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BY 4.0 license Open Access Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag September 15, 2022

Jonathan Falkenberg, Taylors Agenten. Eine arbeitssoziologische Analyse mobiler Assistenzsysteme in der Logistik. Baden-Baden: Nomos 2021, 287 S., kt., 59,00 €

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From the journal Soziologische Revue

Rezensierte Publikation:

Jonathan Falkenberg, Taylors Agenten. Eine arbeitssoziologische Analyse mobiler Assistenzsysteme in der Logistik. Baden-Baden: Nomos 2021, 287 S., kt., 59,00 €


In der internationalen Digitalisierungsforschung, aber auch in der deutschen Arbeits- und Industriesoziologie ist der „digitale Taylorismus“ eines der großen Schlagworte der letzten Jahre. Unter diesem Neologismus werden dystopische Entwicklungsszenarien der digitalen Transformation von Arbeit subsumiert: Mit leistungsstarker digitaler Technik, so die Befürchtung, stünden den Betrieben Instrumente zur Verfügung, um lebendige Arbeit nach den Prinzipien wissenschaftlicher Betriebsführung nach Frederick W. Taylor umfassender als bisher rationalisieren, kontrollieren und überwachen zu können.

Obwohl die These des „digitalen Taylorismus“ zweifelsohne einen provokativen, konzeptionellen Startpunkt für die Arbeitsforschung liefert, blieben die Verweise auf den historischen Taylorismus im bisherigen Diskurs „mitunter selektiv und assoziativ“ (Butollo et al., 2018: 145). Empirische Studien digitalisierter Arbeitsplätze, in denen der Taylorismus als Analysekategorie systematisch angewandt und der These eines „digitalen Taylorismus“ gegenübergestellt wird, fehlen bisher. Mit Jonathan Falkenbergs „Taylors Agenten. Eine arbeitssoziologische Analyse mobiler Assistenzsysteme in der Logistik“ ist nun eine Dissertationsschrift als Buch im Nomos Verlag erscheinen, in der sich der Autor eben dieser Herausforderung stellt.

In seiner 287 Seiten und sieben Kapitel umfassenden Abhandlung geht Falkenberg der Fragestellung nach, „ob die digitalen Assistenzsysteme für die Realisierung eines digitalen Taylorismus eingesetzt werden, bei dem die Kontrolle über Beschäftigte und Arbeitsprozess ausgeweitet und verschärft wird“ (21). Im ersten einleitenden Kapitel offeriert er drei aus der Fragestellung abgeleitete thematische Achsen, die der Orientierung über sein Vorhaben dienen: Erstens nimmt er konkrete technische Artefakte in Form digitaler Assistenzsysteme („mobile und körpernah tragbare Endgeräte“) (16) in den Fokus. Zweitens grenzt er das zu untersuchende Feld auf die Tätigkeitsdomäne der Kommissionierung ein, die „eine Kernaktivität der Lagerlogistik“ (21) darstellt. Drittens bedient er sich für die arbeitssoziologische, theoretische Anbindung von Technik und Kontrolle insbesondere arbeits- und mikropolitischer Ansätze. Ziel der Arbeit ist schließlich „eine detaillierte Beschreibung der Kommissionierarbeit mit digitalen Assistenzsystemen und der mit ihnen umgesetzten Arbeits- und Leistungskontrolle“ (74).

Kapitel 2 bildet den umfangreichen theoretischen Unterbau der Arbeit. Ausgangspunkt ist der historische Taylorismus, dessen Entstehung, betriebliche Umsetzung und Rezeption in der Arbeits- und Industriesoziologie sowohl inhaltlich als auch sprachlich beeindruckend präzise aufbereitet werden. Ausführlich widmet sich Falkenberg der Labour-Process-Debatte (klassisch: Braverman, Edwards, Friedman, Burawoy usw.) und verschränkt deren Erkenntnisse mit der Machtressourcenbetrachtung. Der Rolle der Technik im betrieblichen Kontrollgefüge widmet Falkenberg mit 2.2 ein eigenes Unterkapitel, in dem er technische Meilensteile chronologisch von der Einführung des Fließbands bis hin zu computergestützter Arbeitssteuerung bespricht. Das Herzstück des Theorieteils ist das Unterkapitel 2.3 zum „digitalen Taylorismus“, mit dem Falkenberg in der Gegenwart der Kontrolldebatte ankommt. Hier liefert er eine nützliche Definition des Konzepts: „Wenngleich kaum einheitlich verwendet beschreibt der Begriff des digitalen Taylorismus eine betriebliche Rationalisierungsstrategie, die auf die Fortsetzung bis hin zur Perfektionierung tayloristischer Arbeits- und Organisationsprinzipien mittels digitaler Technik abzielt“ (66). Das Kapitel schließt mit präzisierten Teilfragen.

In Kapitel 3 wird das methodische Vorgehen erläutert. Gewählt wurde ein Fallstudiendesign, das auf den Vergleich möglichst vieler Betriebe und unterschiedlicher Ausprägungsformen mobiler Assistenztechnik ausgerichtet ist. Das Sample besteht aus fünf Intensivfallstudien, vier Kurzfallstudien sowie ergänzenden Expert:inneninterviews. Insgesamt wurden 45 Betriebsangehörige und Expert:innen interviewt und die Daten inhaltsanalytisch ausgewertet.

Im vierten Kapitel widmet sich der Autor ausführlich den mobilen Assistenzsystemen und ihren Anwendungspotentialen in der ‚Industrie 4.0‘. Deutlich wird, dass Assistenzsysteme variationsreich gestaltet und ihre tatsächliche Verbreitung und Nutzung empirisch noch untererfasst sind. Auch eine Unterscheidung der Systeme nach der konkreten Art der Unterstützungsleistung fehlte bisher. Diese Leerstelle füllt Falkenberg durch die Aufstellung einer eigenen Klassifikation, die mobile Assistenzsysteme anhand gut durchdachter Merkmale in Kommandosysteme, Lernwerkzeuge und Expertensysteme einteilt (97). Am Ende des Abschnitts, und damit vor dem eigentlichen Ergebniskapitel, werden erste empirische Befunde aus den Interviews mit Lösungsanbietern präsentiert. Dieser Teil fällt weniger ertragreich aus als die später folgenden Betriebsfallstudien, da von den Technikherstellern bekannte Rationalisierungsmotive und Leitbilder („Stör- und Fehlerquelle“ Mensch) (109) reproduziert werden.

In Kapitel 5 steckt Falkenberg das Untersuchungsfeld ab, indem er zunächst die Einfacharbeit als in der Kommissionierung dominierenden Arbeitstypus vorstellt. Zentrale Merkmale sind die „repetitiven, wenig komplexen und schnell erlernbaren Arbeiten“ (160), die das Arbeitsfeld zu einem idealen Reallabor für digitale tayloristische Arbeitskontrolle machen. Anhand eigener Berechnungen auf Grundlage der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit wird zunächst die Beschäftigungsstruktur in der Logistik insgesamt (135 ff.), dann spezifischer für den Anwendungsfall der Kommissionierung (146 ff.) seziert. Auf die Berechnungen für die Gesamtlogistik hätte verzichtet werden können, da sie das mit rund 50 Seiten ohnehin umfangreiche Kapitel zusätzlich aufblähen und einige Redundanzen mit den Eckdaten zur Beschäftigungssituation in der Kommissionierung produzieren.

Wer sich durch das umfangreiche theoretisch und empirisch informierte Fundament gearbeitet hat, das mit immerhin 160 von den insgesamt 287 Seiten mehr als die Hälfte des Buches umfasst, wird in Kapitel 6 mit überaus lesenswerten Betriebsfallstudien belohnt. Einbezogen wurden ein Lebensmittelgroßhändler (Pick-by-voice), ein Oberflächenveredler (Smartwatch), ein Bürowarenhandler (Datenbrille), ein Werkzeughersteller (Datenbrille) sowie ein Küchenhersteller (Pick-and-put-to-light). Erörtert werden die Intensivfallstudien jeweils nach dem gleichen Schema: Zunächst werden das Unternehmensprofil und die existierenden Rahmenbedingungen vorgestellt, dann die eingesetzten Assistenzsysteme, die Arbeitsorganisation, mögliche Veränderungen der Kontrolle nach Einführung der Systeme sowie die betriebliche Arbeitspolitik. Allen Fällen ist gemein, dass die Potenziale einer zentralisierten Auftragssteuerung durch den Einsatz mobiler Assistenzsysteme voll ausgeschöpft werden. Daraus ergeben sich für die Betriebe reduzierte Fehlerquoten, erhöhte Effizienz, aber auch eine spürbare Arbeitsverdichtung (250 ff.).

Das siebte und letzte Kapitel fasst die zentralen Befunde der Untersuchung zusammen und diskutiert sie unter Rückbezug auf die Kontrolldebatte. Die Ergebnisse hinsichtlich veränderter Steuerung und Kontrolle verdichtet Falkenberg zu den drei Entwicklungsmustern Standardisierung (verstärkte technische Kontrolle, beschränkte Handlungsspielräume), Flexibilisierung (einfache Kontrolle, erweiterte Handlungsspielräume) und Standardisierung bei gleichzeitiger Anreicherung der Arbeit (verstärkte technische Kontrolle, leicht erweiterte Handlungsspielräume) (231 ff.). Eine „radikalisierte Kontrollvariante“, so schlussfolgert Falkenberg, „konnte im Sample nicht entdeckt werden“ (255). Als Grenzlinien des „digitalen Taylorismus“ hebt er etwa die etablierten Interessenvertretungen in den Betrieben (ebd.), den Personalmangel am regionalen Arbeitsmarkt (ebd.) sowie die teils automationssperrigen Prozesse, die weiterhin flexibler Arbeitsgestaltung bedürfen, hervor (256).

In der Zusammenschau aller Kapitel offenbart sich ein der gesamten Arbeit unterliegendes Dilemma. Der Kontrollbegriff wird zu Beginn des Buches breit aufgefächert und als „wegen seiner Diffusität ohnehin ungeeignet“ (Schmidt, 2017: 296) für empirische Studien beschrieben. Gleichwohl ist er für die Untersuchung tayloristischer Arbeit unumgänglich. Es verwundert daher nicht, dass sich die Kategorienbildung zum Thema Kontrolle für Falkenberg als problematisch herausstellte, wie er selbst reflektiert (265). Ein Einblick in die konkrete Verfahrensweise bei der Bildung von Unterkategorien bleibt den Leser:innen des Methodik-Teils indes verwehrt. Ohne die Angabe von Beispielkategorien verbleibt Falkenbergs Kontrollbegriff damit ähnlich schemenhaft wie der vorheriger Studien.

Eine weitere methodische Schwachstelle ist die unzureichende Abdeckung der Beschäftigtenperspektive im Sample. So wurde in zwei der insgesamt fünf Intensivfallstudien mit jeweils nur einer in der Kommissionierung tätigen Arbeitskraft gesprochen, die Anzahl der Interviews mit Kommissionierer:innen in den Kurzfallstudien wird nicht angegeben. Die Untersuchung hätte dem Autor nach aufgezeigt, „dass die Beschäftigten durchaus unzufrieden mit der Implementierung waren“ (262). Einwände im Wortlaut der Beschäftigten selbst bzw. ihre konkreten Gegenstrategien werden aus den Ergebnissen der Fallstudien jedoch nicht ersichtlich. In der Reflexion der Methode bleibt nicht unerwähnt, dass die interviewten Leitungs- und Führungskräfte gelegentlich sozial erwünschte Antworten gaben (265) und sie stets auf eine „vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Akteure“ (ebd.) im Betrieb verwiesen. Für ein Projekt mit multiperspektivischem Anspruch (74) wäre es aber zwingend notwendig gewesen, diese Aussagen durch die Sicht der Beschäftigten zu überprüfen. Nicht zuletzt ergibt sich das Gebot zum hinreichenden Einbezug der Arbeiter:innenperspektive auch aus der marxistischen Tradition heraus, in der die der Studie zugrunde gelegte Labour-Process-Theorie steht (Marx, 1938: 379).

Trotz der methodischen Einwände überzeugt das vorliegende Buch mit einer empirisch fundierten Absage an einen forcierten „digitalen Taylorismus“. Falkenberg liefert eine herausragende Dissertation und eine wertvolle, hochaktuelle Momentaufnahme digitalisierter Industriearbeit, die die laufende Debatte zweifelsohne enorm befruchten wird. Gleichwohl ruft die Lektüre auch zur Wachsamkeit auf, denn die Potenziale für invasivere Kontrollformen in der Kommissionierung sind bereits technisch angelegt. Sollten etwa die Arbeitsbedingungen zukünftig weniger reguliert, die Technik durch Anwendung künstlicher Intelligenz noch leistungsfähiger oder Arbeitskräfte durch Zugriff auf eine Reservearmee austauschbarer werden, dann gilt es, den Einsatz mobiler Assistenzsysteme neu zu verhandeln (267).

Literatur

Butollo, F., Engel, T., Füchtenkötter, M., Koepp, R., & Ottaiano, M. Wie stabil ist der digitale Taylorismus? Störungsbehebung, Prozessverbesserungen und Beschäftigungssystem bei einem Unternehmen des Online-Versandhandels. AIS-Studien 2018, 2, 143–159.Search in Google Scholar

Marx, K. A workers’ inquiry. New International 1938, 12, 379–83.Search in Google Scholar

Schmidt, R. Taylorismus. In Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie; Hirsch-Kreinsen, H.; Minssen, H., Hrsg.; Nomos/edition sigma: Baden-Baden, 2017; pp 292–296.10.5771/9783845276021-292Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-09-15
Erschienen im Druck: 2022-09-05

© 2022 Pauline Schneider, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 27.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-0031/html
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