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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter Oldenbourg August 5, 2023

Was ist Dein Replicandum?

Eine Antwort auf die Replik von Heisig und Matthewes (2022) zum Beitrag von Esser und Seuring (2020) über „Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit“

What is your Replicand?
A Response to Heisig and Matthewes’ (2022) Replication of Esser and Seuring’s (2020) Study on “Cognitive Homogenization, School Achievement, and Social Inequality in Education.”
  • Hartmut Esser

    Hartmut Esser, geb. 1943 in Elend/Sachsen-Anhalt; Studium der Volkswirtschaftslehre und Soziologie in Köln; 1970 Diplom-Volkswirt (sozialwissenschaftlicher Richtung) in Köln; 1974 Promotion in Köln (Dr. rer. pol.); 1981 Habilitation in Bochum; 1974 – 1978 Akademischer Rat Ruhr-Universität Bochum; 1978–1982 Wissenschaftlicher Rat und Professor Universität Duisburg GHS; 1982–1987 o. Professor für Empirische Sozialforschung Universität Essen GHS; 1985 – 1987 Geschäftsführender Direktor des ZUMA, Mannheim; 1987–1991 o. Professor für Soziologie Universität zu Köln; 1991–2009 o. Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim. Seit August 2009 im Ruhestand.

    Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie; Sozialwissenschaftliche Handlungstheorie; Migration, Integration und ethnische Konflikte; Familiensoziologie; soziale Ungleichheit; aktuell: Bildungs-Soziologie, insbesondere Bildungssysteme und Bildungsungleichheit; Methodologie der Sozialwisssenschaften: Erklärung, Kausalität und Theorienvergleich.

    „Wie kaum in einem anderen Land?“ Die Differenzierung der Bildungswege und ihre Wirkung auf Bildungserfolg, -ungleichheit und -gerechtigkeit. Band 1: Theoretische Grundlagen, Band 2: Empirische Befunde. Frankfurt am Main, New York: Campus 2021/2023

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    and Julian Seuring

    Julian Seuring, geb. 1985 in Coburg/Bayern; Studium der Soziologie in Bamberg und Basel (CH); 2012 Diplom in Bamberg. 2012 – 2015, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie, insbesondere Sozialstrukturanalyse, Universität Bamberg; 2015 – 2017; Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Immigrants’ first and second language proficiency and social integration“ (SPP 1646 „Education as a Lifelong Process“), Universität Bamberg; 2017 – 2021 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator im DFG-Projekt „Aktuelle europäische Binnen- und Flüchtlingsmigration nach Deutschland: Zuzugsprozesse und frühe Integrationsverläufe“, Universität Bamberg. Seit 2021 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Bildungswege von geflüchteten Kindern und Jugendlichen“, Leibniz-Institut für Bildungsverläufe.

    Forschungsschwerpunkte: Soziale und ethnische Ungleichheit, mit Schwerpunkt Bildung; Migration und Integration; Methoden der empirischen Sozialforschung.

    Wichtigste Publikationen: German language acquisition of refugee children – The role of preschools and language instruction (zus. mit G. Will). Frontiers in Sociology, 7, 2022. doi: https://doi.org/10.3389/fsoc.2022.840696, Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit (zus. mit H. Esser). In: Zeitschrift für Soziologie, 49, 2020, 277–301. Ethnic classroom composition and minority language use among classmates: Do peers matter for students’ language achievement? (zus. mit C. Rjosk & P. Stanat). In: European Sociological Review, 36, 2020, 920–936, Spracherhalt oder Sprachverlagerung? (zus. mit B. Strobel) Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 68/2016, 309–339, Why bother with testing? The validity of immigrants’ self-assessed language proficiency (zus. mit A. Edele, C. Kristen & P. Stanat). In: Social Science Research, 52, 2015: 99–123.

Zusammenfassung

Der Beitrag entgegnet der Kritik und Replikation der Studie von Esser und Seuring (2020) zu den Effekten der Stringenz der Leistungsdifferenzierung in den deutschen Bundesländern bei Heisig und Matthewes (2022). Es wird gezeigt wie Modifikationen bei Analysezielen und Analysestrategien gegen die theoretische Grundlage des Originalansatzes die Befunde verändern und zu unterschiedlichen Folgerungen über die Effekte führen können. Das wird an drei Punkten besonders deutlich: 1) Die Annahme einer Äquivalenz von kognitiven Fähigkeiten und schulischen Leistungen und den damit verbundenen Problemen bei den Analysen, 2) die Änderung des zentralen empirischen Estimandums: die im theoretischen Modell implizierte Dreifach-Interaktion von Stringenz, kognitivem Niveau und kognitiver Homogenität, und 3) die Anwendung eines spezifischen Vorgehens bei der Aggregation der Indikatoren für die Klassenkomposition. Re-Analysen zeigen, dass unter Beibehaltung des zentralen Estimandums auch die vorgeschlagenen Modifikationen kaum etwas an den Kernbefunden ändern. Dies untermauert zum einen die Robustheit der Befunde des Originalbeitrags und verdeutlicht zum anderen die Notwendigkeit auch bei Replikationen die ursprünglichen Analyseziele und theoretischen Hintergründe zu berücksichtigen. Ausführlichere Antworten auch zu den weiteren Einwänden sowie die Re-Analyse finden sich in einem Online-Anhang zu diesem Beitrag.

Abstract

The contribution addresses the critique and replication of Esser and Seuring’s (2020) study on the effects of the stringency of ability tracking in the German federal states conducted by Heisig and Matthewes (2022). We demonstrate that modifications of the analytical objectives and strategy, which were theoretically driven in the original approach, can change the results and lead to different conclusions. This becomes particularly evident in three points: 1) the assumption of equivalence of cognitive abilities and educational achievement associated with potential biases of the analyses, 2) the modification of the core empirical estimand: the three-way-interaction of stringency, cognitive level, and cognitive homogeneity, which is implied in the theoretical model, and 3) the use of a specific approach for aggregating classroom composition characteristics. Re-analyses show that the proposed modifications, while retaining the basic estimand, do not change the main results. The findings illustrate the robustness of the original results as well as necessity to taking the analytical objectives and theory into account when conducting replication analysis. Extensive responses to all objections as well as the re-analysis can be found in an online appendix to this paper.

Einleitung

In einem außerordentlich instruktiven Beitrag haben Lundberg et al. (2019) eine zentrale Aufgabe jeder (quantitativen) Untersuchung benannt:

“We make only one point in this article. Every quantitative study must be able to answer the question: what is your estimand? The estimand is the target quantity – the purpose of the statistical analysis. … In our framework, researchers do three things: (1) set a theoretical estimand, clearly connecting this quantity to theory, (2) link to an empirical estimand, which is informative about the theoretical estimand under some identification assumptions, and (3) learn from data.” (ebd.: 1; Hervorhebungen nicht im Original)

Das gilt auch für Replikationen: Sie müssen die Definition der theoretischen Analyseziele und der empirischen Analysestrategien der Originalstudie beachten, weil es allein schon durch die, mehr oder weniger offen gelegte, Veränderung der betreffenden Estimanden bei einer Replikation, bei den Replicanda also, zu Abweichungen in den Befunden kommen kann, ohne dass darüber die Gültigkeit der Originalstudie berührt wäre.

Darum geht es in diesem Beitrag übergreifend und auf Replikationen nicht beschränkt (vgl. Kohler et al. 2023 dazu auch allgemein). Der Anlass ist die Replikation der Untersuchung von Esser und Seuring (2020; im Folgenden: ES) zu den Effekten der Stringenz der Differenzierung nach den kognitiven Fähigkeiten, dem Ability-Tracking, für die deutschen Bundesländer bei Heisig und Matthewes (2022; im Folgenden: HM), in der u. a. gezeigt wird, dass sich mit den identischen Daten (Startkohorte 3 des NEPS) praktisch keines der zentralen Ergebnisse von ES reproduzieren ließe. Eine ausführliche Antwort ist an dieser Stelle aus Platzgründen leider nicht möglich, sie ist im Online-Anhang zu diesem Beitrag zu finden und beinhaltet neben der Diskussion aller aufgeworfenen Einwendungen auch umfassende Re-Analysen, welche die Kernbefunde des Originalbeitrags weiter bekräftigen. Wir greifen deshalb und vor dem Hintergrund des allgemeinen methodologischen Problems der Frage nach dem jeweiligen Estimandum bzw. Replicandum drei Aspekte heraus, an denen sich geradezu exemplarisch zeigen lässt wie wichtig es ganz besonders bei Replikationen ist, die theoretischen Hintergründe der zu replizierenden Untersuchung auch im Detail zu beachten. Die drei Aspekte umfassen 1. die Annahme einer Äquivalenz von kognitiven Fähigkeiten und schulischen Leistungen und die damit ggf. zusammenhängenden Verzerrungen bei den Analysen, 2. die Dreifach-Interaktion von Stringenz, kognitivem Niveau und kognitiver Homogenisierung bei der Bestimmung der Systemeffekte und 3. die leave-i-out-Regel bei der Operationalisierung der Klassenkomposition, einem Detail aus der Analyse von peer-Effekten. Sie haben alle damit zu tun, dass in den Replikationen von HM zentrale Annahmen des theoretischen Modells bei ES sowie das übergeordnete Analyseziel, die theoriegeleitete Überprüfung eines theoretischen Modells und die „korrigierende Replikation“ der bisherigen Untersuchungen zum Ability-Tracking, nicht gesehen oder übergangen wurden und so der unzutreffende Eindruck fehlerhafter Analysen und falscher Befunde bei ES entstehen konnte. Zum Schluss gibt es eine kurze zusammenfassende Bewertung.

1 Die Äquivalenz von kognitiven Fähigkeiten und schulischen Leistungen

Nach dem theoretischen Modell bei ES werden die schulischen Leistungen in der Sekundarstufe direkt von den Leistungen vorher in der Grundschule bestimmt, und der Effekt ist, überall wo man das geprüft hat, empirisch auch mit Abstand der stärkste. Das legt die Vorstellung nahe, die HM im Abschnitt 3.4 ihrer Replik aufgreifen: Die Leistungen vorher tragen die Systemeffekte schon alleine und damit nicht das, was in der Sekundarstufe in den Schulklassen nachfolgend noch geschieht. Die Leistungen vorher in der Grundschule müssten daher als intervenierende Variable zwischen den kognitiven Fähigkeiten und den Leistungen in der Sekundarstufe immer mitkontrolliert werden. Wenn man das mache, verschwänden alle Systemeffekte der Stringenz (Tab. 2 bei HM: 106). Warum also kontrollieren ES die Leistungen vorher nicht? Es gibt zwei Gründe, beide in den Einzelheiten des theoretischen Modells und in den Abbildungen dazu bei ES (Abb. 1: 282) verdeutlicht.

Erstens, sind kognitive Fähigkeiten und schulische Leistungen theoretisch, empirisch und in den Effekten nicht das Gleiche und bilden daher auch keine Äquivalente (vgl. dazu auch Esser 2021, Kapitel 4). Die kognitiven Fähigkeiten beinhalten allgemeine, relativ stabile und latente Eigenschaften, die im Prinzip in allen Umgebungen und für alle Inhalte von Bedeutung sind und sich über die Effizienz des Lernens auswirken: Der gleiche Input erzeugt bei gleichen Bedingungen einen höheren Output. Die jeweils schon erreichten Leistungen spiegeln dagegen spezielle, eher änderbare, manifest sichtbare und erst einmal nur faktisch gegebene Bedingungen des Lernens, von denen das Lernen ausgeht, aber – ceteris paribus – nicht effizienter wird, wenn es einen weiteren Input gibt. Es geht also bei ES gerade nicht um eine Differenzierung nach den (vorher) gezeigten Leistungen, um ein „Achievement“-Tracking demnach, es geht um das Ability-Tracking. Zweitens, kommt es für die kognitive Homogenisierung der Schulklassen und die daran anschließenden (Schul-)Effekte deshalb – nach dem theoretischen Modell – gerade nicht auf die Leistungen vorher an, auch nicht darauf, über welche Einzelmechanismen die Platzierung verläuft, sondern auf die jeweils faktisch entstehende kognitive Struktur in den Schulklassen – egal wie diese zustande kommt, also über den direkten und alle indirekten Wege von den kognitiven Fähigkeiten auf die Leistungen in der Sekundarstufe, darunter dann auch die Leistungen vorher in der Grundschule.

Es geht somit bei der Schätzung der unterschiedlichen Einflüsse um den totalen Effekt der kognitiven Fähigkeiten und der entsprechenden kognitiven Zusammensetzung der Schulen und Schulklassen auf die Leistungen in der Sekundarstufe. Wenn das aber so ist, wird die Antwort auf die Frage, ob dann mit den kognitiven Fähigkeiten auch auf die Leistungen vorher als intervenierende Variable konditioniert werden darf, fast schon trivial: Weil im totalen Effekt der jeder intervenierenden Bedingung schon enthalten ist, wäre das nicht nur überflüssig, sondern würde den angezielten Effekt verfälschen, vermindern und ggf. auch ganz weg „erklären“. Es wäre ein schon exemplarischer Fall der overcontrol. ES hatten mit Verweis auf das theoretische Modell ausdrücklich darauf hingewiesen (ES: 290). Unsere Re-Analysen zeigen allerdings, dass sich die Hauptbefunde mit Blick auf das zentrale Estimandum, im Gegensatz zu den davon abweichenden Analysen bei HM, auch bei Kontrolle der Leistungen vorher nicht substantiell ändern, also selbst gegen die eigentlich unzulässige Konditionierung auf die Leistungen vorher robust sind (vgl. Tab. 1 im Online-Appendix).

2 Die Dreifach-Interaktion

Ein zweiter Eingriff in die theoretischen Vorgaben bei ES durch HM ist noch gravierender: Mit der Dreifach-Interaktion von Stringenz der Differenzierung (T), kognitivem Niveau (NABL) und kognitiver Homogenität (HABL) der Schulklassen (T*NABL*HABL bei ES) bezögen sich die Vergleiche auf hochspezifische Extreme der Schulklassenkomposition, seien „overly complex“ und würden nur wenig über den „general moderating effect of tracking“ aussagen (HM: 107; Hervorhebung nicht im Original). Um zu prüfen, ob es denn dann den „general“ Moderationseffekt zwischen Stringenz und kognitiver Komposition gibt, werden nur die beiden Zweifach-Interaktionen T*NABL und T*HABL gerechnet. Heraus kommen dafür stark abgeschwächte Effekte im Vergleich zu den Befunden bei ES, gerade einmal signifikant auf dem 10 % Niveau, und mit der, eigentlich wegen overcontrol wieder nicht zulässigen, simultanen Kontrolle der Leistungen in der Grundschule bleibt gar nichts mehr übrig (HM: 109).

Auch hier wurden gegen die theoretischen Begründungen und die daran orientierten Entscheidungen bei der Analysestrategie Änderungen vorgenommen: Es geht bei ES nicht um die average-Effekte der Stringenz als Systemmerkmal, so aufschlussreich sie sonst auch sein mögen und ausreichen, sondern um die Identifikation von u. U. auch sehr speziellen weiteren Bedingungen, unter denen die Effekte erst konditional auftreten, insbesondere, dass sich der Effekt der Homogenität mit dem Niveau ändern kann (NABL*HABL) und das dann ggf. auch unterschiedlich nach der Stringenz (T*NABL*HABL). Hintergrund sind wieder bestimmte, gut begründete Annahmen des theoretischen Konzepts. Das Modell bei ES berücksichtigt ausdrücklich die Möglichkeit, dass es, etwa über eine positive Aptitude-Treatment-Interaktion, Schereneffekte nach oben geben kann, aber auch Kompensationseffekte unten, etwa über Passungs- und Spezialisierungsgewinne beim Lernen unten, ggf. auch mit dem Ausbleiben von Überforderungen oder negativen Vergleichen, wie bei den Big-Fish-Little-Pond-Effekten. Nach der Integrationsposition wären dagegen Kompensationen unten geradezu ausgeschlossen. Es ist der Kern dessen, was der Differenzierungsposition immer entgegengehalten wurde: Sie verschärfe die Ungleichheiten nur, und das insbesondere in den unteren Leistungsbereichen. Genau das aber ist nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Aber das könnte sich nur zeigen, wenn diese komplexeren theoretischen Zusammenhänge in den empirischen Estimanden auch vorgesehen sind. Bei HS werden sie, weil sie übertrieben komplex wären, einfach weggelassen und das empirische Replicandum geändert – so als wären Scheren- bzw. Kompensationseffekte schon theoretisch grundsätzlich ausgeschlossen. Die Re-Analysen (im Online-Appendix und bei Esser 2023, Kapitel 9) weisen darauf hin, dass es vorrangig eben diese Änderung an der Analysestrategie ist, die zu abweichenden Befunden bei HM gegenüber ES geführt hat.

3 Klassenkomposition und die leave-i-out-Regel

Eine über alles andere hinausgehende Einwendung von HM bezieht sich auf ein zunächst unscheinbar aussehendes technisches Detail der Operationalisierung der Komposition der Schulklassen. Darauf wird hier auch etwas ausführlicher eingegangen, weil sich damit besonders deutlich zeigen lässt, wie wichtig es gewesen wäre, sich die theoretische Modellierung und empirische Umsetzung genauer anzusehen. Es wäre, so wenden HM ein, „generally preferable to construct peer averages using a ‚leave-i-out approach‘“ (HM: 102; Hervorhebungen nicht im Original). Damit ist gemeint, dass bei der Bildung der Klassenmittelwerte das jeweils betrachtete Subjekt i nicht mitberücksichtigt werden dürfe. Das soll bei der Analyse von Effekten der Zusammensetzung der Schulklassen eine allein schon analytisch erzeugte Kovariation der Klassenkomposition mit der abhängigen Variable vermeiden. Die entsteht dadurch, dass jedes Subjekt i sowohl bei der abhängigen Variablen, die individuelle Leistung etwa, wie bei der unabhängigen Variablen, dem Mittelwert bei den Leistungen in der Schulklasse entsprechend, vorkommt und dass darüber ein „tautologischer“ Effekt der Klassenkomposition erzeugt wird. Wenn man diese, eigentlich selbstverständliche und in der Literatur zu den peer-Effekten auch vorgeschriebene Regel des leave-i-out für die Daten bei ES vollziehe, die das nicht gemacht hätten, fielen die Kompositionseffekte der kognitiven Homogenität der Schulklassen deutlich geringer aus (HM: 102 f. und die Tabelle B1 im Appendix dort).

Ohne Frage ist die Operationalisierung der schulischen Lernumwelten und die Identifikation der entsprechenden Schuleffekte eine voraussetzungsvolle Angelegenheit mit einer Reihe von Fallstricken und der Gefahr von Fehlschlüssen, auf die in besonderer Weise geachtet werden muss, darunter das Problem der artifiziellen Kovariation von abhängiger und unabhängiger Variable (vgl. die Fußnote 12 dazu bei ES: 291). Für die Analysen bei ES ist die Vorhaltung jedoch nicht nur gegenstandslos, sondern falsch. Es sind zwei Gründe. Sie haben beide damit zu tun, dass es gerade hier auf die theoretischen Details ankommt und darum, dass sich keine Routinen einschleichen, die für bestimmte Konstellationen sinnvoll sind, aber genau daran auch gebunden sind.

Erstens: Die abhängige individuelle Variable bei ES sind die Leistungen in der Sekundarstufe, die unabhängige Kontexteigenschaft aber die Zusammensetzung der Schulklassen nach den kognitiven Fähigkeiten, also zwei konzeptionell und empirisch unterschiedliche Merkmale, bei denen sich das Problem der schon analytisch erzeugten Kovariation eben nicht stellt. An dieser Stelle findet sich die wohl entscheidende Fehlannahme von HM wieder, die die ganze Entgegnung mehr oder weniger unmittelbar durchzieht: Die Annahme, dass die kognitiven Fähigkeiten und die Leistungen die gleichen Konstrukte und somit in den Analysen als Äquivalente zu behandeln wären (vgl. dazu den Aspekt 1 gerade oben schon). Zweitens: Man könnte das als eine verzeihliche Folge bestimmter Routinen ansehen, aber die Fehlanwendung liegt tiefer, nämlich in der nicht beachteten theoretischen Verankerung der Schuleffekte in unterschiedlichen Mechanismen. Der Einwand bei HM bezieht sich auf den Beitrag „The perils of peer-effects“ von Angrist (2014), also auf die Effekte von Gelegenheitsstrukturen für Interaktionen innerhalb der Schulklassen. Im theoretischen Modell des MoAbiT werden aber Effekte der Umstellung der Curricula und der Fokussierung des Unterrichts über das Lehrpersonal angenommen. Das jedoch sind, anders als die peer-Interaktionen, globale Merkmale des schulischen Kontextes, die alle in dem jeweiligen Kontext betreffen (vgl. zu diesen Unterscheidungen die frühe Typologie aus der soziologischen Kontext- und Mehrebenanalyse bei Lazarsfeld und Menzel 1961 bereits). Das Problem ist dann aber: Ein leave-i-out würde bei der statistischen Schätzung den Bezug der Effekte der kognitiven Homogenität der Schulklassen auf die Vorgänge, Curriculum und Unterricht, artifiziell vergrößern, ein Bezug, der faktisch jedoch unverändert ist, weil das Lehrpersonal es weiter mit der jeweils ganzen Klasse zu tun hat – und eben nicht mit jeweils individuellen und damit variierenden Umgebungen. Deshalb würde, ganz anders als bei den peer-Interaktionen, ein leave-i-out die Varianz innerhalb der Schulklassen artifiziell erhöhen und damit den Effekt der kognitiven Homogenität unterschätzen.

Und genau das zeichnet sich ja auch in den Analysen von HM ab. Der Befund bei HM, dass der Effekt der kognitiven Homogenität geringer ausfällt, wenn die leave-i-out-Regel fälschlicherweise angewandt wird, bedeutet so gesehen sogar eine Bestärkung des theoretischen Modells. Angrist, auf den sich HM in ihrer Vorhaltung an ES beziehen, hatte ausdrücklich davor gewarnt, die Regel automatisch und ohne Blick auf die Hintergründe, Vorgänge und insbesondere die jeweilige theoretische Modellierung anzuwenden (Angrist 2014: 101). Und die besagt bei ES, dass es nicht dieselben Konstrukte bei der Operationalisierung der abhängigen und der unabhängigen Variablen sind und – insbesondere – ein gänzlich anderer Mechanismus bei der Erklärung der Schuleffekte vorliegt: Curriculum und Unterricht als globale Merkmale im Unterschied zu den peer-Interaktionen und der Gelegenheitsstrukturen als analytische Merkmale der Schulklassen.

Eine kurze Bewertung

Die besprochenen drei Aspekte der Replik und der Replikationen von HM betreffen besonders sichtbare und folgenreiche Verletzungen der Anforderungen, die Lundberg et al. (2019) an quantitative Untersuchungen generell stellen: Die Abweichung von zentralen theoretischen Annahmen, Analysezielen und Analysestrategien des Originalbeitrags. In den weiteren von HM thematisierten Punkten ist es, von einigen technischen Hinweisen zur Datenlage des NEPS für die gegebene Startkohorte abgesehen, ganz ähnlich, besonders dort, wo der Ansatz von ES aus guten Gründen die gewohnten Pfade der Standardbeiträge im Zuge der PISA-Auswertungen verlassen und Bedingungen und Vorgänge einbezogen hat, an die vorher so gut wie nicht gedacht worden war – wie die kognitiven Fähigkeiten, die Strukturen der sozialen und kognitiven Zusammensetzung der Schulen und bestimmte Zusatzregeln zur Differenzierung, über die sich die theoretisch erwarteten Effekte erst erwarten lassen, aber bis dahin in keiner Studie berücksichtigt worden waren.

Die Einwendungen von HM haben aber auch den Anstoß für interessante und weiterführende Überlegungen und Re-Analysen gegeben, um verschiedenen Varianten, Vermutungen und speziellen technischen Aspekten auch empirisch nachzugehen. Dabei erwiesen sich die Hauptbefunde des Originalbeitrags als robust, teilweise zeichneten sich diese sogar noch deutlicher ab oder ergaben eine unerwartete zusätzliche Unterstützung für das angegriffene theoretische Modell. Ganz entscheidend war dabei der Befund, dass unter Beibehaltung des zentralen Estimandums bzw. Replicandums (der Dreifach-Interaktion von Stringenz, kognitivem Niveau und kognitiver Homogenität der Schulklassen) auch die verschiedenen Modifikationen bei HM kaum etwas an den Kernbefunden änderten. Dies verdeutlicht einmal mehr die Notwendigkeit auch bei Replikationen die ursprünglichen Analyseziele und theoretischen Hintergründe zu beachten und in der Umsetzung zu berücksichtigen. Hier war leider nicht der Platz, auf alle Einzelheiten in der nötigen Ausführlichkeit einzugehen. Man kann es aber nachlesen: im Online-Anhang hierzu und bei Esser 2023, Kapitel 9. Es lohnt sich.

Danksagung: Die Verfasser danken Jeremy Kuhnle, Stefanie Scherer, und Steffen Schindler sowie den Teilnehmern und Diskutanten auf dem Jahrestreffen „Analytical Sociology: Theory and Empirical Applications“ in Venedig am 14. November für die kritische Kommentierung und wichtige Hinweise.

Über die Autoren

Hartmut Esser

Hartmut Esser, geb. 1943 in Elend/Sachsen-Anhalt; Studium der Volkswirtschaftslehre und Soziologie in Köln; 1970 Diplom-Volkswirt (sozialwissenschaftlicher Richtung) in Köln; 1974 Promotion in Köln (Dr. rer. pol.); 1981 Habilitation in Bochum; 1974 – 1978 Akademischer Rat Ruhr-Universität Bochum; 1978–1982 Wissenschaftlicher Rat und Professor Universität Duisburg GHS; 1982–1987 o. Professor für Empirische Sozialforschung Universität Essen GHS; 1985 – 1987 Geschäftsführender Direktor des ZUMA, Mannheim; 1987–1991 o. Professor für Soziologie Universität zu Köln; 1991–2009 o. Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim. Seit August 2009 im Ruhestand.

Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie; Sozialwissenschaftliche Handlungstheorie; Migration, Integration und ethnische Konflikte; Familiensoziologie; soziale Ungleichheit; aktuell: Bildungs-Soziologie, insbesondere Bildungssysteme und Bildungsungleichheit; Methodologie der Sozialwisssenschaften: Erklärung, Kausalität und Theorienvergleich.

„Wie kaum in einem anderen Land?“ Die Differenzierung der Bildungswege und ihre Wirkung auf Bildungserfolg, -ungleichheit und -gerechtigkeit. Band 1: Theoretische Grundlagen, Band 2: Empirische Befunde. Frankfurt am Main, New York: Campus 2021/2023

Julian Seuring

Julian Seuring, geb. 1985 in Coburg/Bayern; Studium der Soziologie in Bamberg und Basel (CH); 2012 Diplom in Bamberg. 2012 – 2015, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie, insbesondere Sozialstrukturanalyse, Universität Bamberg; 2015 – 2017; Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Immigrants’ first and second language proficiency and social integration“ (SPP 1646 „Education as a Lifelong Process“), Universität Bamberg; 2017 – 2021 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator im DFG-Projekt „Aktuelle europäische Binnen- und Flüchtlingsmigration nach Deutschland: Zuzugsprozesse und frühe Integrationsverläufe“, Universität Bamberg. Seit 2021 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Bildungswege von geflüchteten Kindern und Jugendlichen“, Leibniz-Institut für Bildungsverläufe.

Forschungsschwerpunkte: Soziale und ethnische Ungleichheit, mit Schwerpunkt Bildung; Migration und Integration; Methoden der empirischen Sozialforschung.

Wichtigste Publikationen: German language acquisition of refugee children – The role of preschools and language instruction (zus. mit G. Will). Frontiers in Sociology, 7, 2022. doi: https://doi.org/10.3389/fsoc.2022.840696, Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit (zus. mit H. Esser). In: Zeitschrift für Soziologie, 49, 2020, 277–301. Ethnic classroom composition and minority language use among classmates: Do peers matter for students’ language achievement? (zus. mit C. Rjosk & P. Stanat). In: European Sociological Review, 36, 2020, 920–936, Spracherhalt oder Sprachverlagerung? (zus. mit B. Strobel) Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 68/2016, 309–339, Why bother with testing? The validity of immigrants’ self-assessed language proficiency (zus. mit A. Edele, C. Kristen & P. Stanat). In: Social Science Research, 52, 2015: 99–123.

Literatur

Angrist, J. D. 2014. The perils of peer effects. In: Labour Economics, 30, Issue C: 98–108.10.1016/j.labeco.2014.05.008Search in Google Scholar

Esser, H. 2021. „Wie kaum in einem anderen Land?“ Die Differenzierung der Bildungswege und ihre Wirkung auf Bildungserfolg, -ungleichheit und -gerechtigkeit. Band 2: Theoretische Grundlagen. Frankfurt am Main, New York: Campus.Search in Google Scholar

Esser, H. 2023. „Wie kaum in einem anderen Land?“ Die Differenzierung der Bildungswege und ihre Wirkung auf Bildungserfolg, -ungleichheit und -gerechtigkeit. Band 1: Empirische Zusammenhänge. Frankfurt am Main, New York: Campus.Search in Google Scholar

Esser, H. & J. Seuring. 2020. Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit. Theoretische Modellierung und empirische Analyse der Effekte einer strikten Differenzierung nach den kognitiven Fähigkeiten auf die Leistungen in der Sekundarstufe und den Einfluss der sozialen Herkunft in den deutschen Bundesländern mit den Daten der „National Educational Panel Study“ (NEPS). In: Zeitschrift für Soziologie, 49: 277–301.10.1515/zfsoz-2020-0025Search in Google Scholar

Heisig, J.P. & S. H. Matthewes. 2021. Keine Belege für leistungsfördernde Effekte von strikter Leistungsdifferenzierung und kognitiver Homogenisierung: Eine kritische Reanalyse von Esser und Seuring (2022). In: Zeitschrift für Soziologie, 51: 99–111.Search in Google Scholar

Kohler, U., F. Class & T. Sawert. 2023. Control variable selection in applied quantitative sociology: a critical review. In: European Sociological Review, 2023: 1–14.10.1093/esr/jcac078Search in Google Scholar

Lazarsfeld, P.F. & H. Menzel. 1961. On the Relation between Individual and Collective Properties. In: A. Etzioni, Hrsg., Complex Organizations, New York: Holt, Rinehart & Winston: 422–440.Search in Google Scholar

Lundberg, I., R. Johnson & B. M. Stewart. 2021. What Is Your Estimand? Defining the Target Quantity Connects Statistical Evidence to Theory. American Sociological Review. OnlineFirst. https://doi.org/10.1177/00031224211004187.10.31235/osf.io/ba67nSearch in Google Scholar

Online erschienen: 2023-08-05
Erschienen im Druck: 2023-08-23

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 1.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfsoz-2023-2021/html
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