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Publicly Available Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag May 30, 2017

Adam Tooze, The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, 1916–1931, London: Allen Lane 2014, XXIII, 644 S., £ 30.00 [ISBN 978-1-846-14034-1]

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Rezensierte Publikation:

Tooze Adam, The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, 1916–1931, London: Allen Lane 2014, XXIII, 644 S., £ 30.00 [ISBN 978-1-846-14034-1]


Mit diesem Buch legt der in den USA lehrende Wirtschaftshistoriker Adam Tooze eine Neuinterpretation der internationalen Diplomatie in und nach dem Ersten Weltkrieg vor. Der Fokus liegt dabei auf der Verbindung zwischen der Finanz- und Schuldenpolitik, und hier genauer auf dem Problem des interalliierten Schuldendienstes und dem Aufstieg der USA zur hegemonialen Weltmacht seit 1916. Frankreich und Großbritannien hätten sich mit der Finanzierung ihrer Kriegsausgaben durch Anleihen bei amerikanischen Banken in eine bis dahin nicht gekannte Form der Abhängigkeit von den USA begeben. Mit dieser neuen »asymmetrical financial geometry« sei zugleich das System der internationalen Mächtekonkurrenz im Zeitalter des Imperialismus an ein Ende gekommen. Denn fortan habe es nur noch eine Supermacht gegeben, die weltweit eine »unprecendented dominance« ausüben konnte, nämlich die USA (S. 211).

Damit tritt Woodrow Wilson, von 1913 bis 1921 Präsident der USA, auf die Bühne. Wilson sei, so Tooze, bislang als ein moralischer Idealist missverstanden worden, der das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung und der Demokratisierung als Maßstab in den internationalen Beziehungen verankern wollte. Tatsächlich aber sei es ihm um die Begründung einer internationalen Ordnung gegangen, in der die USA auch und vor allem den etablierten europäischen Großmächten Großbritannien, Frankreich und Russland, die sich im Krieg gegen die Mittelmächte verbündet hatten, nur einen Platz am »Kindertisch« zuweisen würde. Das war mit der Formulierung von einem »peace without victory« gemeint, die Wilson in seiner Rede vor dem Senat am 22. Januar 1917 erstmals gebrauchte. Ein Frieden, der auf Seiten der Besiegten als »humiliation« verstanden würde und nur eine neue Form der Hegemonie unter den Mächten Europas herstelle, sei dagegen, so Wilson, nicht dauerhaft (S. 53 f.).

Tooze verfolgt diese These in einer Sequenz von 26 narrativ angelegten Kapiteln, welche die Beschreibung von Entwicklungen auf der Ebene der internationalen Beziehungen mit der Herausarbeitung der Perzeptionen und handlungsleitenden Motive der wichtigsten Akteure verbinden, zu denen vor allem Wilson selbst, daneben aber auch der liberale britische Premierminister David Lloyd George sowie auf deutscher Seite Matthias Erzberger und Gustav Stresemann zählen. Eine besondere Stärke des Buches ist die Fähigkeit von Tooze, die globale Reichweite und die vielfältigen Folgen von Entwicklungen im internationalen Finanzsystem aufzuzeigen. So griff das Vereinigte Königreich beispielweise zur Stabilisierung des Pfundes im Rahmen des Empire auf zwei Stützen zurück: Das eine war das Gold, das die Minen in Südafrika produzierten und für das London unmittelbar nach Kriegsbeginn einen artifiziell niedrigen Höchstpreis festlegte, der einer Sondersteuer der privaten Bergwerksgesellschaften auf die britischen Kriegsausgaben gleichkam (S. 209).

Im ersten Teil des Buches arbeitet Tooze die Motive und die innenpolitischen Kontexte der Wilsonschen Konzeption eines »peace without victory« heraus. Sodann verfolgt er, wie die Formel der nationalen Selbstbestimmung seit 1916 die Grundlagen der etablierten internationalen Ordnung erschütterte, wie dies vor allem am Beispiel des irischen Osteraufstandes 1916 und an der zynischen Benutzung dieser Formel durch Lenin deutlich wurde. Als sich nach dem Frieden von Brest-Litowsk eine deutsche Hegemonie über das bolschewistische Russland abzeichnete, sahen sich die USA an der Seite der Ententemächte zur Intervention gezwungen. Im zweiten Teil wird die Logistik der amerikanischen Intervention in den Krieg gegen die Mittelmächte 1918 ausgebreitet. Mit den 14 Punkten, die Wilson dem Deutschen Reich als Grundlage für einen Waffenstillstand aufzwang, sei zugleich eine Welle der Partizipation losgetreten worden. In der Türkei fand sich Kemal Atatürk so mit kurdischen Stammesführern konfrontiert, die eine Regelung der gegenseitigen Beziehungen auf der Basis der 14 Punkte forderten (S. 235). Zugleich brach 1918/19 eine weltweite Welle militanter Streikaktionen der Arbeiterschaft los, die auch die Regierungen in London und Washington zu Konzessionen zwangen.

Im dritten Teil stehen dann die tiefen Probleme und das Scheitern des »Wilsonianism« nach Kriegsende im Mittelpunkt. Die amerikanische Regierung verweigerte sich 1919 einer konzertierten Regelung der interalliierten Schuldenlast und bestand stattdessen darauf, dieses Problem jeweils bilateral und unter Rückgriff auf private Kreditgeber in den USA zu regeln. Tooze schenkt hier der Kritik von John Maynard Keynes Gehör, der die unmittelbare Rückkehr zu einer liberalen Finanzarchitektur ohne staatliche Garantien als illusorisch verurteilte. Bei der Behandlung des Versailler Vertrags stellt Tooze heraus, dass der romantische Nationalismus Georges Clemenceaus dazu führte, dass die nationale Souveränität Deutschlands ungeachtet aller Betonung der französischen Sicherheitsinteressen als implizite Norm den Kern des Vertrags gebildet habe. Dies stehe im Kontrast zu den europäischen Friedensregelungen von 1648, 1815 und 1945, in denen die Fragmentierung Deutschlands im Zentrum gestanden habe (S. 272 f.). Doch die Wilsonsche Vision eines von den USA garantierten Friedens ohne Sieger scheiterte schließlich nicht an deutscher Renitenz oder an der Unmöglichkeit, die divergierenden Interessen Großbritanniens und Frankreichs unter einen Hut zu bringen, sondern an der mangelnden Mehrheit für die Ratifizierung des Versailler Vertrags im US-Kongress.

Der vierte Teil beginnt leitmotivisch mit dem Schock, den die deflationäre Politik zunächst der Federal Reserve Bank und dann der Bank of England 1920 weltweit auslösten und der zu einer neuen Welle sozialer Unruhen und Aufstände führte. Gerade für das Vereinigte Königreich wurde die neue Welt-Unordnung auch als eine Krise des Empire spürbar, die wie etwa in Amritsar (Indien) 1919 den Einsatz von Gewalt als ultima ratio erschienen ließ. Tooze kehrt dann zu einer Behandlung der deutschen Reparationsfragen zurück und beschreibt, wie sich die deutsche Politik nach der Anerkennung von Versailles 1919 schließlich auch in der Reparationsfrage nach der Ruhrbesetzung 1923 zur realistischen Anerkennung der US-Hegemonie durchrang. Nach dem gescheiterten britischen Versuch in Genua 1922, die europäische Ordnung neu zu justieren, blieb nur der Weg über privates US-Kapital, der 1924 mit dem Dawes-Plan beschritten wurde. Zwei Kapitel über die Rückkehr zum Goldstandard und die Große Depression der frühen 1930er Jahre sind mehr als Coda zu einer Darstellung zu lesen, die 1916 anhebt und 1924 endet.

Tooze bietet ein breites Panorama des Niedergangs der europäischen Hegemonie und des Aufstiegs der USA zum weltweiten Hegemon. Seine Darstellung besticht durch die souveräne Kenntnis der weitverzweigten Forschungsliteratur zu den diplomatischen und reparations- bzw. finanzpolitischen Themen. Vieles in diesem Buch ist nicht neu bzw. bereits anderswo kompetent dargestellt worden, so etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, in der von Tooze ausgiebig zitierten Darstellung der deutschen Inflation von Gerald D. Feldman. In der Einleitung wird leitmotivisch eine Synthese zwischen der These eines vom Faschismus okkupiertem »Dark Continent« und einer Fokussierung auf die Krise der liberalen Hegemomie angekündigt, ohne dass diese Synthese in der empirischen Durchführung immer klar erkennbar bliebe (S. 17–21). Als souveräne Zusammenschau der globalen Neuordnung unter Hegemonie der USA ist die Darstellung dennoch beeindruckend.

Kritisch hervorzuheben sind allerdings drei Dinge: Tooze neigt zuweilen zur monokausalen Überschätzung der politischen und sozialen Auswirkungen finanzpolitischer Entscheidungen, so etwa bei der Korrektur der Nachkriegsinflation 1920 (S. 343). Er neigt zweitens zu einer rhetorischen Beschwörung welthistorisch bedeutsamer Wendepunkte, die sich in ihrer Inflationierung letztlich aufhebt. So wird das Washingtoner Flottenabkommen des Jahres 1921 mit Balfour als »unparalleled in world history« beschrieben, und dies doch zugleich durch den Verweis auf Gorbatschows nukleare Abrüstung ab 1985 dementiert (S. 401). Erstaunlich ist schließlich die methodische Fundierung des Buches. Es handelt sich um eine Rückkehr zum Neorankeanismus der Jahre um 1900, mit einem Fokus auf die Machtrivalität und die »große Politik« der Kabinette, und einer unverhüllt teleologisch angelegten Kernthese, bei der das amerikanische Jahrhundert bereits 1917 als solches zu erkennen ist (S. 53).

Online erschienen: 2017-5-30
Erschienen im Druck: 2017-5-4

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 1.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/mgzs-2017-0050/html
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