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Publicly Available Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag May 30, 2017

Stefan Deißler, Eigendynamische Bürgerkriege. Von der Persistenz und Endlichkeit innerstaatlicher Gewaltkonflikte, Hamburg: Hamburger Edition 2016, 367 S., EUR 35,00 [ISBN 978-3-86854-297-4]

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Rezensierte Publikation:

Deißler Stefan, Eigendynamische Bürgerkriege. Von der Persistenz und Endlichkeit innerstaatlicher Gewaltkonflikte, Hamburg: Hamburger Edition 2016, 367 S., EUR 35,00 [ISBN 978-3-86854-297-4]


Ausgangspunkt des anzuzeigenden Buches, das auf einer preisgekrönten Göttinger soziologischen Dissertation beruht, ist die Feststellung, dass der Bürgerkrieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur mit Abstand häufigsten Kriegsform geworden ist und sich eine ganze Reihe von Bürgerkriegen über eine lange Dauer hingezogen haben. Die Frage nach den Ursachen dieser Persistenz steht im Zentrum von Deißlers Abhandlung.

Der Verfasser weist zunächst auf die sich wandelnden Vorstellungen zur Thematik hin. Während des Kalten Krieges betrachtete die Forschung wie auch die politisch interessierte Öffentlichkeit zahlreiche Bürgerkriege primär als Stellvertreterkonflikte und machten daher externe Akteure für deren Persistenz verantwortlich. Diese Ansicht wurde nach 1990 erschüttert, als die Zahl der Bürgerkriege keineswegs zurückging und sich manche angeblichen Stellvertreterkriege unvermindert fortsetzten. Besonders unter dem Eindruck der Zerfallskriege Jugoslawiens und des Genozids in Ruanda wurden nun vermeintlich tief verwurzelte »ethnische« Gegensätze als Ursachen von Bürgerkriegen und ihrer Persistenz betont.

Gegen diese Deutungsmuster versucht der Verfasser ein Erklärungsmodell zu entwickeln, das die Gründe für die lange Dauer von Bürgerkriegen im Kriegsgeschehen selbst, also in ihrer Eigendynamik sucht. In einem ersten Schritt entwickelt er unter Heranziehung einschlägiger Literatur eine Definition von eigendynamischen sozialen Prozessen. Ihr zufolge muss ein solcher Prozess einer spezifischen Akteurskonstellation zugeordnet werden können, ist der eigendynamische Prozessverlauf durch wiederkehrende Ereignisse in Form fester Handlungs- und Interaktionsmuster charakterisiert (Struktur des Prozesses) und erfolgt die Reproduktion der prozesstypischen Handlungsmuster auf der Basis von Mechanismen der wechselseitigen Motivation oder auf der Grundlage von strukturellen Imperativen.

Ausgehend von dieser reichlich abstrakten Begriffseingrenzung geht der Verfasser in einem nächsten Schritt der Frage nach, ob Bürgerkriege per se eigendynamische Prozesse darstellen, und gelangt zu der Schlussfolgerung, dass dies in dieser Pauschalität nicht der Fall sei. Sodann untersucht er zwei Bürgerkriegstypen genauer, nämlich den »revolutionären Guerillakrieg« und den »ethnisierten Sezessionskrieg«. Obwohl sich hier seines Erachtens alle Merkmale eigendynamischer Prozesse finden, erklären diese die Persistenz mancher Konflikte dieser beiden Typen nicht, da die eigendynamischen Prozesse nicht »autoreproduktiv« seien.

Nach all diesen theoretischen und definitorischen Überlegungen, die empirisch kaum abgestützt werden, befasst sich der Verfasser im letzten Hauptabschnitt schließlich mit dem langwierigen, seit 1964 anhaltenden Konflikt in Kolumbien. Hier konstatiert er, dass die Generierung der für die Fortsetzung des Guerillakrieges nötigen Ressourcen durch gewaltsame Wirtschaftspraktiken bislang eine Auszehrung der Kriegsparteien verhindert hat und dass das für Guerillakriege im Allgemeinen charakteristische militärische Ungleichgewicht durch die simultane Aufrüstung aller Konfliktparteien reproduziert wurde. Auch die Dauer dieses Konfliktes lässt sich indessen aufgrund seiner Komplexität nicht anhand des zuvor entwickelten Modells erklären.

So muss der Verfasser in seinem Fazit eingestehen, dass ihm die Formulierung einer allgemeingültigen Erklärung für das Persistenzphänomen nicht gelungen ist. Vielmehr sei der Bürgerkrieg als hochkomplexes soziales Phänomen anzusehen. Insofern würden sich auch allgemeine Empfehlungen für friedensschaffende Maßnahmen verbieten und es könne für die Praxis höchstens empfohlen werden, bei der Konzeption von zivilen oder militärischen Maßnahmen die »bislang vorherrschende, übertrieben simplifizierende Betrachtungsweise zu überwinden« (S. 337).

Insgesamt hat der Verfasser eine interessante Studie vorgelegt, die sich durch eine sorgfältige systematische Herangehensweise auszeichnet; allerdings erliegt er teilweise der sozialwissenschaftlichen Tendenz zur Verpackung trivialer Inhalte in schwer verständlicher Fachterminologie. Angesichts des ernüchternden Fazits stellt sich jedoch die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Forschungsdesigns. Anstatt historische und ethnologische Einzelfallstudien zusammen mit systemtheoretischen Perspektiven, akteurszentrierten Gewalt- und Konflikttheorien und Studien aus der Kriegsursachenforschung in der Einleitung in einem einzigen Satz als für die Fragestellung irrelevant vom Tisch zu wischen (S. 14 f.), hätte es sich angeboten, in Auseinandersetzung mit empirischem Material ein ergiebigeres Analyseraster zu entwickeln, das nicht lediglich die Komplexität des Persistenzphänomens konstatiert, sondern dessen wesentliche Komponenten herausarbeitet und zueinander in Beziehung setzt. Ob Deißlers Studie gleichwohl Impulse für die gewalthistorische und ‑soziologische Forschung zu geben vermag, wird sich noch erweisen müssen.

Online erschienen: 2017-5-30
Erschienen im Druck: 2017-5-4

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 10.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/mgzs-2017-0017/html
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