeldungen danke ich Hannes Kohlhoff und Andreas Schlattmann, für Korrekturen Madeline Stratmann und Ina Maria Benkhoff. Johannes Drerup danke ich für zwei Literaturhinweise.


About the author

Dr. Jan-Hendrik Herbst

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Published Online: 2022-11-11
Published in Print: 2022-11-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 1.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zpt-2022-0048/html
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