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Publicly Available Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag November 17, 2016

Kein Vergessen.

Die Europa-Föderalisten, der Verband deutscher Soldaten und die europäischen Veteranentreffen 1952/53

  • Mathias Schütz EMAIL logo

Zusammenfassung

Der Artikel behandelt die ersten Kontakte zwischen westeuropäischen und deutschen Veteranen nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Kontakte wurden von der Union Européenne des Féderaliste initiiert, führten in den Jahren 1952/53 zu verschiedenen Zusammenkünften und hatten die Gründung einer europäischen Veteranenorganisation zum Ziel. Die Veteranentreffen und die sie begleitenden Diskussionen stellten einen Versuch dar, die europäische Einbindung der Bundesrepublik voranzutreiben und den nationalen Perspektiven auf die Vergangenheit in Deutschland wie in Westeuropa ein gemeinsames europäisches Narrativ entgegenzusetzen. Die Auseinandersetzung mit Konfliktpunkten wie der Waffen-SS, den Kriegsverbrecherprozessen und der Résistance, die während dieser kurzen, aber intensiven Episode der europäischen Veteranenkontakte geführt wurden, verdeutlichen das Verständnis und die Bedeutung des »deutschen Problems« in der frühen europäischen Einigungsgeschichte.

Europäische Veteranenkontakte nach dem Zweiten Weltkrieg

Ehemalige Wehrmachtsoldaten trafen 1952 ihre Gegner aus Kriegszeiten in der Schweiz. Im Hotel Bad Lauterbach in Oftringen kam es zu zwei Zusammenkünften westeuropäischer und deutscher Veteranenverbände. Diese Treffen wurden von dem europäischen Einigungsverband Union Européenne des Fédéralistes (UEF) initiiert, die deutsche Delegation setzte sich hauptsächlich aus Vertretern des Verbandes deutscher Soldaten (VdS) zusammen. Auf diese Treffen folgten weitere Kontakte, insbesondere zwischen Franzosen und Deutschen, sowie der Versuch, einen europäischen Zusammenschluss der Veteranen zu gründen. Über diese kurze Episode der westeuropäischen Nachkriegsgeschichte, deren Ausläufer bis in das Frühjahr 1954 nachvollziehbar sind, aber offenbar noch vor dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) endeten, ist bisher wenig bekannt. Walter Lipgens benennt die Kontakte zwischen Europa-Föderalisten und deutschen Veteranen in einem kurzen Beitrag, ebenso Robert Belot in seiner Biografie Henri Frenays, der die Veteranentreffen für die UEF organisierte, und Alain Greilsammer in seiner Darstellung des französischen Föderalismus der Nachkriegszeit.[1] In Bertrand Vayssières umfassender Geschichte der UEF finden die Treffen von Bad Lauterbach gar erst in der Chronologie Erwähnung; Vanessa Conzes Ausführungen zu den deutschen Europa-Föderalisten wiederum enthalten keine Anmerkung zu deren Vermittlungsversuchen zwischen den europäischen Veteranen.[2] Arbeiten über die deutschen Veteranenverbände benennen zwar deren internationale Kontakte, konzentrieren sich aber auf den Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands (VdH), der sich seit seiner Gründung 1950 um seine Aufnahme in die Confédération internationale des anciens Prisonniers de Guerre (CIAPG) bemühte; das erste Treffen zwischen deutschen und französischen sowie Vertretern der CIAPG fand im September 1952 statt und leitete die internationale Einbindung der ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen im Juni 1953 ein, auf deren Grundlage sich insbesondere deutsche und französische Weltkriegsveteranen[3] um die Aussöhnung zwischen ihren Ländern bemühten.[4]

Der im September 1951 als Dachverband verschiedener Soldatenbünde gegründete VdS war gänzlich anders konstituiert. Er verstand sich als politische Interessenvertretung und diente seinem Selbstverständnis nach weniger der internationalen Annäherung als vielmehr der Rehabilitierung und Anerkennung der Weltkriegssoldaten, wobei er sich vor allem auf die ehemalige Generalität stützte.[5] Die von der UEF initiierten und koordinierten Kontakte zwischen dem VdS und westeuropäischen Veteranen fügen sich daher ein in die Geschichte der beginnenden Aussöhnung ehemaliger Feinde des Weltkriegs Anfang der 1950er Jahre. Gleichzeitig unterscheiden sie sich grundsätzlich von den Bemühungen des VdH, nicht nur aufgrund der teilhabenden Verbände, sondern auch durch die explizit politische Dimension dieser Treffen. Dass sich die Europa-Föderalisten um die Annäherung zwischen westeuropäischen Weltkriegsveteranen und Widerstandskämpfern und einem Verband bemühten, der wie keine andere Organisation die Generalität des Weltkriegs vereinte und somit als Personifizierung eines deutschen Militarismus erscheinen musste,[6] der sowohl von der Bundesregierung als auch von den Besatzungsbehörden als potenzielle Gefahr für Westbindung und Demokratie angesehen wurde,[7] ist erklärungsbedürftig. Deswegen lohnt sich eine genauere Betrachtung der Ereignisse und der mit ihnen verbundenen Diskussionen nicht nur, weil es sich hierbei um das erste Aufeinandertreffen von Verbänden ehemals verfeindeter Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg handelte. Vielmehr lässt sich an den Veteranenkontakten zeigen, wie versucht wurde, die angesichts der deutschen Wiederbewaffnung allzu präsente Vergangenheit zu »bewältigen«. Der Einigungsprozess als wesentliche Entwicklung der westeuropäischen Nachkriegszeit trug das Erbe des Kriegs, weil er über dieses Erbe hinausweisen wollte.[8] Dieses Unterfangen erschien aber auch seinen energischsten Befürwortern wie der UEF nur möglich, wenn es gelingen würde, dem verhängnisvollen, trennenden Erbe eine gemeinsame Perspektive entgegenzusetzen und die unvereinbaren Erinnerungen zu neutralisieren. Deshalb geht es um folgende Fragen: Welche Motive führten zur Initiierung der europäischen Veteranentreffen durch die UEF (Kapitel II)? Wie verliefen diese Treffen und welche Konflikte ergaben sich aus den gegensätzlichen Erfahrungen von Krieg und Besatzung (Kapitel III)? Welche Bewältigungsversuche wurden angesichts dieser Konflikte unternommen (Kapitel IV)? Und zu welchen Ergebnissen führten die Treffen, Diskussionen und Verständigungsbemühungen, die ab 1953 von dem ehemaligen französischen General und Hochkommissar in Österreich, Marie Emile Antoine Béthouart, weitergeführt wurden (Kapitel V)? Grundlage dieser Darstellung sind die Überlieferung der UEF und des Mouvement Européen im Historischen Archiv der Europäischen Union (HAEU) in Florenz, Publikationen der beteiligten Personen sowie die Deutsche Soldaten-Zeitung (DSZ) für die Perspektive des VdS.[9]

Die UEF und das »deutsche Problem«

Im September 1946 wurde im schweizerischen Hertenstein die UEF ins Leben gerufen, im Dezember desselben Jahres konstituierte sich der Verband offiziell. Nach Vorbereitungstreffen, die zum Teil noch während des Krieges in der Schweiz und in Frankreich unter maßgeblicher Beteiligung von Vertretern der europäischen Résistance stattgefunden hatten, schlossen sich Föderalistenverbände verschiedener europäischer Länder in diesem Dachverband zusammen, dessen Zentralkomitee und Exekutivbüro die gemeinsamen Anstrengungen für einen Zusammenschluss Europas auf föderaler Grundlage koordinieren sollten.[10] Eine der wesentlichen Herausforderungen dieser Einigung stellte aus Perspektive der UEF das »deutsche Problem« dar: Auch wenn man von Beginn an selbstverständlich für eine Einbindung Deutschlands in die europäische Föderation plädierte, erschien es fraglich, ob und wie dies letztlich gelingen würde. Der Niederländer Henrik Brugmans, erster Präsident des Exekutivbüros, sprach 1946 davon, dass »weiterhin eine große, tödliche Wunde im Herzen unseres Kontinents blutet: Deutschland.« Erneut könne Deutschland Europa in eine Katastrophe hineinreißen, und dies gelte es durch seine Einbindung in eine europäische Föderation zu verhindern. Denn würden die Deutschen wieder in einem souveränen Staat zusammenfinden, »degenerieren sie allesamt zu ›Boches‹ und träumen von nichts als Krieg, Annexion, Militarismus und götzendienerischem Mystizismus«.[11]

Unter der Leitung des Schweizers Ernst von Schenck wurde eine Commission pour le problème allemand gegründet, die sich in erster Linie um Kontakte zu föderalistisch gesinnten Personen und Gruppierungen in Deutschland sowie um deren Anbindung an die UEF bemühte.[12] Auf dem ersten Kongress der UEF, der im August 1947 in Montreux stattfand, wurden einerseits drei Deutsche in das Zentralkomitee der UEF gewählt – darunter der ehemalige KZ-Häftling und Herausgeber der »Frankfurter Hefte«, Eugen Kogon – und in einer ausführlicheren »Motion sur le problème allemand« die dringende Notwendigkeit konstatiert, Deutschland in eine europäische Föderation einzubinden. Andererseits wurde darauf hingewiesen, »dass der gegenwärtige Zustand Deutschlands und des deutschen Volkes eine Gefahr für die Zukunft Europas darstellt«. Die Besetzung Deutschlands habe nicht zu einer effektiven Entnazifizierung geführt und biete keine Garantie »gegen das drohende Erwachen des Nationalismus und des Militarismus [...] Es erscheint nahezu unmöglich, dass das militärische Besatzungsregime noch imstande ist, eine solide Grundlage für die Errichtung eines befriedeten Deutschlands herzustellen«. Notwendig sei die »Neutralisierung Deutschlands in seiner Eigenschaft als Faktor politischer Macht«. Diese sei nur durch eine föderale Organisation sämtlicher sozialer, ökonomischer, kultureller und politischer Belange in Europa zu erreichen – nicht nur in Deutschland, aber »ganz besonders in Deutschland« und unabhängig von dessen territorialer Gestalt.[13]

Das Deutschlandbild der Europa-Aktivisten im Allgemeinen[14] und der UEF im Besonderen unterschied sich kaum von jenen Ängsten vor einem »ewigen« Deutschland, die nach zwei Weltkriegen in Westeuropa allgegenwärtig waren. Das Problem nationalstaatlicher Souveränität, das aufgrund der Unvereinbarkeit nationaler Interessen den europäischen Kontinent nicht zur Ruhe kommen lasse, erschien der UEF als ein allgemeines, universelles Problem, das durch die föderale Neuorganisation Europas gelöst werden müsse. Das »deutsche Problem« fügte sich zwar in diese Analyse ein, ging aber gleichsam darüber hinaus: So sei das deutsche Staatsverständnis im Vergleich mit dem französischen »brutaler oder zynischer – das bedeutet logisch unerbittlicher«.[15] Deutschland galt als konsequenteste Verkörperung der nationalstaatlichen Tendenz zu Feindschaft und Krieg. Durch diese Argumentation wurden einerseits die verbreiteten Ängste in Europa angesprochen, andererseits die Deutschen zurück in die europäische Familie geholt.

Besonders deutlich wird dies an den Positionen der UEF gegenüber der Gründung der Bundesrepublik und der Frage einer deutschen Wiederbewaffnung. Im Juli 1949 nahm das Zentralkomitee auf seiner erstmalig in Deutschland stattfindenden Sitzung ausführlich zur Gründung der Bundesrepublik Stellung. Einerseits wurde betont, dass sich die UEF seit jeher für eine Lösung des »deutschen Problems« durch die Einbindung Deutschlands in eine europäische Föderation eingesetzt habe. So forderte die UEF die Aufnahme der Bundesrepublik in den Europarat, kritisierte das Ruhrstatut, Grenzkorrekturen und Demontagen und bekannte sich zur Einheit Deutschlands. Andererseits lehnte sie die Errichtung eines souveränen deutschen Staates grundsätzlich ab und mahnte rasche Maßnahmen zur Prävention an, denn es entscheide sich jetzt und nicht später, ob ein bedeutender Teil deutschen Volkes »eine totale nationale Souveränität« wiedererlangen oder einen Teil dieser Souveränität an eine europäische Föderation übertragen würde:

»Die erste Lösung ist keine: denn sie überlässt Deutschland seinem ewigen nationalistischen Erwachen, dessen Aufschwung durch keine besondere Maßnahme gezähmt werden kann [...] Das Zentralkomitee der U.E.F. erklärt deswegen ein weiteres Mal, dass einzig die Integration Deutschland in ein föderales Europa das deutsche Problem lösen und dafür sorgen kann, dass Deutschland aufhört, ein besonderes Problem für Europa zu sein.«[16]

Die besondere Bedeutung des »deutschen Problems« für Europa schien sich weiter zuzuspitzen, als mit dem Korea-Krieg die Wiedererrichtung einer deutschen Armee virulent wurde. Auf dem dritten Kongress der UEF brachte der mittlerweile zum Präsidenten des Exekutivbüros aufgestiegene Henri Frenay im November 1950 dieses Unbehagen auf den Punkt, das man trotz prinzipieller Zustimmung zu einem deutschen Wehrbeitrag – in gemischten Kontingenten, unter europäischem Kommando und europäischer politischer Kontrolle – empfand. Für die »nicht nur historischen, sondern jüngsten Erinnerungen« sei es sehr besorgniserregend festzustellen, welche politischen Reaktionen die Wiederbewaffnungsdebatte in Deutschland hervorgerufen habe. Denn niemand könne garantieren, »dass die gegenwärtige Regierung angesichts der Doppeloffensive von Nationalismus und Neutralismus ihre Positionen wird lange halten können«. Gelinge es nicht, die deutsche Wiederbewaffnung in europäische Bahnen zu lenken, die nationalistischen Aufwallungen in Deutschland und die reaktiven nationalistischen Aufwallungen in Frankreich einzudämmen, dann »gebe ich nicht viel auf das Schicksal der jungen Demokratie in Deutschland und nicht viel auf die französisch-deutsche Verständigung, was letztendlich bedeutet, dass ich nicht viel auf Europa und seine Einheit gebe«.[17] Zwar bedrohte die Bundesrepublik Westeuropa nicht unmittelbar, jedoch gewann sie durch den Korea-Krieg und die Widerbewaffnungsdebatte außenpolitischen Spielraum. Zudem verschärften sich innenpolitisch jene Tendenzen, die gegen eine westliche und europäische Einbindung, für Souveränität und Wiedervereinigung eintraten und dadurch mittelbar die Position der UdSSR gegenüber dem Westen zu stärken schienen.[18] Diese Konstellation erforderte eine besondere Initiative zur Gewinnung der Deutschen und Franzosen für die gemeinsame, europäische Verteidigung.

Für diese Initiative war Henri Frenay zuständig, mit dessen Aufstieg in die Führungsriege des Verbands »die UEF eine Phase des Aktivismus erlebt«.[19] Frenay besaß als ehemaliger Leiter der Widerstandsorganisation Combat und Minister der provisorischen Regierung Charles de Gaulles für die Repatriierung französischer Kriegsgefangener und Deportierter die Reputation und die organisatorischen Fähigkeiten, die Sache der Föderalisten mittels öffentlichkeitswirksamer Kampagnen zu vertreten. Auch verfügte Frenay, der in den 1920er Jahren als Soldat der französischen Besatzungsarmee im Rheinland angehört hatte, über hervorragende Deutschland-Kenntnisse und engagierte sich im Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle.[20] Unter seiner Ägide startete die UEF ihre letztlich gescheiterten Versuche, durch öffentlichen Druck die Beratende Versammlung des 1949 gegründeten Europarats in eine europäische Konstituante zu transformieren. Diese Kampagne bezog insbesondere Deutschland ein, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Europarat vertreten war. Auch hier zeigte sich, dass die Lösung des »deutschen Problems« aus Perspektive der UEF aufs engste mit der Etablierung europäisch-föderaler Strukturen verknüpft war.[21]

So erläuterte Frenay in einem Brief an die deutsche Europa-Union, eine klare deutsche Positionierung für die politische Einigung sei unabhängig von der Aufnahme der Bundesrepublik in den Europarat dringend notwendig. Denn »die Verunsicherungen, die sich, begründet oder nicht, hier äußern: Remilitarisierung, gefährliches ökonomisches Potenzial, werden ipso facto aus dem Weg geräumt, und dies ist für uns von sehr großer Bedeutung«.[22] Deutschland sollte und musste Bestandteil einer zukünftigen europäischen Föderation werden, hierfür hatten jedoch die Deutschen ihre unbedingte Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen, um die Skepsis in den ehemals besetzten Ländern Westeuropas zu überwinden. Wie weit die UEF angesichts der europäischen Unsicherheit zu gehen bereit waren, um diese Überzeugungsarbeit voranzutreiben, zeigte sich in ihrer Hinwendung zum VdS. Die Auseinandersetzung mit den deutschen Veteranen hatte ihren Ausgangspunkt in einer Konferenz, welche die Dachorganisation der europäischen Einigungsverbände, das Mouvement Européen, im September 1951 in Hamburg abhielt und auf der sich das Konfliktpotenzial zwischen Westeuropäern und Deutschen schon im Konferenztitel »Deutschland und Europa« offenbarte.[23] Henri Frenay trat auf dieser Konferenz in doppelter Funktion auf: Zum einen als Vorsitzender einer Kommission, die sich mit den aus der Vergangenheit herrührenden, psychologischen Hindernissen der europäischen Einbindung Deutschlands beschäftigte und die auch zum Problem der Kriegsverbrecherprozesse Stellung nahm, deren Legitimität verteidigt, aber deren Durchführung als mitunter revisionsbedürftig bezeichnet wurde.[24] Zum anderen trat er als Kritiker des Mouvement Européen und der Beschränkung seiner Tätigkeit auf Konferenzen und Resolutionen auf. Für Frenay erschien es notwendig, die Hindernisse der europäischen Einigung aktiv anzugehen, denn »if this European community is not going to become a fact in the very future all that we have said and all that we have done here will become a dead letter«.[25] In diesen Aktivismus, dessen zentrale Herausforderung das »deutsche Problem« darstellte, fügt sich der Vermittlungsversuch der UEF zwischen deutschen und westeuropäischen Veteranenverbänden ein.

Die europäischen Veteranentreffen 1952

Wie schon 1946/47, als die UEF den Kontakt zu Deutschen gesucht und diese in den Verband aufgenommen hatte, versuchte man auch 1952, das Problem in Gestalt der Veteranen direkt anzugehen. Und wie schon 1946/47 diente hierzu die neutrale Schweiz als Ort der Annäherung zwischen den ehemaligen Feinden und der Neutralisierung der gegensätzlichen Erinnerungen.[26] Das erste Treffen wurde vom 8. bis 9. März 1952 im Hotel Bad Lauterbach zwischen Deutschen und Franzosen abgehalten. Für die UEF waren die beiden Präsidenten von Exekutivbüro und Zentralkomitee, Henri Frenay und Eugen Kogon, anwesend; die deutsche Europa-Union und der französische Verband La Fédération wurden durch Otto Blessing und Jean-Maurice Martin vertreten. Der wenige Monate zuvor als Zusammenschluss mehrerer Verbände von Berufssoldaten ins Leben gerufene VdS hatte vier Vertreter entsandt. Aus Frankreich waren ebenfalls vier Vertreter von Veteranen- und Résistanceverbänden anwesend, darunter Alexis Thomas, Vizepräsident der traditionsreichen Union Nationale des Combattants (UNC), der auch Martin angehörte.[27]

Von diesem ersten Treffen, zu dem die deutschen und französischen Veteranen zwar als Vertreter ihrer Verbände, aber noch ohne offizielles Mandat gekommen waren, ist nur eine kurze Zusammenfassung der Diskussionen und Entscheidungen überliefert. Es wurde konstatiert, dass das Treffen Ausdruck eines gemeinsamen Verlangens nach einem europäischen Zusammenschluss und einer deutsch-französischen Aussöhnung sei, dass als gemeinsame moralische Basis hierfür die vom Europarat verabschiedete Charta der Menschenrechte gelte, und dass auf dieser Basis die Veteranenverbände ihre Positionen angleichen müssten, insbesondere im Hinblick auf die zweifelsohne existierenden Konflikte zwischen Deutschen und Franzosen. Der erste Konfliktpunkt war die SS: Hierzu wurde zwar festgehalten, dass eine Unterscheidung getroffen werden müsse zwischen SD, Wachmannschaften und Einsatzkommandos einerseits und andererseits »jenen Formationen, von denen die große Mehrheit ihre soldatische Pflicht getan, während eine Minderheit sich als Folterer und Mörder verhalten hat«, womit die Waffen-SS gemeint war. Deren Soldaten sollten jedoch nur individuell in die Veteranenverbände aufgenommen werden, während sich die Traditionsverbände der Waffen-SS »freiwillig« aufzulösen hätten.[28] Der zweite Konfliktpunkt betraf die in Frankreich als Kriegsverbrecher internierten deutschen Soldaten und ihre juristische Belangung: Die deutschen Teilnehmer verpflichteten sich, möglichst bald eine umfassende Darstellung ihrer Position zu diesem Punkt vorzulegen; die französischen Veteranen versprachen, für eine Behandlung der Internierten gemäß der europäischen Menschenrechtscharta einzutreten.[29]

Grundsätzlich galt, dass das in Europa bestehende Misstrauen gegenüber den deutschen Soldaten letztlich nur abgebaut werden könne, wenn die deutschen Veteranenverbände in ihre Reihen keine Kriegsverbrecher aufnähmen. Dies war eine klare Absage gegenüber dem VdS, der weniger auf die individuelle Verantwortlichkeit als auf die kollektive Anerkennung des Weltkriegssoldaten zielte, was auch explizit festgehalten wurde:

»Zum aufgeworfenen Problem der ›Ehre des deutschen Soldaten‹ wurde festgestellt, dass die rechtliche Vorstellung der Schuldhaftigkeit oder der Ehre eines Kollektivs den Prinzipien der Menschenrechtscharta, die zu Beginn der Sitzung anerkannt wurde, entgegensteht.«[30]

Die Charta der Menschenrechte war vom Mouvement Européen und dem Europarat tatsächlich im Hinblick auf Deutschland entworfen worden. Mit ihrer Hilfe sollten die Deutschen auf gemeinsame Werte verpflichtet und so zurück in die europäische Familie geholt werden.[31] Eine Verbindung des Kriegsverbrecherproblems mit der Menschenrechtscharta, wie sie im August 1950 von der CDU-Delegierten Helene Weber im Sinne einer letztlich unterschiedslosen Freilassung der inhaftierten Soldaten gefordert worden war, führte dementsprechend in der Beratenden Versammlung des Europarats zu heftigen Reaktion von westeuropäischer Seite und einem Abbruch der Diskussion.[32] Für die europäischen Veteranentreffen hatte die Charta dieselbe Funktion. Als gemeinsames Minimalprogramm zeigte sie der kollektiven Selbstmystifizierung der deutschen Soldaten ihre Grenzen. Eine Solidarisierung mit den »anständigen Soldaten« der Waffen-SS und den verurteilten Kriegsverbrechern, wie sie die DSZ oder der erste Vorsitzende des VdS, Johannes Frießner, proklamierten, war zumindest in diesem Zusammenhang nicht mehr möglich.[33]

Für die UEF war das erste Treffen von Bad Lauterbach ein Erfolg. Auf dem vierten Verbandskongress, der Ende März 1952 in Aachen stattfand, wurden die Veteranen in Anwesenheit des französischen Hochkommissars in der Bundesrepublik, André François-Poncet, sowie Konrad Adenauers aufgefordert, sich an den Bemühungen um einen europäischen Zusammenschluss zu beteiligen. Gleichzeitig hob Henri Frenay hervor, »dass die Notwendigkeit des deutschen Verteidigungsbeitrages für Europa nicht der Ausgangspunkt zur Schaffung Europas, sondern nur eine ihre[r] Folgen ist«.[34] Angesichts der nationalistisch-neutralistischen Tendenzen, die die UEF in Deutschland seit Beginn der Wiederbewaffnungsdebatte beobachtet hatte und die durch die Stalin-Note vom 10. März 1952 weiteren Auftrieb zu erhalten drohten, musste die europäische Einbeziehung der Bundesrepublik vorangetrieben werden, ohne dass man dadurch den Eindruck vermittelte, die Deutschen seien der entscheidende Faktor der europäischen Einigung. Gerade deswegen bestätigte das Zentralkomitee den Weg der deutsch-französischen Verständigung durch die Kontakte zwischen den Veteranen.[35] Schon im Mai 1952 konnte Frenay im Exekutivbüro über die Erweiterung dieser Kontakte um Veteranenverbände der weiteren Mitgliedsländer der Montanunion – Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Italien – und über ein anstehendes zweites Treffen Ende Juni berichten. Nicht folgen wollte das Exekutivbüro der Idee seines Präsidenten, eine UEF-Broschüre über das Problem der Kriegsverbrecher zu veröffentlichen. Es gewährte jedoch einen Kredit von 60 000 Francs für die bereits abgeschlossene Studie des Schweizer Völkerrechtlers Pierre Boissier.[36]

Dass Frenay so schnell ein Gutachten über die Kriegsverbrecherfrage in Auftrag gegeben hatte, kann im Hinblick auf das proklamierte Ziel einer weiteren Annäherung und Aussöhnung nicht überraschen. In Frankreich wie in Deutschland war dieses Thema emotional belegt und führte immer wieder zu manifesten Krisen im Verhältnis beider Länder.[37] Insbesondere den jeweiligen Veteranenverbänden diente das Thema der historischen Selbstvergewisserung.[38] Gottfried Hansen, Frießners Nachfolger als Vorsitzender des VdS, verband dann auch in einem Brief an die Teilnehmer der zweiten Tagung von Bad Lauterbach die Generalamnestie für internierte deutsche Soldaten – »in der Eigenschaft einer politischen Aktion«, mit der Frage des deutschen Verteidigungsbeitrags: »Ein ›ja‹ zu diesem Beitrag ist nicht möglich außer in Verbindung mit einer befriedigenden Lösung des Problems der ›Kriegsverbrecher‹.«[39] Auch wenn Hansen etwas diplomatischer vorging als sein Vorgänger, hinsichtlich der Frage der Kriegsverbrecher gab es zwischen den deutschen Veteranenfunktionären keinerlei Differenz – im Mai 1952 hatte Hansen in Briefen an Adenauer sowie an Dwight D. Eisenhower erneut die Generalamnestie gefordert und hinzugefügt, dies sei eine »Frage der Ehre, die keine Kompromisse zulässt«.[40]

Das in Hansens Brief offensiv angegangene Problem der Kriegsverbrecher prägte die gesamte Diskussion, die zwischen Frenay, den westeuropäischen sowie deutschen Veteranenvertretern auf dem zweiten Treffen von Bad Lauterbach geführt wurde. Gerade weil die meisten Beteiligten dieses Mal in offiziellem Auftrag ihrer Verbände angereist waren,[41] erwies es sich als besonders kompliziert, eine gemeinsame Position zu entwerfen. Auch wenn die Beteiligten und insbesondere Frenay immer wieder betonten, man diskutiere nicht »zwischen den Deutschen auf der einen und allen anderen auf der anderen Seite, sondern zwischen Europäern«[42]: Der Diskussionsverlauf offenbarte das Scheitern dieses Anspruchs. Denn der VdS legte anstatt der angekündigten, ausführlichen Darstellung des Kriegsverbrecherproblems eine bloße Liste sämtlicher internierter Personen vor und unterstrich auch dadurch seinen Standpunkt, dass er Einzelfallüberprüfungen ablehnte; er betonte das Junktim von Generalamnestie und der Beteiligung deutscher Kontingente, »die in ihrer Ehre getroffen sind«,[43] an einer europäischen Armee; und er übte große Zurückhaltung hinsichtlich einer Assoziierung mit der UEF.

Die westeuropäischen Veteranenvertreter und Frenay brachten weiter ihre Argumente gegen die Generalamnestie vor, welche den Eindruck vermittle, die deutschen Veteranen solidarisierten sich mit den Kriegsverbrechern. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit fraglichen Fällen, über die der VdS erst einmal die angekündigte Dokumentation vorlegen müsse, sei überhaupt nur möglich durch eine öffentliche Distanzierung der deutschen Veteranen von den zu Recht Verurteilten. Die Situation eskalierte soweit, dass Henri Frenay daran erinnerte, während der nationalsozialistischen Herrschaft habe »ein Regime, das 30 bis 40 Millionen Männer, Frauen und Kinder ermordet hat, im Namen Deutschlands sprechen können«.[44] Die präzedenzlose Monstrosität deutscher Verbrechen sei im europäischen Bewusstsein ein »fundamentaler psychologischer Faktor« den es zu berücksichtigen gelte. Auch wenn die deutschen Soldaten hieran nicht beteiligt gewesen seien, verstehe man nicht, wie sie sich weiterhin auf die Befehle eines mörderischen Regimes berufen und die Männer des 20. Juli in Diskredit bringen könnten. Verständlich sei hingegen, dass angesichts dieser Haltung »ein Teil der öffentlichen Meinung unserer Länder sich fragt, ob die deutsche Auffassung und die Veteranenverbände mit dem Hitlerregime gebrochen haben«.[45]

Die Resolution des zweiten Treffens von Bad Lauterbach erwähnte die Konflikte zwischen westeuropäischen und deutschen Veteranen über das Problem der Kriegsverbrecher mit keinem Wort. Man beschränkte sich auf das Bekenntnis zur Charta der Menschenrechte, zur europäischen Einigung und zur weiteren Zusammenarbeit, für die unter dem Dach der UEF ein Secrétariat permanente des Anciens Combattants geschaffen wurde.[46] Tatsächlich hatte sich der belgische Delegierte Félix de Loz dagegen ausgesprochen, zum Kriegsverbrecherproblem überhaupt Stellung zu beziehen, »um jegliche Katastrophe in Belgien zu verhüten [...] Das ist übrigens für die Deutschen noch ernster als für die Belgier. Sollte nur eine einzige Zeile eines solchen Antrags an die Presse gelangen, wären die Reaktion heftig und der deutsche Standpunkt würde zurückrudern«.[47] Stattdessen schrieb Frenay im Namen der Teilnehmer einen Brief an Hansen, in dem noch einmal sehr deutlich auf die europäische Charta der Menschenrechte als alleiniges Mittel zur Lösung des Kriegsverbrecherproblems verwiesen wurde. Gleichzeitig warnte er vor nationalen Alleingängen in dieser Frage, die »gefährliche Entgegnungen«[48] mit sich bringen würden. Infolge von Bad Lauterbach intensivierten sich die Kontakte zwischen der UEF und dem VdS, und das Hauptthema stellten weiterhin die Kriegsverbrecher dar.

Das Problem der Kriegsverbrecher

Auf der Sitzung des Zentralkomitees Ende September 1952 berichtete Jean-Maurice Martin vom Verlauf der beiden Zusammenkünfte von Bad Lauterbach, die durchaus positiv bewertet wurden, und von der Einrichtung des von ihm geführten Sekretariats für die Veteranen, dem die Aufgabe zukomme, die beteiligten Verbände an die UEF zu binden.[49] Henri Frenay betonte die Wichtigkeit, vor dieser Anbindung ein Bekenntnis zur europäischen Föderation einzufordern. Für das langfristige Ziel des Aufbaus einer europäischen Veteranenorganisation seien eine Intensivierung der Kontakte und öffentlichkeitswirksame Aktionen notwendig. Frenay schlug daher vor, in Verdun eine Kundgebung von 20 000 europäischen Veteranen zu organisieren.[50] Doch machte er auch auf die bestehenden Schwierigkeiten mit den Positionen des VdS aufmerksam, an dessen letztem Vorstandstreffen er, Martin und Kogon teilgenommen hatten. Frenay sei hier erneut auf das Problem der Kriegsverbrecher eingegangen und habe »vehement« gegen die Generalamnestie Stellung bezogen. Diese Intervention habe offenbar gefruchtet: Man wisse, dass der VdS »nach einem Weg sucht, von seiner früheren Haltung Abstand zu nehmen, ohne das Gesicht zu verlieren«.[51]

Etwas anders stellte sich die Angelegenheit dem VdS dar, der seinen Mitgliedern nun erstmals über die Kontakte zur UEF berichtete. Die Rede Frenays auf dem Vorstandstreffen am 6. und 7. September 1952 in Bonn wurde als Aufklärung darüber präsentiert, »wie stark die öffentliche Meinung in seinem Lande gegen die Generalamnestie eingestellt, wie stark aber auch in ihm der Europa-Gedanke lebendig ist«. Zudem habe Frenay erklärt, wie die deutschen Soldaten zur Beruhigung der öffentlichen Meinung in Frankreich beitragen könnten, weswegen man ihm dankbar sei, »dass er den Weg zu uns gefunden hat«.[52] Die Treffen von Bad Lauterbach wurden mit keinem Wort erwähnt. Ein Abrücken des VdS von der Forderung nach einer Generalamnestie, wie es Frenay in seinem Bericht im Zentralkomitee in Aussicht gestellt hatte, war zudem vorerst nicht festzustellen. Vielmehr bezweifelte der italienische Teilnehmer an der zweiten Tagung von Bad Lauterbach, Marco de Meis, gegenüber Jean-Maurice Martin, dass man angesichts der Umwerbung des entlassenen Kriegsverbrechers Albert Kesselring durch die deutschen Soldatenverbände, deren fortlaufender Forderung nach der Generalamnestie sowie militaristischer und nationalistischer Manifestationen überhaupt mit ihnen zusammenarbeiten könne.[53]

Dennoch setzte ein Lernprozess ein, der durchaus auf die Diskussionen von Bad Lauterbach zurückgeführt werden kann. Als in der DSZ im August und September 1952 erneut die Forderung der Soldatenverbände nach einer Generalamnestie »als politische Aktion«, als »Friedensamnestie« und »Akt des Vergessens und neuen Beginnens« wiederholt wurde, berief man sich auf die »Charta der Menschenrechte« und die angeblich zahlreichen Stimmen in den USA, Großbritannien und auch in Frankreich, die im Geiste dieser Charta die Forderung der deutschen Soldaten unterstützten.[54] Das Abrücken des VdS von der Generalamnestie war nicht auf die Interventionen der UEF zurückzuführen, sondern auf den Wunsch nach politischer Anerkennung, wie sie den deutschen Soldaten durch die Ehrenerklärung Adenauers vor dem Bundestag im Dezember 1952 zuteil wurde.[55] Dennoch spielte Europa als Verständigungs- und Versöhnungsmotiv eine wichtige Rolle für die Propaganda der Veteranen hinsichtlich des Kriegsverbrecherproblems.[56] Während jedoch bisher die Amnestie »als politische Aktion« – also unter Absehung juristischer Überlegungen – gefordert worden war, änderte sich das nach Bad Lauterbach. Dies hing mit zwei im Herbst 1952 veröffentlichten Aufsätzen in der von Frenay herausgegebenen Zeitschrift »Monde Nouveau – Paru« zum Kriegsverbrecherproblem zusammen, die auf dem Gutachten Pierre Boissiers basierten, dessen Abdruck als Verbandsbroschüre die UEF abgelehnt hatte.[57]

Auf einen kurzen Beitrag, in dem Boissier einleitend die Problem- und Fragestellung skizzierte,[58] folgten die ausführlichen, gemeinsam mit Frenay verfassten Überlegungen zur Kriegsverbrecherfrage. Als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung wurde die europäisch-föderalistische Überzeugung beschrieben, dass »[d]ie Rivalitäten, die Besatzungen und die Kriege, Konsequenzen des mörderischen Prinzips nationaler Souveränität, [...] tiefe und schmerzliche Spuren in der Seele wie im Leib der europäischen Völker [...], die heute anstreben sich zu vereinen«, hinterlassen hätten.[59] Angesichts dieser Hinterlassenschaft des souveränen Nationalstaats und der damit verbundenen psychologischen Hindernisse einer europäischen Einigung plädiere man nicht für das Vergessen, sondern schlage den Weg der Auseinandersetzung mit dem Problem der Kriegsverbrecher ein; so »schwierig und gefährlich«[60] dieser Weg auch sein würde, nur er könne die Komplexität des Problems verständlich machen und Franzosen, Deutsche sowie andere Betroffene davon abbringen, an ihren jeweils unvollständigen Standpunkten festzuhalten. Gerade weil man sich hierfür streng an den geltenden Rechtsnormen orientieren müsse, stehe man vor einem großen Problem: Denn selbst Verbrechen gegen die Menschheit, »die Gaskammern, der Massenmord an den Juden, das langsame Sterben in den zivilen Internierungslagern«[61], seien vom nationalsozialistischen Recht gedeckt gewesen. Die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen deutscher Soldaten sei ebenfalls sowohl nach deutschem und internationalem Recht als auch nach dem Recht der von Deutschland angegriffenen Staaten problematisch.

So könnten etwa Geiselerschießungen angesichts von Angriffen nichtgekennzeichneter Kombattanten als Selbstschutz bewertet werden, habe die US-Army aus taktischen Erwägungen bei der Befreiung Frankreichs wenig Rücksicht auf Zivilisten genommen und würden Übergriffe von alliierten Soldaten auf deutsche Zivilisten nicht mit derselben Härte verfolgt. Ohne auf die vollkommen unterschiedlichen Rahmenbedingungen dieser Vergleichsgrößen einzugehen, stellten die Autoren fest, dass die Ungleichbehandlung zur Verschärfung der Antagonismen innerhalb der Gesellschaften wie zwischen den Nationen führe, anstatt sie zu befrieden, wobei die Autoren unterstrichen,

»dass die deutsche Öffentlichkeit und namentlich die deutschen Veteranen, zusammengeschlossen im ›Verband deutscher Soldaten‹, keinesfalls jede Verfolgung beanstanden, sondern lediglich solche Fälle, die nicht dem Kriterium ›Kriegsverbrechen‹ gemäß den tradierten Richtlinien der Militärjustiz entsprechen, wie sie vor Hitler bestanden«.[62]

Es stünden jedoch nicht Hitler und der nationalsozialistische Staat vor Gericht, sondern dessen Soldaten, die »als Zivilisten achtbare Ämter ausübten«, weswegen »die Verfolgung der Kriegsverbrechen nicht rehabilitiert, sondern pervertiert«.[63]

Angesichts der Ausweitung der modernen Kriegführung auf die gesamt Gesellschaft stelle sich ohnehin die Frage, ab welchem Punkt diese unterschiedslose Kriegführung kriminell im Sinne des Strafrechts werde. Nachdem die Autoren Coventry, Rotterdam, Dresden und Hiroshima dem Massaker der Waffen-SS in Oradour-sur-Glane gegenübergestellt hatten, schlussfolgerten sie, die Verfolgung der Kriegsverbrecher sei »eine Art Versessenheit eine neue und monströse Epoche zu bestreiten, die Nostalgie einer mehr ritterlichen Zeit, als der Mensch noch als volles Individuum existierte, mit seinem Privileg sich zu entscheiden, zu sündigen und bestraft zu werden«.[64] Trotz ihrer prinzipiellen Infragestellung der juristischen Verfolgung von Kriegsverbrechen – eingerahmt durch die geradezu existentialistische Negierung von persönlicher Verantwortung im Zuge der modernen Kriegführung – forderten die Autoren eine Überprüfung der Urteile auf Grundlage der Charta der Menschenrechte, der sich jedes Mitgliedsland des Europarats verpflichtet hatte. Ein gemischtes Komitee aus Juristen und Militärs solle bewerten, ob die Urteile durch rückwirkende Gesetzgebung erfolgt waren, ob individuelle Verantwortung für die inkriminierten Taten nachweisbar sei, ob sie zeitgenössischem deutschem Recht widersprochen hatten und ob sie mit Taten der alliierten Armeen und der UN-Truppen in Korea vergleichbar seien, »um gänzliche oder teilweise Begnadigungen vorzuschlagen«.[65]

Diese Argumentation, individuelle Verantwortung für Kriegsverbrechen juristisch und existentialistisch infrage zu stellen und dennoch durch die Ablehnung einer Amnestie – der Begriff wurde konsequent vermieden – an der Einzelfallüberprüfung festzuhalten, mag widersprüchlich erscheinen. Sie entsprach ganz dem Stil der UEF, den Deutschen weit entgegenzukommen, um sie einzubinden, aber gleichzeitig daran zu erinnern, dass es im Rahmen des allgemeinen Problems nationalstaatlicher Souveränität immer noch ein besonderes »deutsches Problem« gab. Trotz der grundsätzlichen Problematisierung der Verfolgung von Kriegsverbrechen machten Frenay und Boissier darauf aufmerksam, dass es »den menschlichen Gesetzen übergeordneten Prinzipien« gebe, welche »die Fundamente unserer Zivilisation«[66] darstellten. Diese Prinzipien seien die Grundlage der europäischen Gemeinschaft, des Nürnberger Tribunals und eines sich daraus entwickelnden internationalen Strafrechts, welches Kriegsverbrechen in Zukunft verhindern würde. Auch wenn deutsche Soldaten nur Befehle befolgt hätten, seien sie deswegen nicht weniger zu Mördern geworden:

»Wir verstehen, dass die Deutschen, insbesondere die deutschen Militärs, eine Erklärung ihres Verhaltens in der Gehorsamspflicht suchen können, welche die erste Regel des Soldaten ist. Wer allerdings trägt dann die Verantwortung, die in ihren Augen nicht dem Befehlsempfänger obliegt? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: der deutsche Staat. Als dieser die traditionellen Begriffe des Rechts, Frucht von 2000 Jahren Zivilisation, auf den Kopf stellte und proklamierte, dass ›Recht ist, was dem Reich dient‹, war es unmissverständlich, dass der Gehorsam diesem Staat gegenüber aus jedem Deutschen einen Mörder machen könnte. Das ist mit einer bestimmten Anzahl von ihnen geschehen.«[67]

Im Zentralkomitee berichtete Frenay zufrieden, der Beitrag in »Monde Nouveau« habe »im Allgemeinen eine äußerst zustimmende Rezeption erfahren«.[68] Besonders günstig war die Rezeption durch den VdS: Als Boissier ein Jahr später eine monografische Darstellung nachlegte, die sofort ins Deutsche übersetzt wurde,[69] erschien in der DSZ eine euphorische Rezension: Mehr noch als der den VdS-Mitgliedern bekannte Aufsatz von Boissier und »Oberst Frenay« in »Monde Nouveau« sei das Buch »eine Sensation. Die allgemeine gefühlsmäßige Ablehnung der Kriegsverbrecherprozesse wird hier juristisch begründet«.[70] An die Stelle der »gefühlsmäßigen Ablehnung« der Kriegsverbrecherprozesse und der Forderung nach einer Generalamnestie als »politische Aktion« trat infolge der Treffen von Bad Lauterbach die europäische Menschenrechtscharta als Argumentationsgrundlage, die nun durch weitere rechtliche Erwägungen untermauert wurde. Einen engeren Zusammenschluss hatte diese Begeisterung des VdS aber nicht zur Folge. Denn im März 1953 sagte sich der französische Verband La Fédération unter der Führung André Voisins vom Dacherverband Union Française des Fédéralistes (UFF) und von der UEF los. Die integralen Föderalisten um Voisin lehnten die Unterstützung eines europäischen »zentralisierten Superstaates«[71] als Verrat an den Grundüberzeugungen des Föderalismus ab. La Fédération gehörte auch der UEF-Sekretär für die Veteranen, Jean-Maurice Martin, an, der als Weggefährte André Voisins dessen politische Entwicklung von der Action française und der nationalen Revolution Philippe Pétains über die Gründung von La Fédération hin zur UEF geteilt hatte.[72] Das Zentralkomitee der UEF zog sofort Konsequenzen aus dem Bruch und enthob Martin seiner Verantwortung für die Veteranen.[73] Damit kamen auch die Bemühungen der Föderalisten um die Sammlung der Veteranenverbände zum Erliegen.

Die Initiative des General Béthouart

In dieser Situation ergriff General Emile Béthouart die Initiative. Béthouart, der von sich selbst sagte, seine Beteiligung an den beiden Weltkriegen habe ihn zum Europäer werden lassen,[74] scheint schon als französischer Hochkommissar in Österreich mit der UEF in Kontakt gestanden zu haben: 1947 hatte sich der Verband an das Hochkommissariat gewandt, um Informationen über österreichische Föderalistenverbände zu erlangen, denen man aufgrund befürchteter »zäher Relikte von Führerprinzip und Gleischaltung«[75] skeptisch gegenüberstand. Als sich die französischen Föderalistenverbände im November 1952 kurzzeitig in der UFF zusammenschlossen, wählten sie den General zu ihrem Präsidenten.[76] Was Béthouart mit den Bestrebungen der UEF verband, war sein frühes Eintreten für die EVG in der französischen Öffentlichkeit.[77] Die Notwendigkeit einer Einbeziehung Deutschlands lag für ihn nicht zuletzt in der möglichst engen Bindung der Bundesrepublik an den Westen begründet. Da »jenseits des Rheins der Wettlauf zwischen europäischer Solidarität und Nationalismus begonnen hat«, bliebe den Europäern überhaupt nichts anderes übrig als der europäische Zusammenschluss »angesichts der sicheren Katastrophe, welche ein Triumph des deutschen Nationalismus bewirken würde«.[78]

Im Rahmen der von der UEF initiierten Veteranentreffen trat Béthouart erstmals auf einer von der Europa-Union organisierten Tagung auf, die im März 1953 in Rhöndorf stattfand und an der neben Frenay, Kogon und zahlreichen weiteren führenden Mitgliedern der UEF auch 120 deutsche Soldaten »vom Schützen bis zum General«[79] teilnahmen. Die DSZ berichtete überschwänglich von dieser Tagung und insbesondere von der Rede Béthouarts, die von den Anwesenden »gefeiert« worden sei.[80] Dass auf dieser Tagung hauptsächlich über die als »französisches Problem« bezeichneten Schwierigkeiten der EVG gesprochen wurde, mag zu dieser Begeisterung beigetragen haben. Béthouart gab zu bedenken, die öffentliche Meinung in Frankreich wolle nicht wahrhaben, dass es angesichts der kommunistischen Bedrohung »keine Neutralität« geben könne. Die Franzosen seien weiterhin durch das »nervöse Trauma« von 1940 gelähmt, sie hätten »nicht verstanden, wieso dieser Sieg so leicht war. Jedoch wir als Soldaten wissen, dass es so leicht war, weil eine defensive Politik zu einer schlechten Leitung geführt hat, zu einer statischen Strategie«. Die notwendige, gemeinsame Überwindung dieser defensiven Politik im Rahmen der EVG könne aber nur »auf der Grundlage gegenseitiger Achtung Bestand haben«.[81] Béthouarts militärischer Rang, seine kameradschaftliche Rhetorik sowie seine Forderung, eine europäische Armee unter Anerkennung nationaler Traditionen und durch regionale Rekrutierung und Anbindung der Kontingente aufzubauen,[82] hob ihn in den Augen der deutschen Veteranen gegenüber jedem anderen Teilnehmer hervor – nicht zuletzt gegenüber Henri Frenay und der UEF, die im Bericht der DSZ dann auch gar nicht erst erwähnt wurden.

Dies bedeutete zwar nicht, dass die seit nunmehr einem Jahr bestehenden Kontakte zwischen der UEF und dem VdS abbrachen. Im April 1953 bedankte sich der VdS bei UEF-Generalsekretär Guglielmo Usellini für die Versorgung mit französischen Presseartikeln über das Problem der Kriegsverbrecher wie auch für die »mutigen und offenen Worte« Frenays und Boissiers, die gerade im Lichte dieser Artikel ein besonderes Gewicht erlangt und unter den deutschen Soldaten »Bewunderung und Zustimmung gefunden und viel Gutes gewirkt«[83] hätten. Im September wandte sich Frenay wiederum in einem langen, ins Deutsche übersetzen Brief an die DSZ, in dem er seine Zustimmung zu einem Artikel der Zeitung über die französische Kampagne gegen die EVG mitteilte,[84] aber gleichzeitig betonte, dass zumindest ein Teil der in Frankreich bestehenden Ablehnung aus »edlen Beweggründen« und einem »echten Patriotismus« herrühre. Diesen Gefühlen müsse durch einen gemeinsamen Kampf für die deutsch-französische Verständigung und den europäischen Zusammenschluss begegnet werden, wobei es »viel wirkungsvoller [ist], wenn er im Lande selbst geführt wird, das heißt von Franzosen gegen die Formen des französischen Nationalismus und von Deutschen gegen die des deutschen Nationalismus«.[85] Der Brief wurde in voller Länge in der DSZ abgedruckt, nur die anrüchig erscheinende Übersetzung des »ancien combattant« als »alter Kämpfer« wurde durch den Begriff »Frontkämpfer« kosmetisch bereinigt.[86]

Während die Zusammenkünfte von Bad Lauterbach in der DSZ wie auch im Jahresbericht des VdS verschwiegen wurden,[87] berichtete man im August 1953 ausführlich über ein weiteres Veteranentreffen, das unter der Leitung Béthouarts in Luxemburg stattgefunden hatte. Eine Kontinuität zu Bad Lauterbach war durchaus gegeben, wie die DSZ selbst hervorhob, ohne auf die Vorgängertreffen näher einzugehen – nicht zuletzt durch die Organisatoren des Treffen, die beiden Funktionäre der französischen UNC, Alexis Thomas und Jean-Maurice Martin. Der Bruch der UEF mit La Fédérationund die Absetzung Martins hatten offenbar nicht zu einem Stocken der europäischen Kontakte geführt. Während Frenay die Präsidentschaft der UFF übernahm und somit Béthouart ersetzte,[88] ergriff Béthouart die Initiative hinsichtlich der Veteranen und konnte dabei auf den bestehenden organisatorischen und personellen Strukturen aufbauen. Der antinationale Föderalismus der UEF musste den deutschen Veteranen in ihrer Verachtung eines »utopischen Status und Völkerbreis auf europäischer Basis«[89] suspekt bleiben und ausschließlich dann willkommen sein, wenn er die eigenen Positionen stützte. Hinsichtlich eines Zusammenschlusses der europäischen Veteranen erschien Béthouarts Initiative, die nationalen Traditionen den erwünschten Respekt erwies, als angemessener.

Auf dem am 26. Juli 1953 in Luxemburg stattfindenden dritten Veteranentreffen waren neben den luxemburgischen und französischen Delegationen auch Vertreter aus Italien, Belgien und Deutschland anwesend. Die sechsköpfige deutsche Delegation setzte sich aus vier Mitgliedern des VdS und zwei des Kyffhäuserbundes zusammen, deren Anwesenheit und Mitarbeit »lebhaft begrüßt« wurde.[90] Aus Béthouarts Rede zitierte der Bericht der DSZ ausführlich und zustimmend: »Europa muss sich einig werden, geteilt ist es dem Untergang geweiht [...] Die Erinnerungen an den Krieg sind noch allzu rege und sie werden künstlich wachgehalten.« Anstelle dieser Erinnerung müsse ein Ausgleich zwischen den ehemaligen Feinden in Gestalt eines europäischen Veteranenbundes treten, dessen Vorbereitung in einem gemeinsamen Arbeitsausschuss ebenso beschlossen wurde wie ein Gründungskongress. Zudem wurde ein Unterschied zum Plan der UEF deutlich, den europäischen Veteranenbund vorerst auf die sechs Mitgliedsländer von Montanunion und EVG zu beschränken: Béthouart schwebte vielmehr eine Organisation vor, die sich, auf die Mitgliedsländer des Europarats und die von ihnen unterzeichnete »Magna Charta der Menschenrechte« stützend, »in gleicher Weise der Abwehr totalitärer Ideologien wie dem Zusammenwachsen der freien Völker Europas dienen sollte«.[91]

Béthouarts Fédération Européenne des Anciens Combattants (FEDAC) sollte, wie er in einer Botschaft an den zweiten Haager Kongress des Mouvement Européen im Oktober 1953 deutlich machte,[92] über die Grenzen der Sechs hinausgehen, ohne dadurch mit der bereits etablierten »Initiative Henry Frenays und der UEF im Rahmen der Sechs« in Konkurrenz zu treten. Es erschien Béthouart jedoch wichtig und nützlich, gegen die Internationale des Kommunismus eine europäische Internationale »zwischen ehemaligen Kriegsteilnehmern und ehemaligen Feinden« in Stellung zu bringen, deren wichtigstes Anliegen es sei, die Gründung der EVG zu unterstützen. Béthouart berichtete über den Kongress in Luxemburg und kündigte ein weiteres Treffen an, auf dem die Statuten diskutiert und ein Datum für den Gründungskongress festgelegt würden. Und er teilte seine Überzeugung mit, dass wenn »man die Europäer versöhnen will, [...] man zuerst versuchen [muss] jene Menschen zu versöhnen, die sich mit der Waffe in der Hand gegenseitig bekämpft haben«[93], weswegen die FEDAC als Vorbild für alle europäischen Patrioten diene.

Tatsächlich intensivierten sich nun die Bemühungen um die Gründung von Béthouarts Organisation. In einem Beitrag, der von beiden Ausgaben der DSZ abgedruckt wurde, warb Béthouart für den europäischen Veteranenbund. Er rekapitulierte, dieses Mal ohne Benennung der ursprünglichen Initiative der UEF, die Versöhnung als Motiv seiner Organisation, deren Verpflichtung auf die »innerhalb des Europarats zur gemeinsamen ›Charta‹ der Alliierten und Feinde von gestern« gewordenen Menschenrechtskonvention, das Treffen in Luxemburg und eine darauffolgende, am 11. Oktober in Brüssel abgehaltene Zusammenkunft. Hier sei die Gründung der FEDAC beschlossen worden, die sich für die europäische Einigung, die persönlichen Kontakte zwischen ehemaligen Feinden und für ein humaneres Kriegsrecht einsetzen würde. Was jedoch die besondere Aufmerksamkeit der DSZ erregte, waren Béthouarts Überlegungen zur Résistance. Der europäische Soldatenbund werde sich »zunächst an die Frontkämpfer wenden«, dann aber auch die Widerstandskämpfer mit einbeziehen. Der Zweite Weltkrieg habe viele verschiedene Arten des Kampfes mit sich gebracht. Der Kampf der »nationalen Widerstandsbewegungen« verdiene »besondere Erwähnung« denn »[e]s ist dies eine Art des Kampfes, die beträchtlich entwickelt werden müsste, wenn das Schicksal es wollte, dass wir einen neuen totalen Krieg gegen eine sowjetische Aggression zu führen hätten.« Er verglich die »Soldaten des Widerstands« mit Andreas Hofer, den Béthouart schon als französischer Hochkommissar in Österreich gewürdigt hatte.[94]

Der Widerstand habe zwar keine Uniform getragen, aber dennoch gemäß militärischen Organisationsformen und Prinzipien gekämpft. So wie die französische Regierung diesen Kampf »nach der erforderlichen Auslese« durch den Frontkämpferstatus anerkannt habe,[95] so müssten auch die europäischen Veteranen die anerkannten Widerstandskämpfer in ihrem Bund willkommen heißen. Béthouarts Ausführungen zu den nationalen Widerstandskämpfern und der nicht explizite, aber von der DSZ hervorgehobene »Unterschied zu den kommunistischen«[96] erzeugte tatsächlich einen Wandel in der Darstellung, die vonseiten der Zeitung und des VdS im Hinblick auf die Résistance geübt wurde. Hatte man bisher pauschal den »völkerrechtswidrigen Untergrundkrieg«[97] und »das Ausmaß des sich ständig steigernden Partisanenkrieges in Frankreich«[98] für Massaker, wie sie etwas von der Waffen-SS-Division Das Reich in der Region Limousin verübt worden waren, verantwortlich gemacht, griff man nun die von Béthouart angebotene Unterscheidung auf. Während der nationale Widerstand von dieser Verantwortung freigesprochen wurde, klebe »dieses Blut an den Händen jener kommunistischen Mordbanden«, die im Limousin eine »kommunistische Schreckensherrschaft« errichtet hätten und »so viele Menschen ins Jenseits beförderten, dass man heute in Frankreich selbst von einem ›Katyn du Limousin‹ spricht«.[99]

Der vergangenheitspolitische Kompromiss hinsichtlich der Résistance schien den letzten Konfliktpunkt mit den deutschen Veteranen aus dem Weg zu räumen. Am 30. Januar 1954 traf sich Béthouart in Bonn mit Vertretern des VdS und weiterer deutscher Veteranenverbände und wurde im Anschluss von Adenauer empfangen; im Jahresbericht des VdS für 1953 wurde die Gründung von Béthouarts FEDAC für das Frühjahr 1954 angekündigt und vonseiten des Vorstands die Bitte an die Vertreterversammlung gerichtet, ihn zum Beitritt zu ermächtigen.[100] In seiner Rede vor der Vertreterversammlung sprach der VdS-Vorsitzende Gottfried Hansen dann noch einmal ausführlich über die 1952 vonseiten des »Obersten Henri Frenay« hergestellten Kontakte, dessen Rolle aber auf seine gemeinsam mit Boissier verfasste Untersuchung zum Kriegsverbrecherproblem reduziert wurde, und die Initiative Béthouarts, der man sich in Frankeich und Deutschland angeschlossen habe, weil »eine unmittelbare Verbindung der beiderseitigen soldatischen Verbände einfacher, klarer und den Soldaten gemäßer ist als die über die politische Europa-Union«.[101] Ebenso konstatierte Hansen, dem VdS sei

»der schwere Vorwurf nicht erspart geblieben, dass wir uns damit auch mit Widerstandskämpfern vereinigten, die in Nichtachtung der anerkannten Kriegsregeln hinterhältige Kampfmethoden angewandt hätten. Vieles wäre dazu zu sagen. Zunächst liegt uns eine Erklärung des Generals Béthouart vor, die besagt, dass nur solche Bünde von Widerstandskämpfern in die FEDAC aufgenommen würden, deren Mitglieder von der französischen Regierung als ›Frontkämpfer‹ gemäß der Haager Landkriegsordnung anerkannt worden seien und einen entsprechenden Ausweis erhalten hätten«.[102]

Ob sich die Vertreterversammlung des VdS von dieser Erklärung beruhigen ließ oder ihrem Vorstand doch noch die Zustimmung zum Beitritt verweigerte und damit die FEDAC zu Fall brachte, ist ungewiss – in jedem Fall verliert sich hier die Spur der europäischen Veteranenkontakte in der DSZ. Die UEF, der von Marco de Meis über die weiteren Veteranentreffen Bericht erstattet wurde,[103] sah in Béthouarts Versuch eines Zusammenschlusses auf Grundlage der Mitgliedsländer des Europarats ein großes Hindernis, »umso mehr, als er sich an deutsche Organisationen gewandt hat, die scheinbar eine Art Veto gegen das Mitwirken von Organisationen der Partisanen und Résistants eingelegt haben«.[104] Ein Wiederaufleben der eigenen Bemühungen, wie es von Generalsekretär Usellini noch im Dezember 1953 in einem Brief an die saarländische Europa-Union angekündigt worden war, kam offenbar nicht mehr zustande.[105]

Zur Bewertung der europäischen Veteranenkontakte

Kurz vor dem Scheitern der EVG veröffentliche General Béthouart eine Broschüre, in der er noch einmal sämtliche seiner Argumente für die europäische Armee anführte. In dieser Broschüre berichtete er auch von dem Soldatentreffen in Rhöndorf im März 1953, auf dem sich 120 deutsche Soldaten zur europäischen Integration bekannt hätten. Seine eigene Anwesenheit bei diesem Treffen und seine darauf folgenden Bemühungen um die Gründung der FEDAC wurden hingegen nicht mehr erwähnt.[106] Stattdessen setzte sich Béthouart intensiv mit dem »deutschen Problem«, seiner historischen, kulturellen und demografischen Bedingungen auseinander. Zentral für ihn war die Entgegensetzung von germanisch-lateinischer Zivilisation und preußischem Geist, deren Ringen die deutsche Geschichte geprägt habe und nach wie vor präge:

»Deutschland ist zurückgefallen auf seine Grenzen des Mittelalters, als es, gen Westen gewandt, die deutsche Zivilisation errichtete, [...] deren lateinische Seite erst unter den Schlägen des preußischen Geistes und des Hitlerismus einging. Werden wir unter entsprechenden Umständen Deutschland aus dem Westen zurückweisen?«[107]

Diese Aussage zeigt paradigmatisch, wie wenig die Kontakte zwischen den europäischen Veteranen an den ursprünglichen Motiven, die zu diesen Kontakten geführt hatten, zu ändern vermochten. Angesichts zweier Weltkriege, der Blockkonfrontation und eines angenommenen Wiederauflebens des deutschen Nationalismus galt es, gerade die soldatischen Stützen des »preußischen« Deutschlands mit einer europäischen Alternative zu konfrontieren, ihnen in wesentlichen Konfliktpunkten entgegenzukommen, sie aber gleichzeitig auf eine gemeinsame, wertebasierte Grundlage zu verpflichten und somit von ihren tradierten, nationalistischen Positionen abzubringen. Dies lässt sich an den Haupthemen der Veteranentreffen nachvollziehen: Die Anerkennung der deutschen Soldaten ging einher mit einer Distanzierung von der Waffen-SS als Organisation, die Zugeständnisse in der Kriegsverbrecherfrage hatten ein Abrücken von der Amnestieforderung zum Ziel, und die Abgrenzung von der kommunistischen Résistance sollte eine Einbindung der »nationalen« Widerstandskämpfer bewirken. Diese selektiv-kompromisshafte Erinnerung war keineswegs ein »Akt des Vergessens«, sondern zwangsläufig eine ständige Vergegenwärtigung des »deutschen Problems« und seiner besonderen Herausforderung für die europäische Einigung.

Insofern greift Walter Lipgens’ Einschätzung, im nichtkommunistischen Widerstand als Vorläufer der europäischen Einigungsbewegung habe »wie selbstverständlich ein außerordentlicher Wandel der Einstellung gegenüber Deutschland« stattgefunden, der eine Unterscheidung »[z]wischen nationalsozialistischer Führungsschicht und deutschem Volk«[108] ermöglichte, zu kurz. Sie kann tatsächlich als »wishfull thinking« und »noble myth« der Integrationshistoriografie charakterisiert werden.[109] Ebenso war die emotional geführte europäische Debatte über die EVG nicht bloße Rhetorik zur Stützung nationaler Interessen,[110] sondern Ausdruck einer sehr realen Furcht vor einem aufs Neue »erwachenden« Deutschland, die auch von der selbsternannten Avantgarde der europäischen Einigungsbewegung, der UEF, geteilt wurde. Die möglichst enge Einbindung der Bundesrepublik erschien als alternativlose Strategie, deren Scheitern eine erneute europäische Katastrophe zur Folge haben würde. Die Veteranentreffen der Jahre 1952/53 sollten dafür sorgen, dass die am gefährlichsten erscheinenden Aspekte des »deutschen Problems« – deutsche Souveränität und deutsches Militär – durch die europäische Perspektive neutralisiert würden.

Online erschienen: 2016-11-17
Erschienen im Druck: 2016-11-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 22.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/mgzs-2016-0070/html
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