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BY 4.0 license Open Access Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag December 2, 2023

Diesseits und jenseits der Apokalypse. Offenbarung als implizites Deutungsmuster der soziologischen ‚Bewältigung‘ der Corona-Pandemie

Yener Bayramoğlu / María do Mar Castro Varela, Post/pandemisches Leben: Eine neue Theorie der Fragilität. Bielefeld: Transcript Verlag 2021, 208 S., kt., 19,50 € Gerard Delanty (Eds.), Pandemics, Politics, and Society: Critical Perspectives on the Covid-19 Crisis. Berlin/Boston: De Gruyter 2021, 278 S., br., 34,95 € Bruno Latour, Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown. Berlin: Suhrkamp 2021, 199 S., kt., 16,00 € Alexander-Kenneth Nagel, Corona und andere Weltuntergänge: Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft. Bielefeld: transcript 2021, 212 S., kt., 30,00 €

  • Michael Ernst-Heidenreich EMAIL logo
From the journal Soziologische Revue

Rezensierte Publikation:

Yener Bayramoğlu / María do Mar Castro Varela, Post/pandemisches Leben: Eine neue Theorie der FragilitätPandemics, Politics, and Society: Critical Perspectives on the Covid-19 CrisisWo bin ich? Lektionen aus dem LockdownCorona und andere Weltuntergänge: Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft. Bielefeld. Berlin/Boston. Berlin. Bielefeld: Transcript Verlag: De Gruyter: Suhrkamp: transcript 2021 2021 2021 2021, 208 S., kt., 19,50 € ■ Gerard Delanty (Eds.), , 278 S., br., 34,95 € ■ Bruno Latour, , 199 S., kt., 16,00 € ■ Alexander-Kenneth Nagel, , 212 S., kt., 30,00 €


1 Soziologie als Offenbarungswissenschaft?

Die inzwischen endemisch gewordene Corona-Pandemie sticht aus der Vielzahl der Krisenerscheinungen der letzten Jahre heraus. Zum einen hob 2020 die SARS-CoV-2-Pandemie in zuletzt kaum gekannter Weise temporär die Routinen des Alltagslebens aus den Angeln. Zum anderen wuchs sich – mit zeitlichen Versetzungen – die Pandemie zur globalen Erfahrung schlechthin aus. Weder hatte die Pandemie überall dieselben Auswirkungen, noch saß und sitzt die ganze Menschheit im selben Boot, doch niemand wurde von den Auswirkungen verschont. Die Pandemie erzeugt eine Art gesellschaftlichen Infarkt, der schlagartig sehr Verschiedenes offen zu Tage treten lässt, was im stumpfen, krisenfreien Alltag latent und unsichtbar blieb.

Dass soziologische Beobachter:innen schnell damit beginnen, sich an den Besonderheiten der krisenhaften Episode der Pandemie abzuarbeiten, ist weder verwunderlich, noch zu bedauern. In der soziologischen Literatur zur Corona-Pandemie zeigt sich ein wiederkehrendes Muster, die Pandemie als Offenbarungsmoment zu deuten. Mitunter greifen Autor:innen (implizit) in ihren Darstellungen auf Elemente quasi-apokalyptischer Deutungen zurück, indem sie Momente der Offenbarung mit Elementen daraus erwachsender Prüfungen und zuletzt Motiven der Erlösung, Utopie und Dystopie verketten. Im Rahmen dieses Themenessays werde ich mich mit einigen ausgewählten Schriften dieser ‚Corona-Soziologie‘ (Bayramoğlu & Castro Varela; Delanty; Latour; Nagel) auseinandersetzen, um so in eine allgemeinere Diskussion der Soziologie „als Krisenwissenschaft“ einzutauchen und die Frage zu erörtern, inwiefern es soziologischen Deutungen gelingt, apokalyptischen Simplifizierungen zu entgehen.

2 Apokalyptische Krisenhermeneutik

Alexander-Kenneth Nagel geht in Corona und andere Weltuntergänge davon aus, „dass auch in modernen Gesellschaften ein ständiges Genre ‚apokalyptischer Krisenhermeneutik‘ wirksam ist“ (Nagel, S. 8).[1] Aus einer wissenssoziologischen Perspektive interessiert sich Nagel für die Persistenz und „anhaltende Plausibilität“, die subjektive Aneignung sowie schließlich die Handlungsrelevanz dieser Deutungsmuster (vgl., S. 18). Während sich eine Kontinuität apokalyptischer Deutungen in der Gegenwart erkennen lässt, haben sich diese verändert. Mit Verweis auf Claudia Gerhards (1999, S. 25) spricht Nagel von einer „Technisierung und Mediatisierung des apokalyptischen Diskurses“. Im Kontext der Moderne formieren sich im Gewand apokalyptischer Krisenhermeneutik sowohl „antirationalistische Gegenprogramme“ als auch Programme, die „einen rationalistischen Gestus aufweisen“ und damit das „Projekt der Moderne“ gleichsam konsequenter weiterzuschreiben beabsichtigen (vgl. Nagel, S. 18).

Für die Analyse gegenwärtiger apokalyptischer Krisenhermeneutik greift Nagel (vgl. S. 33) auf Klaus Vondungs (1988) Untersuchung von Bildern, Stil und Pragmatik unterschiedlicher Formen der Apokalypse zurück. Einerseits sind apokalyptische Deutungen mit Semantiken und Bildern der Zerstörung, der Gefährdung und des Untergangs verbunden, die aber nunmehr zweitens in eine umfassendere rhetorische Syntax eingebettet seien. Die Syntax der Apokalyptik umfasst nach Vondung drei Elemente: Krise, Gericht und Erlösung. Bleibt die Krisenrhetorik bei Krisenanalyse und Gericht stehen, handele es sich mit Vondung um eine „kupierte Apokalypse“ (Nagel, S. 38; Vondung, 1988, S. 106). Mit Gerhards benennt Nagel (S. 41) zuletzt regressive und progressive Typen modernisierter apokalyptischer Rhetorik, die einerseits fortschrittskritisch – Gerhards (vgl. 1999, S. 37–38) spricht auch von inverser Apokalypse, sofern diese Deutungen ihr Heil in einem mythisch anmutenden, vergangenen gleichsam ‚goldenen Zeitalter‘ verorten – auftritt und andererseits mit der Hoffnung auf Fortschritt eine bessere Zukunft verspricht. Nach Semantik und Syntax untersuchen Nagel wie Vondung die apokalyptische Pragmatik. Es geht hier um die Frage, ob die apokalyptischen Deutungen tröstend an Betroffene appellieren, ihr Schicksal zu erdulden („apokalyptischer Quietismus“), oder der Agitation dienen, um nicht nur auf Heil zu hoffen, sondern dieses tatkräftig („apokalyptischer Aktivismus“) einzufordern beziehungsweise selbst zu verwirklichen (vgl. Nagel, S. 42–43; Vondung, 1988, S. 336–338).

3 Zwischen Aufklärung und Offenbarung: Soziologische Herausforderungen

Vondungs (1988, S. 1) Untersuchung stellt die scharfe These auf, dass „in Deutschland [...] die Apokalypse schon immer Konjunktur“ hatte. Gerhards fokussiert den Komplex von Apokalypse und Moderne, indem sie sich mit Werk und Briefwechsel der Autoren Alfred Kubin und Ernst Jünger auseinandersetzt. Nagel schließlich zeigt, dass auch in der Gegenwart die Konjunktur apokalyptische Deutungen anhält. Alle drei Autor:innen zitieren peripher auch sozialwissenschaftliches Schrifttum, ohne aber die naheliegende Frage zu stellen, welche Rolle der Krisenwissenschaft Soziologie im Konzert modernisierter Offenbarungserzählungen und Apokalyptik zufällt. Als ‚spätes Kind der Aufklärung‘ leuchtet die akademische Soziologie gesellschaftliche Komplexität aus. Sie hat hierzu unterschiedliche methodologische wie methodische Programme kontrollierter Erkenntnisgewinnung entwickelt. Gleichzeitig kann sie als „Wirklichkeitswissenschaft“ (Weber, 1922) nicht umhin, auf das Zeitgeschehen in der vergesellschafteten Welt und die dort auftauchenden Krisen zu reagieren. Gehören Krisen und Disruptionen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, sind diese auch Gegenstand einer – häufig mit sich selbst und akademischen Positionierungsspielen beschäftigten – Soziologie als „Krisenwissenschaft“ (Blättel-Mink, 2019). Doch wenn Krisen Erkenntnisse offenbaren, geschieht etwas anderes, als wenn wissenschaftliche Untersuchungen methodisch kontrolliert Sachverhalte aufklären.

Aufklärung soll mit Immanuel Kant (1974[1784], S. 9) den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ herbeiführen. Sie ist insofern ein aktivistisches Konzept, als sie ein Subjekt verlangt, welches sich durch den Mut sich des „eigenen Verstandes zu bedienen“ (1974[1784], S. 9) auszeichnet und dieses sich in der Folge zur Aufklärung selbst ermächtigt. Der Begriff der Offenbarung ist anders gelagert. Etwas, das bislang nicht ersichtlich war, eröffnet sich in einem Hier und Jetzt einem Subjekt oder auch einer umfassenderen Gruppe. Diese Form der Erkenntnis ist abhängig von einem kontingenten Offenbarungsmoment. Wird der Begriff seiner religionsgeschichtlichen Referenzen entkleidet, bleibt ein Transzendenzbezug, der nüchtern auf die Gelegenheit des Offenbarung stiftenden Ereignisses verweist. Mit Latour (2008) gesprochen sind Labor und Experiment die paradigmatischen Situationen der Wissensproduktion im Projekt der Aufklärung; hingegen ist die Krise die paradigmatische Situation der Offenbarung. Während beide Formen in wissenschaftsförmige Kontemplation eingebettet werden können, bleibt die Differenz zwischen der aktivistischen Form der Aufklärung und der letzthin akzidentiellen Kontemplation der Offenbarung bestehen. Die Form des Erkenntnisprozesses – sei es via „Aufklärung“ oder via „Offenbarung“ – lässt keine Rückschlüsse über die Güte der gewonnenen Erkenntnisse zu. Während Beobachter:innen die Bedingungen ihrer Experimente zu einem erheblichen Grad kontrollieren (zuweilen manipulieren, immer aber beeinflussen), damit aber auch immer beschränken, ergeben sich Krisen – auch in den nicht erwarteten Nebenfolgen von Experimenten – zufällig und sind in ihren Wirkungen prinzipiell uneingeschränkt.[2] Findet experimentelles Denken vorrangig im Korsett des Experimentaldesigns statt, fehlen der kriseninduzierten Kontemplation hierzu analoge Schranken. Dahingehend ist es ein ‚wildes Denken‘, zugleich unbegrenzter und zügelloser. Das soziologische Nachdenken über die Komplexität der Welt nutzt beides: das gezielte Auseinandersetzen im methodischen Korsett empirischer Untersuchungen und die Untersuchung realer Krisen im Kleinen wie Großen; nicht zuletzt indem sie künstlich problematisiert, was als unproblematisch gilt.

Die Corona-Pandemie stiftet ein umfassendes Offenbarungsmomentum, das Soziolog:innen unterschiedlichster Spezialisierung Anlass zur Reflexion gegenwärtiger vergesellschafteter Verhältnisse bietet. Im Geschäft der Beobachtung, Reflexion und schließlich der Verlautbarung von Erkenntnissen sind sie nicht allein. Sie teilen sich das Feld mit anderen Autor:innen anderer Fachdisziplinen und nicht-akademischen Beobachter:innen. Weder hat die Soziologie allein das Recht gepachtet, gesellschaftliche Entwicklungen zu beobachten, noch ist sie vor Irrtümern gefeit. Gleichwohl operiert sie in einem reflexiven Debattenzusammenhang, der ihr analytische Sichtgeräte in Form von Begriffen, Konzepten und Theoremen zur Verfügung stellt. Analytisch müssen Soziolog:innen das Rad nicht neu erfinden,[3] wenn sie gegenwärtige Krisen zum Untersuchungsgegenstand machen. Es ergeben sich gleichwohl einige Fragen: Auf welche Weise machen sich soziologische Autor:innen das Offenbarungsmoment der Corona-Pandemie zu Nutze? Zu welchen Erkenntnissen gelangen sie? Inwiefern greifen auch soziologische Beobachter:innen auf Formen moderner Apokalyptik zurück? Oder gelingt es gar soziologisch relevante „Offenbarungsreflexionen“ jenseits von apokalyptischer Dystopie und/oder Utopie zu formulieren? Die ‚Corona-Soziologie‘ der letzten Jahre kann hier der Selbstaufklärung dienen.

4 Soziologische Offenbarungserzählungen

4.1 Offenbarungen der ‚ersten Stunde‘

Bereits im Februar 2021 gibt Gerard Delanty mit Pandemics, Politics, and Society. Critical Perspectives on the COVID-19 Crisis einen Sammelband heraus, der dem Bedürfnis nach einer umfassenden soziologischen Beurteilung der aktuellen Situation und mit ihr verbundenen Zukunftsaussichten Rechnung tragen soll. Der Zusammenbruch der Normalität entblößt für Stephan Turner den Staat als Souverän im Ausnahmestand (Agamben, 2002; 2004): mit Blick auf die Attentate von 9/11 und die Weltfinanzkrise ab 2007, nicht die einzige exzeptionelle Situation der letzten Jahre, wie Bryan S. Turner bemerkt. Gleichwohl legt die Pandemie die Grenzen von Demokratien offen „in enforcing quarantine measures and other regulations over erstwhile free citizens“ (Turner, B. S. in Delanty, S. 153). Auf europäischer Ebene zeigt sich für Jonathan White gleichwohl die politische Bewältigung dieser besonderen Krise, als Kontinuität vorangegangener Krisenbewältigung. Diese bestehe vornehmlich darin, die Vor-Krisen-Ordnung zu stützen. Wenn auch Pandemien nicht neu sind, so ist es doch die Dominanz medizinischer Expertise. Während medizinisches Wissen zweifellos wertvoll ist, zeigt sich, dass es nicht dazu in der Lage ist, die Breite der Herausforderungen der Pandemie zu adressieren. Expertise, die zu nah an Politik und Ökonomie gerät (Zielonka in Delanty), droht selbst zum Spielball von Politiken zu werden und trägt in der ‚Gladiatorenarena‘ der durch soziale Netzmedien entfesselten Öffentlichkeit (vgl. Turner, S. in Delanty, S. 46) in Teilen dieser Öffentlichkeit einen veritablen Imageschaden davon.

Auf welcher Seite der öffentlichen Debatte man auch stehen mag, die Massivität der Gemengelage von Pandemie und Pandemiepolitik sind kaum zu leugnen. Während das Virus grassiert, gerät die Debatte um eine womöglich weit massivere Klimakrise in den Hintergrund der politischen Aufmerksamkeit: Es offenbart sich die Differenz zwischen schlagender Krise in Form einer mitunter tödlichen Krankheit und der „Catastrophe without Event“ wie Eva Horn (S. 129) bemerkt. Die Intensität der globalen Covid-19 Krise ergibt sich für Daniel Chernilo gerade dadurch, dass sie sich nicht ausschließlich global, sondern auch national und international als Krise manifestiert. Mehr noch: „this is arguably the first global phenomenon in human history in which the majority of the world’s population is experiencing a similar event at the same time.” (Chernilo in Delanty, S. 157) Insofern werden in der Krise globale Interdependenzen individuell greifbar. Frédéric Vandenberghe und Jean-François Véran akzentuieren die besondere Erfahrung der Pandemie, indem sie diese mit Marcel Mauss (1990[1950]) als soziales Totalphänomen charakterisieren. Gleichzeitig sehen sie die Pandemie als Wendepunkt und sind mit Verweis auf Karl Polanyi (1957) der Ansicht, dass alle Zeichen gefährlich auf eine weitere „Great Transformation“ hinweisen, heute aber die soziale Ordnung des zwanzigsten Jahrhunderts kollabieren würde.

Unter den disruptiven Bedingungen der Pandemie und politischen Bemühungen Menschen zu schützen, treten massive Ungleichheiten zu tage. Die Pandemie wird zu einem Kampfplatz für Gerechtigkeitsfragen (Avlijas in Delanty). Wie das „Endgame“ (Turner, S. in Delanty, S. 56) ausgehen wird, bleibt offen. Chernilo (S. 168) formuliert die Hoffnung, dass gar ein „new type of cosmopolitan solidarity“ in Entstehung sei, die womöglich dazu geeignet wäre, den Verwerfungen einer in die Krise geratenen Globalisierung zu begegnen. Die Coronapandemie wäre somit als kritischer Augenblick zu betrachten, der progressive soziale Bewegungen tiefgreifend beeinflusst und gleichzeitig deren besondere Bedeutung unterstreicht (della Porta in Delanty, S. 209). Die soziologischen Corona-Offenbarungen erklingen polyphon.

4.2 Offenbarungen in kritischer Absicht

Aus der Perspektive einer kritischen Soziologie blicken Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela im Herbst 2021 auf ein Post/pandemisches Leben und umkreisen Eine neue Theorie der Fragilität. Eine solche Theorie soll „die Unschärfe, die Unklarheit, die Unsicherheit, die die Pandemie begleiten, in Worte“ fassen, versuchen „das Unbegreifliche zu vermitteln“ sowie die damit verbundenen „ermächtigenden wie zerstörerischen Potenziale von Ambiguitäten und Widersprüchen sichtbar“ machen (S. 11–12). Ihre Argumentation basiert auf „Auseinandersetzungen mit queeren, feministischen, postkolonialen und posthumanistischen Ansätzen“, da diese auf besondere Weise dazu geeignet seien „hegemoniale Selbstverständlichkeiten [zu] hinterfragen und die Fragilität von ‚Normalität‘ sichtbar zu machen“ (S. 16). Auf der einen Seite entwickeln die Autor:innen eine Kritik an der „Politik der Starken und der Ignoranz“ (27–28). Sie verstehen darunter eine „von sozialer Kurzsichtigkeit geprägte Politik“, die einerseits von der „Maximierung des eigenen Profits“ geprägt ist, andererseits auf ruchlose Weise „zerstörerisch und mörderisch“ (S. 17) wirkt. Ihren deutlichen Ausdruck finde diese Politik in der persistenten Ignoranz des Klimawandels. Auf der anderen Seite plädieren Bayramoğlu und Castro Varela für eine „Verschiebung der Aufmerksamkeit von Fragen der Stärke, des Überlebens und des Gewinnens hin zu einer Akzeptanz der Zerbrechlichkeit menschlicher, politischer und planetarischer Ordnungen, der wir während der jüngsten Pandemie gewahr wurden.“ (S. 29)

Im Angesicht des Virus zeigten sich „[u]nsere Körper und die Welt [...] in ihrer kompletten Fragilität“ (S. 27). Die Autor:innen behandeln Fragilität als grundlegendes Strukturmoment des Lebens, thematisieren aber auch rassistische Ungerechtigkeiten und globale Ungleichheiten. Covid-19 mag keinen Unterschied zwischen Menschen machen, aber gesellschaftliche Umstände verstärken und vermindern Fragilitäten. So ist es kein Zufall, dass beispielsweise in den USA oder Brasilien vor allem „Schwarze Menschen, aber auch die indigene Bevölkerung am härtesten“ (S. 86) von der Pandemie getroffen wurden und überproportional häufig gestorben sind. Dies sei Ausdruck einer Nekropolitik (Mbembe, 2008), die nicht zufällig operiere. Ganz allgemein stellen die Autor:innen fest: „Die Pandemie verschärft vorhandene soziale Ungleichheiten und fördert das Sterben lassen von Menschen in den Peripherien der Gesellschaft“ (S. 86). Ebenso problematisch offenbaren sich interstaatliche Machtasymmetrien und globale Ungleichheiten, wenn ein „Impfnationalismus“ vernünftige Impfpolitik unterläuft. „Wenn die ›Anderen‹ sterben gelassen werden, gefährdet dies auch das Leben der ›Schutz-würdigen‹ [...]“ (S. 88), da das Virus nicht an Grenzen hält macht oder nach dem Ausweis fragt. Im Bereich der Digitalisierung und Datafizierung des Sozialen beklagen Bayramoğlu und Castro Varela etwa mit Verweis auf Nick Couldry und Ulises A. Maijas (2019) die Entstehung einer „neuen Ära“ bzw. eine „Kontinuität des Kolonialismus“. Hier sei „doch die gleiche Logik am Werk wie bereits bei der Betrachtung kolonisierter Territorien als terra nullies (leeres Land)“ (Bayramoğlu & Castro Varela, S. 90). Digitalisierung ermöglicht wenigen den Zugriff auf große Sammlungen von Daten. Sie erlaubt „den Lebensraum anderer Menschen“ zu überwachen und zu kontrollieren. Zudem tragen ihre Algorithmen sowohl dazu bei Desinformationen (S. 91; S. 162) zu kreieren und zu streuen, als auch rassistische Biases algorithmisch auf Dauer zu stellen (S. 93). Nicht zuletzt sein „[d]ie gezielte Zerstörung des brasilianischen Regenwaldes [...] Teil des rassistischen, kolonialen und nekrokapitalistischen Projekts“ (S. 74), das jedoch nur ein Beispiel für einen rücksichtslosen Umgang mit nichtmenschlichem Leben darstellt.

Während die Pandemie die grundsätzliche Fragilität noch stärker offenbart, formulieren Bayramoğlu und Castro Varela eine Vielzahl von Ansprüchen, die einerseits an eine ‚neue‘ Theorie der Fragilität, andererseits an gesellschaftliche Veränderungen gestellt werden können. So müsse sich etwa ein „Nachdenken über ein post/pandemisches Leben“ mit den „Auswirkungen der Digitalisierung“ (S. 17) befassen. Laut den Autor:innen sollten wir angesichtes der Pandemie „nach Möglichkeiten suchen, Fähigkeiten und Reflexe zu schulen, die unsere Gabe zu Solidarität, Empathie und Fürsorge am Leben erhalten“ (S. 23). Da die „Politik der Starken“ tödliche Konsequenzen mit sich führe, „wird es darum gehen müssen, diese Politik zu überdenken“ (S. 28). Die Autor:innen plädieren für „Utopiefähigkeit“ und stellen die Forderung auf, dass „[w]ir intellektuell in Bewegung bleiben und eine Zukunft einfordern müssen, die besser ist als die Gegenwart“ (S. 46). Nationale Ungleichheiten der Priorisierung der Gesundheitsversorgung verlangen danach „Ungleichheiten zwischen dem ‚Westen‘ und dem ‚Rest‘“ (S. 75) zu untersuchen. Aufgrund der mangelhaften globalen Gerechtigkeit bedarf es hier Strategien, welche „die Verflochtenheit von Menschen und Umwelt zumindest in den Blick nehmen“ (S. 85). Die Auswüchse der Nekropolitik gilt es, bis in ihre „Kapillaren“ zu erkunden (S. 89), aber um sie „zum Stillstand“ zu bringen, „muss eine Dekolonialisierung von Wissen und eine De-Subalternisierung vorangetrieben werden“ (S. 102). Bayramoğlu und Castro Varela formulieren somit einen umfassenden Aufruf zum Handeln, dessen Ausgangspunkt sie in der Anerkennung und Reflexion prinzipieller Fragilität sehen. Sollten die Gesellschaften diese Prüfung nicht bestehen, wird es vielleicht für eine Änderung zu spät sein und womöglich die „Spezies Mensch nicht überleben“ (S. 187). Die Autoren schließen mit der Feststellung: „Sollte es uns nicht gelingen, Strategien im Umgang mit der allumfassenden Fragilität zu entwickeln, die auf dem Respekt vor anderen Leben beruhen, wäre es wohl nur angemessen, wenn wir uns als Spezies von diesem Planeten verabschieden.“ (S. 187). Ein dystopisches Bild.

4.3 Lektionen für eine symmetrischen Anthropologie

Die kollektiv geteilte Erfahrung der Coronapandemie wird auch in Bruno Latours (2021) Essay Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown als Offenbarungsmoment identifiziert. Welche Lektionen werden nun hier offenbart? Wie Gregor Samsa in Kafkas Erzählung Die Verwandlung erwacht Latours literarisches Ich in einer Welt, in der geradezu nichts noch so zu sein und zu funktionieren scheint wie zuvor. Eben noch kann es im eigenen Körper „herumreisen“, um im nächsten Moment nicht nur dieses Selbstverständnis zu verlieren, sondern im Bewusstsein zu leben, eine „Aerosolwolke vor [sich] her“ zu treiben, „deren feine Tröpfchen Viren verbreiten, die in die Lungen geraten und [...] Nachbarn töten können“ (S. 13). Latour schlussfolgert allgemein: „Ich muss lernen, vorn und hinten gewissermaßen einen Panzer täglich schlimmer werdender Konsequenzen mit mir herumzuschleppen“ (S. 13).

Indem der Lockdown uns selbst einsperrt, andere abriegelt und das Zwischen blockiert, legt er das Netz selbstverständlicher, lokaler Abhängigkeiten und Einflüsse offen, welches unserem Alltagsleben zugrunde liegt. In dieses versponnen sind „all die in der Lebensmittelwirtschaft Tätigen, die Lieferanten, Spediteure, nicht zu vergessen die Krankenschwestern, Notarzthelfer und ‚Pflegekräfte‘, [...] unter ihnen häufig ‚Farbige‘, wie es früher hieß, und zuweilen Menschen ohne Aufenthaltsstatus.“ (53–54) Die zweite Lektion besteht darin, alle Illusionen der Selbstgenügsamkeit fahren zu lassen. Als Menschen leben wir immer in einem Geflecht von Interdependenzen, von welchem wir individuell selbst weit mehr abhängen als dieses Netz von uns. Eine weitere Lektion des Lockdowns ist die Umkehrung von Wertungs-Relationen: „Berufe, die man zu missachten geneigt war, wurden essentiell, und umgekehrt.“ (S. 54) In der Pandemie vermisst niemand die Unternehmensberater:innen, während dem Personal von Krankenhäusern, Lebensmittelgeschäften und anderen lebensnotwendigen Berufen – leider vollkommen folgenlos – abendlich auf Balkonen applaudiert wird. Zuletzt erweist sich die Pandemie als komplexes Gewebe epidemiologischer, medizinisch-technischer, politischer, sozialer, psychologischer, etc. Komponenten. Der wissenschaftliche Blick kann diesen komplexen und zudem lebendigen Zusammenhang der Pandemie nur sehr unzureichend abbilden; „Ärzte und Epidemiologen hatten, Tag für Tag [Schwierigkeiten] ihre Kenntnisse über dieses verdammte Covid-19 zu »vereinheitlichen«“ (S. 52–53).

Spätestens auf halben Weg wird deutlich, dass Latour kein Buch über die Coronapandemie geschrieben hat, sondern die universell geteilten, disruptiven Erfahrungen des Lockdowns als Allegorie nutzt, um mit kognitiven Irrtümern des eingeschliffenen ‚modernen‘ Selbst- und Weltverhältnisses aufzuräumen. Der Lockdown ist das Schlüsselloch durch das man blicken kann, um diese hinter sich zu lassen. Dass es eine Pandemie in dieser Form gibt, hat etwas mit einer invasiven, global vernetzten und fatal folgenreichen Lebensweise zu tun. Wenn man aber einsieht, dass die Welt der Viren im wesentlichen menschgemacht ist, kann man auch einsehen, dass in einem viel allgemeineren Sinne die planetaren Lebensbedingungen – denen alle aktuellen Existenzformen ihr Dasein verdanken – durch eben diese Existenzformen hervorgebracht wurden. „Die gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte“, erklärte uns einst Pierre Bourdieu (1983). Latour führt uns vor Augen, dass die „natürlichen Lebensbedingungen“ gleichfalls das akkumulierte Produkt der Existenzformen sind. „Die ‚leblosen Dinge‘ existieren nur aufgrund eines Gedankenexperiments“ (Latour, 2021, S. 109); tatsächlich sind etwa Atmosphäre, Boden, Flora und Fauna soviel Ergebnis vorheriger Existenzen wie sie Grundlage für die heutigen darstellen.

Nicht nur sind wir in funktional differenzierten Gesellschaften von anderen Menschen abhängig. In unserer Existenz hängen wir von unzähligen anderen Existenzformen ab, die uns beispielsweise besiedeln und Lebensgrundlage bieten. Autonomie ist eine Chimäre, während die Faktizität sich als heterotroph erweist (vgl. S. 63). Bourdieu (1983, S. 184) warf der Ökonomie vor „nicht einmal das Gesamtgebiet der ökonomischen Produktion“ abdecken zu können. Latour spricht der dominanten ökonomischen Betrachtungsweise nun ab, auch nur partial dazu geeignet zu sein, das Netz existentieller Relationen zu beschreiben, die das Leben in, mit und von der Erde auszeichnen. Er sieht in der Ökonomie eine Form „säkularisierter Religion“ (S. 74), deren Deutungen auf die Imagination isolierter Individuen und eine leblose materielle Welt bauen. „Die Erfahrung des Lockdowns annehmen heißt, sich endlich von den Grenzen unbestreitbarer Individualität befreit zu finden“ (S. 92), schreibt Latour. Das bedeutet für ihn aber auch den Deutungsanspruch der Ökonomie zugunsten einer um Ausbesserung (S. 153) bemühte Ökologie zurückzuweisen, der die Hypostase des individuellen Nutzenmaximierers fremd ist und als eine „Position des Abzockers“ (S. 151) erscheint. Eine alternative Betrachtungsweise liegt für Latour darin, die lokalen Interdependenzen und Verflechtungen ernst zu nehmen. Beschreibungsrelevant ist nicht das, was monetär nutzt, sondern existentielle Relationen. „‚Nah‘ bedeutet dann [...] ‚was mich unmittelbar angreift oder am Leben erhält‘. ‚Fern‘ bedeutet [...] das, worum ihr euch nicht sofort sorgen müsst, weil es auf die Dinge, von denen ihr abhängt, keine Auswirkungen hat“ (S. 103). Eine solche Beschreibung lässt sprichwörtlich eine neue Landschaft auftauchen (S. 109).

Latour plädiert für eine strickt diesseitige Perspektivierung lokaler wie planetarer Interdependenzen, die Jenseitsausflüchte ausklammert. Diesem Terrestrischen Manifest (Latour, 2018) stellt er die Vorstellung gegenüber, man könne sich den prekären irdischen Verhältnissen per Flucht entziehen: Latour spielt darauf an, dass die religiöse Jenseits-Orientierung, um dort ein qualitativ höherwertiges Leben zu erreichen, dem tatsächlichen Aufbruch in die Höhe gewichen ist. Elon Musks Raketenfetisch entlarvt Latour (2021, S. 74–75) als weitere säkulare Form einer Abwendung vom Diesseits. Für diese Art von Posthumanist:innen – man könnte mit Latour auch sagen Postterrestrier:innen – ist noch das Jenseits technisch erreichbar. Es geht ihnen darum, das Eingesperrt-sein im Diesseits von Körper und Erde zu verlassen. Im letzteren Fall soll die eigene Positionalität verrückt werden, um dann in einem wie auch immer gearteten dort – sei es der Weltraum oder der Mars etc. – umso mehr eingesperrt zu sein in künstliche Atmosphären, Schutzhüllen und Schutzanzügen; ein verrückter Weltzugang in jeder Hinsicht.

Es ist vielleicht etwas überzogen zu behaupten, der kleine Essay Wo bin ich? enthalte den ganzen Latour, aber Latour spannt in diesem Essay einen pointierten weiten Bogen von seinem Versuch einer symmetrischen Anthropologie (Latour, 2008) und Plädoyer für eine politische Ökologie (Latour, 2009) über dessen Reformulierung im Projekt Existenzweisen (Latour, 2014) bis zu seinen politisch engagierten Schriften der jüngeren Vergangenheit (Latour, 2017; Latour & Schultz, 2023; Latour & Wiebel, 2020).

5 Fazit

Die hier vorgestellten Bücher zentrieren auf je unterschiedliche Weise den Offenbarungscharakter der Pandemie. Alexander-Kenneth Nagel zeigt, wie die mediale Berichterstattung, die Pressearbeit der Bundesregierung, aber auch verschwörungstheoretische Zirkel und Debatten in sozialen Netzwerkmedien – wenn auch keineswegs in derselben Form und mit identischen Intentionen – auf Elemente einer apokalyptischen Krisenhermeneutik zurückgreifen, die sich systematisieren lassen. Nagel liefert für diesen Essay einen Referenzpunkt, von dem aus sich die Frage stellen lässt, wie soziologische Autor:innen mit dem Offenbarungsmoment der Corona-Pandemie umgehen.

Die bereits früh während der Pandemie verfassten Beiträge von Delanty und Kolleg:innen decken ein weites Spektrum an Themen, Ausschnitten sozialer Wirklichkeit und soziologischen Denkfiguren ab. Den Band durchzieht zwei Suchbewegungen. Auf der einen Seite blicken die Autor:innen auf die Pandemie, um auf Basis von Eigenarten und Merkwürdigkeiten Muster zu entdecken. Auf der anderen Seite blicken sie auf soziologische Theorien, um diese auf die Brauchbarkeit ihrer Angebote zu befragen. Die Beiträger:innen formulieren Deutungen, die den Charakter der Offenbarung tragen, Prüfungskonstellationen benennen und einen Blick in die Zeit nach der Pandemie wagen. Eine ausgesprochene Apokalyptik der Deutungen kann nicht festgestellt werden. Die Beiträge zeugen vielmehr von einem Bedürfnis, das Unerwartete und vielleicht auch Unheimliche der Pandemie auf Begriffe zu bringen, um sich so einen Reim auf das Geschehen zu machen.

Für Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela eröffnet die Corona-Pandemie zunächst eine doppelte Erkenntnischance: Da ist die prinzipielle Fragilität sozialer Ordnung wie menschlicher Existenzformen. Aber auch eine hochproblematische Verschärfung sozial bedingter Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsrelationen wird ersichtlich, die sich nicht zuletzt massiv gewaltvoll in Ungleichheiten des Leidens und Sterbens äußert. Sie stellen sich in die Tradition kritischer, queer/feministischer und postkolonialer Wortmeldungen, welche vollkommen zurecht die latente und manifeste Gewalt gegenwärtiger Vergesellschaftungsformen anprangern. Ihre Argumentation scheint mir hingegen insbesondere dort problematisch, wo die Deutungen ins apokalyptische wie dystopische abgleiten. Die Gegenwart wird zu einer existentiellen Prüfung, die es nicht nur zu bestehen gilt, sondern bei Bayramoğlu und Castro Varela die moralisierende Frage aufwirft, ob wir beim Nichtbestehen es gar als Spezies verdient hätten unterzugehen.

Bruno Latour schließlich leitet aus dem Offenbarungmoment des Lockdowns allgemeine Lektionen für eine symmetrische Anthropologie ab, die er zugleich als Fundament einer politischen Verortung nutzt. Die Lockdown-Offenbarungen räumen mit verkürzenden Vorstellungen auf, welche erstens die Verwobenheit der vermeintlich leblosen „Natur“ mit den lebendigen und vergangenen Existenzformen ignorieren. Zweitens imaginieren solche Deutungen die Autonomie von Individuen, welche sogleich Ankerpunkt einer quasi-religiösen Ökonomie sei, die nichts beizutragen habe, um die Relationen der Existierenden zu konzeptualisieren. Latour plädiert nicht nur für eine symmetrische Anthropologie, sondern für ein klares Bekenntnis zur Erdverbundenheit; zur Verwobenheit der Lebenszusammenhänge auf einer lokal relevanten Erde. Er erteilt damit eine Absage an die Hypostase des Nutzenmaximierungsverhaltens, das er als Abzocke branntmarkt. Gleichzeitig widerspricht er Vorstellungen, den planetaren Grenzen entfliehen zu können; aus dieser Nummer – gemeint ist das terrestrische Dasein – kommen wir nicht heraus. Latour verweigert die Erlösung.

Wen überrascht es, dass Soziolog:innen dazu neigen, thematisch werdende Irritationen vor dem Hintergrund ihrer Wissensbestände und damit soziologischen Theorien zu interpretieren. Gleichzeitig liegt in diesem Vorgang auch ein Problem. Lässt sich eine Krise mit vorhandenem Wissen deuten, ist das „Biest“ der Irritation erst einmal gezähmt und die Welt hat wieder ihre Ordnung.[4] Inwiefern solche Einordnungen – im Grunde immer qualitative Induktionen (vgl. Reichertz, 2013, S. 18) – fruchtbar sind, steht auf einem anderen Blatt. Schlusslogisch zwingend sind diese Schlüsse nie. Gerade weil Soziolog:innen nur selten ihre Deutungen in praktischen Abarbeitungen an einer Krise prüfen müssen und können, fallen Missverständnisse und unzulässige Komplexitätsreduktionen wahrscheinlich kaum auf. Aber laufen sie in diesem Moment nicht Gefahr, einem Schubladendenken anheim zu fallen: ich kam, sah und sortierte ein. Die Anschlussfrage wäre, wie sichern Soziolog:innen ihre Deutungen dagegen ab, zu kurz zu springen und im Moment der Krisen-Offenbarung – wenn auch in sehr informierter Weise – ‚nur‘ Spontansoziologie zu betreiben? Degradiert sich public sociology in diesem Moment nicht zum Besserwisser:innentum? Aber was wären hierzu die Alternativen? Warten, bis empirische Forschung Fundamente für Interpretationen liefert? Die öffentliche Soziologie sieht sich mit dem Dilemma konfrontiert, das Wagnis der Verkürzung einzugehen oder aber Schweigen zu müssen. Gerade weil Schriften wie der von Delanty verantwortete Sammelband, die Soziologie polyphon zu Wort kommen lassen, sind sie so wertvoll, ermöglichen sie doch den Facettenreichtum einer Krise, aber auch der Soziologie als Krisenwissenschaft zu erfassen und dadurch dem Dilemma der Verkürzung die Stirn zu bieten. Ob sie es an eine breite Öffentlichkeit schaffen, ist eine ganz andere Frage.

Während Delanty und Kolleg:innen zunächst die Frage in den Raum stellen, was die Krise offenbart, formulieren Bayramoğlu & Castro Varela und Latour Beiträge, die in ihrem Kern nicht auf die Coronapandemie verweisen. Die Pandemie bietet Gelegenheit, etwas zu erkennen, was den Autor:innen auch ohne die Pandemie ein Anliegen wäre. Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt darin, dass Deutungen durch einen weitreichenden Debattenzusammenhang und dort verortete empirische Forschung abgesichert sind und nur peripher den Anspruch erheben, die Krise an sich zu deuten. Zugleich müssen sich beide Schriften den Vorwurf gefallen lassen, die Pandemie vor den Karren ihrer intellektuellen Programme zu spannen und gleichsam für ihre Sache zu instrumentalisieren. Sofern beide Bücher aber auf je ihre eigene Weise auf Verwerfungen wie Irrtümer gegenwärtiger Vergesellschaftungen hinweisen und am Beispiel der Pandemie ihre Argumentationen und Analysen plausibilisieren können, ist dies eine zu verschmerzende Kritik.

Beide Schriften entwerfen skeptisch-hoffnungsvolle Programme, in denen die Krise nicht nur als Offenbarung, sondern als Scheitelpunkt einer Entwicklung erscheint: eine Prüfung. „Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.“ (Hölderlin, Patmos). Ulrich Beck (2015; 2017) hat diese Hoffnung mit dem Begriff eines emanzipatorischen Katastrophismus belegt. Dort wo sie ins apokalytische abgleiten werden gleichwohl Deutungen problematisch und dünn; nicht allein deswegen, weil eine solche dystopische Pointe aufgrund ihrer Moralinsäure die Argumente schwächt, sondern – und das wäre gegen Beck, Bayramoğlu & Castro Varela und Latour einzuwenden – weil sie die Kontingenz und Möglichkeiten der Reaktionsweisen auf Krisen[5] verkennen. Ja, die Notwendigkeit von Kritik ist evident. Doch nein, das Soziale muss sich dieser Evidenz nicht beugen. Das Soziale muss gar nichts. So wie Gewalt immer eine Option menschlichen Handelns bleibt, bleibt auch die Resignation, die Indifferenz und noch die stupideste Rebellion gegen Veränderung eine solche Option. Eine Soziologie als Krisenwissenschaft soll sich m. E. auf den Offenbarungscharakter von Krisen stürzen, gleichwohl sollte sie nicht vergessen, dass die Zukunft offen bleibt. Nein, nicht alles wird gut, aber manches eben doch; nicht zuletzt weil eine krisensensible, polyphone Soziologie dazu beitragen kann, auch die Optionen und Kontingenzen, mit denen an Krisen angeschlossen werden muss, zum Thema zu machen.

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Online erschienen: 2023-12-02
Erschienen im Druck: 2023-11-28

© 2023 #Autor1#, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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