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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter June 14, 2023

Ökonomien des Selbst

Die Aufzeichnungen des Lucas Rem

  • Christian Kiening EMAIL logo

Abstract

The records of the Augsburg merchant Lucas Rem (1481–1541) are one of the most noticed ego-documents of the early modern period. Nevertheless, their codicological and scriptural character has not attired much attention. Based on a precise analysis of the different fascicles of the codex this article develops new insights into the interplay between economies of writing, forms of self-fashioning and mercantile ways of living.

I

Lucas Remen dess III verzaichnis seines gantzen lebens thun vnd lassens, darab seine nachkumne ein exempel der tugend nemen könden, damit sy sich zů fürsichtigkeit vnd fleiss gewenen, dar neben sich von liederlichen vnnüz dingen, essen, trinken, spilen, pracht enthalten, welches leichtlich geschicht, so sy dem anfang weren, vnd inn nutzlichen tugentlichen sachen ir kurtzweil sůchen, vnd damit die zeit zůbringen.Sampt einer verzaichnis seiner haab vnd güter.

So schreibt in der Handschrift der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek 4° Cod. H 13 (fol. #v) ein Nachfahre des Augsburger Kaufmanns Lucas Rem vielleicht um 1575 auf die Rückseite der genealogischen Zusammenstellung des Vorfahren, die dessen Lebens‑, Familien- und Handelsbüchlein einleitet. Er schreibt die Zeilen sorgfältig nach Art eines Stundenglases, wie man dies aus zeitgenössischen Handschriften und Drucken kennt. Und er betont das Exemplarische von Rems Lebens, seine Vorbildhaftigkeit in moralischer und pragmatischer Hinsicht. Die Besitztümer, deren Verzeichnis de facto die Hauptmenge des Büchleins einnimmt, erwähnt er erst am Ende. Von der erfolgreichen Kaufmannstätigkeit, die sich in den meisten Partien des Büchleins niederschlägt, ist nicht die Rede. Die Textsammlung erscheint weniger als ein Ausgaben-, Handels- und Familienregister denn als ein autobiografisches Memoriale – jene Rezeptionshaltung, die ihr in der Moderne einen prominenten Platz unter den frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen sichern wird.

Städtisch-merkantile Haus- und Familienbücher, libri di famiglia, livres de raison, gibt es in Italien seit dem 13., nördlich der Alpen vermehrt seit dem 15. Jahrhundert.[1] Sie sind heterogene Gebilde: Mit den verschiedenen Typen von Handelsbüchern im engeren Sinne teilen sie die registrierende, manchmal listen- und tabellenartige Dimension. Sie unterscheiden sich aber auch von diesen, indem sie nichtmerkantile und nichtnummerische Aspekte ebenfalls berücksichtigen. Erstellt teilweise über einen längeren Zeitraum hinweg, können sie doch durch ihre Darbietung oder ihre Rahmungen als integrale Werke erscheinen. Auf ein handelndes und schreibendes Subjekt zentriert, können sie sich doch von diesem immer wieder lösen, um Dimensionen, die Familie, die Vorfahren oder die Nachkommen betreffend, durch historische und zeitgeschichtliche, ökonomische und merkantile zu ergänzen.

Die Aufzeichnungen des Lucas Rem ‒ 1481 geboren, über seine Mutter Magdalena mit dem Geschlecht der Welser verwandt, 1538 in das Augsburger Patriziat, 1541 in den erblichen Reichsadel aufgenommen und im gleichen Jahr gestorben ‒ seine Aufzeichnungen gehören zu den frühesten deutschsprachigen und den am stärksten beachteten Beispielen dieser Textsorte. Sie stehen in einer sich im 15. Jahrhundert gerade in den großen Handelsstädten wie Nürnberg oder Augsburg verdichtenden Tradition.[2] Zugleich bestechen sie, bei aller Lakonie, durch die Konsequenz der Ichartikulation, durch die Vielfalt der in den verschiedenen Teilen aufscheinenden Aspekte und durch die Kombination der Registratur der Reisen mit den Erträgen des Handels und den Ereignissen des Lebenslaufs – keine Handelspraktik, wie sie 1511 ein anderer Augsburger, vielleicht ebenfalls aus dem Welserkontext, mit Bildern versehen, zusammenstellte,[3] sondern eine sonst seltene ökonomisch grundierte Aufzeichnung des Lebens als eines beständigen Unterwegsseins. Schon früh, 1861, wurde die Handschrift in einer, was Transkription und Kommentierung betrifft, nach wie vor beachtlichen Edition durch den Augsburger Lehrer, Bibliothekar und Sekretär des Historischen Kreis-Vereins Schwaben und Neuburg Benedikt Greiff (1803–1871) herausgegeben. Besonders ihr erster, tagebuchartiger Teil wurde zu einem der meistzitierten egodokumentarisch-ökonomischen Texte der frühen Neuzeit überhaupt.[4]

Überwiegend aus diesem Text hat man das Leben Rems rekonstruiert: seine Lehr- und Angestelltenzeit, seinen Aufstieg in der Welser-Vöhlin-Gesellschaft vom Handelsdiener zum Faktor zum Mitgesellschafter, seine Selbstständigkeit, seine Geschäftsbeziehungen und Handelserfolge, seine Reisen, Krankheiten und Kuren, seine Heirat und seine Nachkommen. Zwar sind mittlerweile Fragmente der Geschäftsbücher der Welser-Vöhlin-Gesellschaft ediert, der Rem zwischen 1499 und 1517 angehörte.[5] Auch haben sich Gemälde unter anderem des niederländischen Landschaftsmalers Joachim Patinir erhalten, die Rem erworben oder in Auftrag gegeben hat (und die teilweise sein Wappen zeigen).[6] Viele Aspekte aber lassen sich primär aus den egodokumentarischen Aufzeichnungen erschließen. Sie haben deshalb in vielfältiger Hinsicht als Quelle gedient: zuvorderst für die nationalen und internationalen Aktivitäten des Augsburger Handelsunternehmens der Welser in Frankreich und Portugal, in den Niederlanden und in Übersee;[7] sodann auch für soziale, familiale, emotionale, topografische und medizinisch-körperbezogene Anschauungen;[8] oder auch für frühneuzeitliche Individualisierungsprozesse.[9]

Was allerdings bei all dem kaum in den Blick kam, war der Status der Überlieferung. Obschon man sozial- und wirtschaftsgeschichtlich verstärkt die Rolle der Schrift für die Arten des Buchhaltens thematisierte[10] und „durch eine textorientierte Analyse von kleinteiligen geschäftlichen Vorgängen und Handlungsmustern eine neue Interpretation kooperativer Verfahrensweisen“ in der zeitgenössischen Wirtschaftspraxis zu gewinnen suchte[11] – die Rem’schen Aufzeichnungen kamen dabei höchstens am Rande vor.[12] Auch galt das Interesse nicht der Überlieferung, sondern dem sie hervorbringenden Subjekt, den Darstellungstendenzen, den ökonomischen Sachverhalten oder generell den historischen Kontexten. Philologisch genaue Untersuchungen zur Anlage und zum Charakter der Rem’schen Texte fehlen.

Die originale Handschrift, zunächst im Familienbesitz aufbewahrt und im 19. Jahrhundert an die heutige Staats- und Stadtbibliothek Augsburg (4° Cod. H 13 [Sammlung Halder]) gelangt, wurde seit der Edition von 1861 kaum mehr herangezogen.[13] Weitgehend unbemerkt blieben so auch manche (teilweise zeitbedingte) Mängel der Edition: Greiff gibt keine Hinweise zu Unterschieden der Schrift. Er macht keine Blattangaben. Er ist nicht immer genau in den Lesungen.[14] Er inseriert stillschweigend die Überschriften des Inhaltsverzeichnisses in den Text. Er übergeht die auf der Rückseite einer Lage eingetragene Nativität. Er druckt das Steuerverzeichnis an der falschen Stelle ab. Und, wohl am gewichtigsten, er ordnet den Text hie und da gemäß der vermeintlichen Intention Rems: Die nur im Inhaltsverzeichnis ausgewiesene Aufstellung von Leibgedingen, Gütern und Pachterträgen löst er, ohne dies kenntlich zu machen, aus ihrem Kontext, der Bilanzierung von Soll und Haben der Firma, heraus und stellt sie als eigenen Posten hinter das Verzeichnis der Hochzeitsausgaben und -einnahmen, auf diese Weise den historischen Befund verfälschend.

Wer sich an die Ausgabe hält, bekommt keinen Eindruck von der Anordnungslogik des Codex und keinen Eindruck von der skripturalen Eigenheit der Rem’schen Aufzeichnungen. Sie liegt darin, dass die Schrift ein komplexes Medium bildet: eines der Registratur ebenso wie eines der Symbolisierung und der Memorialisierung.[15] Das lässt sich weder in Kategorien des Wirtschaftens und Buchhaltens noch der Individualisierung oder des ,self-fashioning‘ allein fassen. Ausgangspunkt muss vielmehr der Zusammenhang von Schreibprozess und -inhalt sein, von dem her das Verhältnis zwischen der Ökonomie der Schrift, der Ökonomie des Handels und der Ökonomie des Selbst unter die Lupe genommen werden kann.

II

Die Handschrift von Rems Aufzeichnungen, noch im 16. Jahrhundert in dunkelbraunes Leder gebunden und mit metallenen Schließen versehen, ist in Quartformat gehalten und auf Pergament geschrieben. Sie enthält 54 alt in Tinte gezählte Blätter sowie ein ungezähltes Schlussblatt und zwei anders gezählte Vorsatzblätter. Die Einträge, in unterschiedlicher Sorgfalt vorgenommen und generell über die Zeit hinweg variierend, stammen allem Anschein nach mit Ausnahme kleinerer späterer Zusätze von einer einzigen Hand. Eine gewisse Einheitlichkeit der Seitengestaltung ist unverkennbar: Am Kopf der meisten Seiten stehen, wie auch sonst in Journalen und Schuldbüchern der Zeit, die heiligen Namen Jesus und Maria, teilweise auch Anna; der Text selbst ist in Absätze gegliedert, links in der Regel das herausgestellte Datum, daneben der zugehörige Eintrag, der vor allem Örtlichkeiten, Aufenthaltszeiten und Art der Geschäfte, zum Teil mit Geldbeträgen, nennt.

Einen Überblick über die in der Handschrift enthaltenen Texte gibt das vorangestellte, mit Seitenzahlen versehene Inhaltsverzeichnis („Register“; fol. +r):

Meyner Öltern · gepurt hochzeit · vnd etwz beschaids – aR + vnd #Mein gepurtt · tail meys lebens / fil vnd gros Raysens – aR 1 In 17Mein haptt guot · vnd gwin beschaid vnsser geselschaft RechnongAuch etlich angenomen Leibgeding // Sampt ligende guterErorbtt vnd erkaft / fil beschaid · vnder am {an}der – aR 21 In 32Meins heyrotz beschlus / hochzeit ausgab verschenken · wz mirmein weib zuobraht hatt ·vnd mir gapt ist – – aR 33 In 40Was Ich auff mer hochzeytten · gegaptt hab – – – aR 41 In 44gepurtt · 5 meiner ledigen · vnd gebornen kind · tails Ir weßen aR 45 In 47Gepurtt · Meyner eekindt · die mache gott · from · Erber aR 48 In 50Wie Ich die geschwornen stuiren · Rechne · vnd vberschlag aR 18 In 20

Gleicht man dies mit den tatsächlichen Eintragungen ab und berücksichtigt die leeren Blätter, ergibt sich das folgende Bild:

Ir Inhaltsverzeichnis

[1] Iv–IIr Genealogie

IIv zunächst leer, dann Nachtrag über Lucas Rem

[2] 1r–14r Lebensabriss und Reiseverzeichnis

14v zunächst leer, dann Nachträge

15r–17v leer (auf 15r von Nachtragshand: „1575 | 1576 | 1579“)

[3] 18r–19r Steueraufstellung

19v–20r leer, 20r Nativität Lucas Rems

[4] 21r–30v Handelsbilanz sowie Verzeichnis von Leibgedingen, Gütern und Pachten

31r–32v leer (32r einige Notizen mit Bleistift)

[5] 33r–42r Liste der Aufwendungen und Schenkungen bei Hochzeiten

37v, 40r/v, 42v–44v leer

[6] 46r–51v Verzeichnis der eigenen unehelichen und ehelichen Kinder

47r/v leer (47r kurze Notiz mit Bleistift), 48v, 49v, 51r leer für Nachträge,

52r–54r leer (52r/v, 53v, 54v Bleistiftnotizen)

[7] 55r/v Verzeichnis der angestellten Diener (Handelsgehilfen)

Die leeren Seiten in Verbindung mit den jeweiligen Lagen lassen keinen Zweifel: Es handelt sich um ursprünglich separate Faszikel, die erst im Band vereint und in eine bestimmte Ordnung gebracht wurden. Zu unterscheiden sind damit die Entstehungszeitpunkte der Faszikel bzw. ihrer Vorstufen und der ihrer Zusammenfügung zur vorliegenden Handschrift. Die Zusammenfügung, wenn auch noch nicht Bindung, dürfte zwischen dem 2. September 1540 (letztes Datum eines Eintrags zu Lebzeiten) und dem 22. September 1541 (Sterbedatum) erfolgt sein. Die Entstehung der einzelnen Faszikel ist schwieriger zu bestimmen. Sie setzt einen genauen Blick auf die verschiedenen Lagen und ihre Eintragungen voraus.

Die auf zwei Blättern vorangestellte Genealogie [1] führt auf das 14. Jahrhundert zurück. Sie dient neben der Aufstellung der Familienmitglieder auch der Ermittlung jenes Vorfahren, mit dem sich ein Anfangspunkt der merkantilen Erfolgsgeschichte der Familie Rem setzen lässt. Lucas schließt mit den Angaben zur eigenen Geburt und zu der seiner Frau (deren Name, Anna, und Familie, Ehem/Echain/Öchain, ebenfalls eine Kaufmannsfamilie, unerwähnt bleiben), dann nennt er noch das Datum seiner Hochzeit (31. Mai 1518). Da die Blätter, wie die Zählung zeigt, nicht gleich als Auftakt des Codex vorgesehen waren, mag es sich um eine schon existierende Zusammenstellung handeln, entstanden nicht lange nach der Hochzeit und nun geeignet, um wie bei anderen zeitgenössischen Hausbüchern der sonst Familienangelegenheiten primär ökonomisch behandelnden Textsammlung historische Tiefe zu geben. Die Blätter sind als Ergänzung des Lebensabrisses zu verstehen. Lucas verweist bei diesem, über dem Abschnitt, der mit der eigenen Geburt beginnt, durch das Zeichen „+“ auf die Anfänge der Genealogie und dann für die Jahre vor 1499 durch das Zeichen „#“ auf die entsprechenden Ausführungen zur Elterngeneration.

Das erwähnte Jahr 1518 scheint auch für den als Reiseverzeichnis angelegten Lebensabriss [2] eine wichtige Rolle zu spielen. Ist der Schreibduktus zunächst relativ einheitlich, was dafür spricht, dass die Eintragung en bloc erfolgte, zeigt sich für 1518 ein deutlicherer Einschnitt (Abb. 1): Einige Zeilen bleiben frei, die Hand setzt neu an, in dunklerer Tinte, es kehrt jenes Plus-Zeichen wieder, das auf die hinzugefügten Anfänge der Genealogie referiert. 1518 – das Jahr der Heirat. Wie wichtig dieses Ereignis im städtisch-patrizischen Kontext war, weiß man generell aus zahlreichen zeitgenössischen Quellen. Seine Bedeutung wird hier eindrucksvoll sichtbar an dem Verzeichnis der Aufwendungen und Schenkungen [5]: Die eigene Hochzeit wird mit 9 Seiten dreimal so lang dokumentiert wie alle anderen Hochzeiten, denen Rem bis 1534 beiwohnte, zusammen.[16] 1518 ist darüber hinaus das Jahr, das mit der Gründung einer eigenen Gesellschaft ein weiteres markantes Ereignis aufweist, das ebenso wie die Heirat mit einer Wendung an die Heilige Dreifaltigkeit beschworen wird und zusammen mit der Heirat das Leben in ein Davor und Danach aufteilt.

Abb. 1 
          Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 10r
Abb. 1

Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 10r

Es dürfte dies die Situation sein, von der aus Rem einerseits in die Vergangenheit zurückgreift, andererseits eine begleitende Registratur seines Lebens in Gang bringt, wie dies in jenen Jahren Mode zu werden begann. Ein anderer Augsburger, der Fuggerbuchhalter Matthäus Schwarz, 20 Jahre jünger als Rehm, hatte ebenfalls 1518 in einem kaufmännischen Handbuch, Von dreierlei Buchhalten betitelt, seine bisherigen Erfahrungen zusammengefasst und dies zugleich als Dokumentation seiner eigenen Entwicklung zum Kaufmann verstanden wissen wollen; 1519 fing er eine autobiografische Darstellung an, die er als Der Welt Lauf bezeichnete und wenig später um eine visuelle ergänzte, orientiert an den in bestimmten Momenten getragenen Kleidern; von ihr verwies er wiederum auf das Weltbuch zurück, das er seinerseits im Kontext der eigenen Heirat, 1537, es als nicht mehr passend empfindend, vernichtete.[17]

So wie Schwarz die Kostüme nicht einfach Jahr für Jahr, sondern in Blöcken in seine Handschrift malen ließ, erfolgte auch bei Rem die Eintragung nach dem Jahr 1518 zu verschiedenen Zeitpunkten in unterschiedlich umfangreichen Absätzen. Ein weiterer Einschnitt liegt Mitte der 1520er Jahre – gerade dort, wo auch ein Tintenwechsel einen Neueinsatz markiert: Statt „Jesus Maria“ steht ab jetzt nur noch „Jesus“ oder „Jesus in Augsburg“ am Kopf der Seiten – eine auch sonst in den Augsburger Handelsbüchern der Zeit beobachtbare Praxis (häufig einfach: „Laus deo“).[18] Zwar wurde die Reformation offiziell erst 1534/37 in der Stadt eingeführt, Rem erwähnt aber schon in Zusammenhang mit seiner 1527 geborenen Tochter Magdalena, sie sei von Hans Schmid, „erwölter predicant vom pfarvolck zuom Creitz“ (G67, fol. 49r), getauft worden.[19]

Ab Mitte der 1530er Jahre, wo durch ein Kreiszeichen das Ereignis eines Schlaganfalls hervorgehoben ist, werden die Eintragungen spärlicher, die Schriftzüge flüchtiger und unregelmäßiger (Abb. 2). Die Konzentration auf die gesundheitlichen Probleme manifestiert sich im Durchzählen der immer wieder vorgenommenen Bäderkuren. Kurz vor dem langsamen Versiegen der Tagebucheinträge dürfte Rem auf den am Ende freien Seiten der zweiten Lage des Lebensabrisses eine Übersicht über sein Steueraufkommen [3] ergänzt haben: recht ausführlich für die Jahre zwischen 1516 und 1534, nur mehr summarisch für die Zeit danach („Soma das Ich disse 6 Jar .1534. bis 1539. verstuirt hab vnd verstuirn sol barschaft vnd ligende gietter. Jedes Jar besonder wie obstatt“; G76, fol. 19r).

Abb. 2 
          Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 14r
Abb. 2

Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 14r

Abb. 3 
          Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 29v
Abb. 3

Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 29v

In der 1502 einsetzenden Beschreibung von Gewinnen und Verlusten („Memoria meins guottz“; G30, fol. 21r) [4] ist gleich nach dem Anfang von den „forangezaigten XVI jar“ (fol. 21v) die Rede, so dass auch hier das Jahr 1518 den Auftakt darstellen dürfte. Im Zentrum steht die Gründung der eigenen Gesellschaft, die ausführlich dokumentiert wird; die Angabe zum Hinzustoßen Georg Meutings am 17. Januar 1519 liefert einen Terminus post quem für diese Partie.[20] Die weiteren Einträge, in zeitbedingt variierender Schrift und teilweise mittels durchgezogener Doppelstriche voneinander getrennt (Abb. 3), orientieren sich an den alle paar Jahre erfolgenden Generalrechnungen. Sie werden am Rand von 1 bis 9 (1535) durchgezählt. Hinzugefügte „Notta“ („zuo vergeblicher gedechtnus“) vermerken, mit welchen Zahlungen zu rechnen sein wird („daz mir auf künftige zerong nichts bevor statt“; G37). Kleine Details („Rest ligt zuo gwin und verlust wie jünxt fl. 15600“; G35) indizieren das kontinuierliche, jeweils auf die offiziellen Handelsbücher verweisende Fortschreiben der Handelsbilanz.

Dieses Fortschreiben wird ausgedehnt auf die mit Buchstaben statt mit Zahlen versehenen Leibgedinge, Güter und Pachten, die nicht bloß verzeichnet, sondern im Kontext der familiären und sozialen Netzwerke situiert werden. Generell zielt die Registratur auf die Familie. Das Verzeichnis der Ausgaben und Schenkungen im Rahmen von Hochzeiten [5] leitet Rem durch eine Darlegung der Umstände der eigenen Heirat ein: Beschluss, Verabredung, Termin, Zeugen etc. Die Niederschrift dürfte relativ zeitnah erfolgt sein – über den Seiten steht „Jhesus Maria 1518“, im Text selbst bittet das Ich darum, „gott verleich vns fil gluck zuo sel, leib Er vnd gůt“ (G43, fol. 33r). Durch Leerseiten sind die Aufstellung der Schenkungen und der Mitgift separiert von jener der Gaben der Gäste bei der eigenen Hochzeit und jener der selbst getätigten Schenkungen bei anderen Hochzeiten zwischen 1518 und 1534. Die stärker variierende Schrift (bes. fol. 42r) zeigt, dass die Eintragungen sukzessive vorgenommen worden, die Summenbildung am Ende, dass Rem auf einen Rechnungsabschluss zielte. Auch zuvor schon hatte er jeweils am Fuß der Seite das Ergebnis der Addition für den Übertrag notiert.

Auf die Hochzeitslisten folgt das Verzeichnis der Kinder [6] und zwar nicht bloß ihrer Namen, Geburtsdaten und Paten, sondern auch ihres Aussehens und ihrer Entwicklung, beginnend mit den fünf unehelichen, die Lucas Rem in Antwerpen mit Margret van der Borcht hatte. Dass dabei das (zunächst gezählte) Blatt 45 mit den ersten drei Kindern später herausgetrennt wurde, dürfte nicht auf moralischen Bedenken des Vaters basieren; Lucas hat sich um den Antwerpener Sohn Jacob auch von Augsburg aus gekümmert und die letzte Tochter Anna im eigenen Haushalt großgezogen, außerdem den Verweis auf die ,ledigen‘ Kinder ins Inhaltsverzeichnis aufgenommen; im Text selbst ist der Übergang zu den ehelichen durch keine eigene Rubrik markiert.[21] Der Hauptunterschied in der Verzeichnung scheint darin zu bestehen, dass die unehelichen mit Kleinbuchstaben, die ehelichen mit Zahlen versehen werden. In beiden Fällen dürfte die Registratur, wie nicht zuletzt an Schriftunterschieden sichtbar wird (fol. 48r, Abb. 4), Mitte der 1530er Jahre vorgenommen worden zu sein: Für den 1514 geborenen Antwerpener Sohn Jacob kommt das Datum 1534 vor, für die ab 1522 in Augsburg geborenen Kinder werden Ereignisse ebenfalls bis in diese Zeit hinein angeführt, für den erstgeborenen Sohn Lucas (Jr.) heißt es sogar, präsentisch formuliert im Blick auf das Frühjahr 1536, er solle im Haus von Dr. Hans Truschler „hůtt zucht lernong halten“ (G67, fol. 48r).

Vater Rem praktiziert hier einerseits einen zusammenfassenden Modus der Verzeichnung: Die drei frühgestorbenen Kinder Berchtold (Nr. 3), Josep Abaramathia (Nr. 4) und nochmal Berchtold (Nr. 6) nimmt er auf einer Seite zusammen, die dazwischen geborene Maria (Nr. 5) verschiebt er auf die nächste Seite, wo Platz für weitere Einträge zur Verfügung steht. Damit verbindet sich andererseits ein auf die Zukunft gerichteter Modus: Für die überlebenden Kinder Lucas (Nr. 1), Magdalena (Nr. 2), Maria (Nr. 5) und Elisabeth (Nr. 7) lässt der Vater jeweils eine Seite frei unter der Überschrift „Verfolg (ob Got wil) Lucas [etc.] meins Sons“.

Etwa zur gleichen Zeit wie die Eintragungen zu den Kindern könnte auch am Ende der gleichen Lage, die Blätter um 180° gedreht, die Liste der im Hause Rem angestellten ,Diener‘ (im Sinne von Handelsgehilfen) [7] entstanden sein. Sie beginnt wieder mit dem Jahr 1518 und endet, ohne große Unterschiede der Schrift, 1537, wobei Rem, systematisch geschult, die sich ein weiteres Mal auf eine bestimmte Zahl Jahre verpflichtenden Gehilfen mit der gleichen Nummer versieht. Unverkennbar ist, wie merkantile Modalitäten der Registratur alle Lebensbereiche umfassen und zugleich diese Lebensbereiche untereinander eng verschränkt sind – Rems älteste Tochter Magdalena wird drei Jahre nach dem Tod des Vaters den in der Liste nicht mehr verzeichneten 25. und letzten Diener Lucas Rems heiraten, der sich am 1. Januar 1540 auf neun Jahre verschrieb.[22]

Abb. 4 
          Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 48r
Abb. 4

Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 48r

III

Im Ganzen erhalten die zeitlichen Schichtungen der Handschrift also relativ klare Kontur. Die Aufzeichnungen wurden 1518 im Kontext der Heirat und Firmengründung in Gang gebracht, durch die 1520er Jahre hindurch fortgeführt und erhielten Mitte der 1530er Jahre, möglicherweise im Rahmen einer als zunehmend bedrohlich erlebten Krankheit, einen neuen Schub, nun aber weniger auf das eigene, durch Reisen bestimmte Leben bezogen als auf die Erträge der Firma, die Steuern, die Familie und den Haushalt. Als Rem dann 1540 die verschiedenen Faszikel zu einem Band vereinte, so offensichtlich, um die disparaten Aspekte des eigenen Lebens zusammenzubinden, um eine Erfolgsgeschichte zu dokumentieren und um sich selbst in der Erinnerung festzuschreiben. Die Verwendung von Pergament als Beschreibstoff ist unverkennbarer Ausdruck eines Geltungsanspruchs, wohl nicht erst zum Lebensende hin, sondern schon im Gefolge der Heirat und der Firmengründung.[23]

Bei der Vereinigung der Stücke zum Band legte Rem wohl zuerst die Reihenfolge fest und nummerierte die Blätter durch. Dabei stieß er auch auf Eigentümlichkeiten der eigenen Registratur – etwa die Aufnahme anderer Listen auf den letzten Seiten eines Faszikels. Das Steuerverzeichnis ergänzte er am Ende der Inhaltsübersicht, aber mit den richtigen Blattzahlen; das Verzeichnis der Handelsgehilfen, mit keiner Blattangabe versehen, ließ er hingegen aus; die Leibgedinge, Güter und Pachten hob er in der Übersicht ebenso hervor wie das Ereignis der eigenen Hochzeit mit den dazugehörigen Ausgaben und Geschenken sowie den Unterschied zwischen unehelichen und ehelichen Kindern – im Text selbst findet sich davon nichts. Das Inhaltsverzeichnis ist somit auch Ausdruck des Bemühens um Ordnung der Materialien.

Gerade diese Eigentümlichkeiten lassen insgesamt keinen Zweifel aufkommen: Es handelt sich bei dem Codex nicht nur um eine auf ein Subjekt zentrierte Sammelhandschrift, sondern tatsächlich um ein Autograf. Der Schreiber hatte einen privilegierten Zugang zu den Daten des eigenen Lebens und Wirkens, die er teilweise aus früheren Aufzeichnungen übernahm, die aber nirgendwo den Eindruck erwecken, durch den Filter einer sekundären oder tertiären Vermittlung hindurchgegangen zu sein. Andere Hände, oder zumindest eine andere Hand, werden erst in den 1570er Jahren greifbar, vielleicht als nach dem Tod von Lucas’ Ehefrau Anna (1575) der rechte Umgang mit dem Familienerbe zum Thema wurde. Der Nachkomme notiert auf einer separaten Seite nach dem Lebensabriss: Die Ehefrau, offensichtlich nicht die eigene Mutter, habe sich nach Lucas’ Tod „treffenlich prächtig gehalten“, allerdings, als ihr die Testamentsvollstrecker gegen Lucas’ Willen die Firmenleitung zusprachen, nicht gut gewirtschaftet – zumindest zum Schaden mancher Nachkommen.[24]

Die Frage, welche früheren Aufzeichnungen den erhaltenen Texten vorauslagen, lässt sich aus diesen selbst punktuell beantworten. Für die Rekonstruktion der Genealogie stützt Lucas sich auf verschiedene ,Verzeichnisse‘ seiner Vorfahren. Bei der Handelsbilanz verweist er immer wieder, mit genauen Blattangaben, auf das Schuldbuch, das schwarze Buch, das schwarze Schuld- oder Zinsbuch oder auch das Vertrags-Gesellschafts-Buch (G32); er spricht von einem Geheimbuch (G36) und davon, dass er die Probleme mit den Teilhabern an der eigenen Gesellschaft in einem „besondern verzaichnusbiechlin” (G32) festgehalten habe – womöglich das gleiche, von dem Lucas auch in Bezug auf seinen Bruder Hans spricht („copia aller schriften auch wie er gen Saragossa můst, wie fast wirs worten darfur baten seind bey ain ander gebonden vnd wol behaltten“; G17, fol. 7v) und von dem er mit Blick auf das Ende der Dienstzeit bemerkt: „Als ich dan al verloffen wort vnd hendel gar nach der leng auf foranzaigt 12 bogen papeir geschriben vnd wol verwart hab“ (G20, fol. 10r). Bei den Leibgedingen und Liegenschaften ist von einem „Lehenbiechlin“ (G61) oder einem „schlechten kafbrief“ (G62) die Rede.

Auch der Lebensabriss dürfte, obschon überwiegend aus größerem zeitlichem Abstand geschrieben, nicht einfach aus dem Rückblick verfasstsein, sondern auf vorhandenen Notizen beruhen. Einerseits gibt es emphatisch situationsbezogene Momente, andererseits fehlen Verbesserungen und Ergänzungen. Die Aufzeichnungen sind, zumindest in Teilen, Reinschrift. Ihre Zusammenfügung ermöglicht die Synchronisierung unterschiedlicher Aspekte des kaufmännisch-familialen Lebens – was wohl deshalb leichter fiel, weil die Modalitäten der Registratur in den verschiedenen Teilen keine ganz und gar heterogenen sind.

Schließt der narrative Lebensabriss listenartige Momente ein, besitzen umgekehrt listenartige Teile narrative Dimensionen. Genau genommen werden eigentlich nur die Handelsgehilfen in einer reinen Liste verzeichnet, und selbst diese geht über die bloße Nennung von Namen und Zeiten hinaus: Vermerkt ist, dass der eine oder andere sich nur mündlich und nicht auf eine bestimmte Zeit verpflichtete und dass etwa der an verschiedenen Orten für die Gesellschaft tätige Jörg Öchein, notabene Lucas Rems Schwager, „nit verschriben noch verpflicht gwest. In aus fraintschaft ghalten“ (G71, fol. [55v]). Meist verbindet sich die tabellarische Aufstellung mit inhaltlichen Ausführungen: Bei den Leibgedingen und Gütern erfahren wir manches zur Geschichte, zum Datum des Erwerbs, zu Konflikten zwischen verschiedenen Parteien. Bei den Kindern kommen ihr Aussehen, ihr Charakter und ihr Werdegang zur Sprache. Bei der eigenen Hochzeit werden, abgesehen von der einleitenden Beschreibung der Eheschließung, sogar bei einzelnen Stücken Details fixiert: ein Ring – „hab ich ob 10 Jar geheppt“, ein kleiner Rubin – „kaffet Ich vnd luos einfassen schankt Ich Ir nach der hochzeitt“, ein Kleid mit Schleppe – „truog Si gen kirchen vnd zuo danntz“ (G45, fol. 34r). Bei den fremden Hochzeiten macht Rem durch kurze Hinweise die Einträge zu historischen Miniaturen – 16. September 1526: „wolt mit 3 pferden wol gerust zuo seim [des Bruders] fest geritten sein, Ward Ich krank“ (G54, fol. 41v), 22. Juni 1528: „Raisten mein weib vnd Ich gen Linda, Sampt knecht, magd“ (G54, fol. 42r).

Am auffälligsten ist der narrativ-deskriptive Modus bei der Handelsbilanz und beim Steuerverzeichnis. In beiden Fällen geht es Rem darum, nicht bloß Beträge zu notieren, sondern ihre Hintergründe, die mit ihnen verbundenen Geschichten festzuhalten. In der Steuerrechnung berichtet er von durch den Kaiser ausgestellten, in Spanien einzulösenden Wechseln für die Fugger, an denen auch seine Gesellschaft und er selbst Anteil hatten, die aber aufgrund von Aufständen gegen den Kaiser in Frage standen. Ganz kaisertreu schreibt der Augsburger: „Ich hett mein tail fast gern vm den halben tail geben, vnd minder / aber damit Ich Im nit zuo fil tatt, hab Ich fir solchen mein tail der gemeltten Kay. M. abkurzett an der geschwornen stuir. Die welt Ich fast gern dran vnd mer daran verlorn haben“ (G74, fol. 18r). In der Handelsbilanz („Memoria meins guottz“) geht er manchmal lang und breit auf Gegebenheiten und Hintergründe, zum Beispiel der im Sommer 1518 erfolgten Wahl des Namens der neugegründeten eigenen Gesellschaft, ein. Hier eine Übersetzung der nicht ganz leicht verständlichen Passage:

Elf Jahre lang habe ich mich damit [der Tätigkeit für die Welser-Vöhlin-Gesellschaft] herumgeschlagen, habe mir so viel Wissen wie möglich angeeignet, Leute kennengelernt, Freunde gemacht, Handelsoptionen erkundet, habe unendlich viel Arbeit, Mühe und Kosten auf mich genommen, habe, um die Welsergesellschaft in den Niederlanden zu vertreten, Schaden und Verluste nicht gescheut und dabei doch auch meinen Brüdern unermüdlich bei ihren Geschäften geholfen, bis auf den Tod, den ich Gott schulde (und den ich willig auf mich nehmen will), und dies nicht mit Blick auf meinen eigenen Nutzen und mein eigenes Fortkommen (zum Handel hatte ich große, zu den Frauen kleine Neigung), sondern allein mit Blick auf meine Brüder und den Namen unseres Geschlechts – so habe ich denn auch eingewilligt, die neue Firma Endris Rem & Co zu nennen und das Zeichen unseres Vaters unverändert weiterzuführen.[25]

Elemente des eigenen Lebenslaufs verbinden sich mit dessen ideeller Deutung: Rem stellt die Familienehre heraus, die er der individuellen überordnet, er betont die eigenen Anstrengungen. Wie bei vielen Selbstzeugnissen der Zeit dient auch bei ihm die Aufzeichnung nicht zuletzt dazu, die eigenen Einsätze und Gewinne, Einnahmen und Ausgaben in einer Schrift festzuhalten, die sich als dauerhafter erweisen mag als die merkantilen Transaktionen selbst. Zumindest sichert sie eine namentlich zuordenbare Geschichtlichkeit, die jene selbst nicht haben können. Das Ausbuchstabieren des Zahlenmaterials hat in diesem Zusammenhang weniger mit dem Festhalten an älteren Aufzeichnungspraktiken[26] zu tun als mit der Tendenz, die Zahlen, die Rem wichtig sind, die Additionen, die er sorgfältig vornimmt, biografisch zu situieren. Eine Form der historischen Autoökonomie, eine Dokumentation nicht nur der Haben- und Sollseite der Handelsgesellschaft, sondern auch des Lebens im Ganzen – in der Vielfalt seiner Teile: Herkommen, Werdegang, wirtschaftliche Erfolge, Steuern, Heirat(en), Kinder und Gehilfen.

IV

Blicken wir genauer auf die ersten Partien. Die vorangestellte Familiengeschichte entspricht nicht einfach dem, was man auch von anderen Beispielen zeitgenössischer Familienbücher kennt. Sie ist einerseits durch eine spezifisch ausgestellte Rekonstruktionsbewegung geprägt. Aus den erhaltenen schriftlichen Aufzeichnungen und der mündlichen Überlieferung soll die Vergangenheit erschlossen werden: „Also dz Ich erfonden hab, sein handtschrift, welsch in verzeichnus“, „Als ich von meim vatter selig gehort hab“, „Also finds Ichs in verzaichnis“ (G1f.; fol. +v, #r). Die Familiengeschichte besitzt andererseits eine spezifische Konzentration auf das Ökonomische: Schon den ersten namentlich fassbaren Urahnen, den 1340 geborenen Hans Rem, beschreibt Lucas als einen Glücksritter, der durch Risikobereitschaft zum Erfolg kommt.[27] Gerade einmal 17-jährig verkauft er seinen gesamten Besitz für 500 Gulden und macht sich nach Venedig auf, wo er 100 verliert, den Rest aber anlegt und zur Basis einer gewinnreichen Handelstätigkeit macht: „Fuor wider hinein, und also hin und her. Gab gott gnad, und gros gluk, gwin“ (G1). Nicht nur ein Vorbild in merkantiler und familiärer Hinsicht ist der Vorläufer (er hat 8 Töchter und 4 Söhne, die er alle gut versorgt). Er repräsentiert auch ein Modell in schriftökonomischer Hinsicht: Im italienisch geschriebenen „Verzeichnis“ findet Lucas so etwas wie einen Ursprung des eigenen Aufzeichnens, das nun allerdings über das bloße Handelsbuch hinaus zu einem ökonomischen Lebensbuch führt.

Ein solches steht vor der Schwierigkeit, nicht wie bei einer geschlossen komponierten Vita auf das Ende hin oder, autobiografisch gewendet, vom möglicherweise nahen Ende her auf das Leben als Ganzes zurückblicken zu können, sondern immer nur einzelne Abschnitte als gelebt ,verbuchen‘ zu können und andere als noch ausstehend, mit Unsicherheiten versehen, verzeichnen zu müssen. Das gilt in gewissem Sinne schon für den Handel: Hier lassen sich Forderungen und Schulden festhalten, ihre Realisierung steht noch aus. Mehr noch gilt es für andere Bereiche des Lebens. Der Abriss kann bei der eigenen Geburt einsetzen, präzise datiert auf den 14. Dezember 1481, „freytag nachtz, gleich da es xij schlůg“ (G5, fol. 1r). Auf das ungewisse Ende kann er nur vorausblicken, ein Gelingen nur erhoffen: „der almechtig got durch forbit der edlen Junckfraw gebererin Maria / ales himlisch hor verleihen mir ain guot erlich leben, foraus ain selig endt“ (ebd.).

Ein Versuch, die Ungewissheit zu bewältigen, ist, das Schicksal aus den Sternen zu lesen: Auf der letzten Seite der zweiten Lage, die den Lebensabriss und am Ende das Steuerverzeichnis enthält, hat Rem sich das eigene Geburtshoroskop, die Nativität abgeschrieben – eine bei den Zeitgenossen, Gelehrten wie Kaufleuten, beliebt werdende Mode.[28] Zwischen den Angaben der Konstellationen heißt es in der Mitte: „Lucas Rem natus Anno 1481 die ♀ 14 Decembris hora 12 post meridiem Augusta Hilech (( Alcocodentj“ (fol. 20v; Abb. 5). Eine Deutung des Horoskops findet sich nicht, auch nicht der Name seines Urhebers. Unübersehbar ist aber: Die eine Hoffnung, das eigene Leben möge unter einem glücklichen Zeichen stehen, schließt die andere, zumindest formelhaft präsent, auf Hilfe durch die himmlischen Instanzen, nicht aus, und sie steht in Spannung zu dem, was die Wirklichkeit offeriert. In der Gegenwart stellt sich schon für die Kinder die Frage, wie alt sie überhaupt werden, ob sich die freigelassenen Seiten füllen lassen: „Verfolg (ob Got wil) Lucas meins Sons“. Ist ein Kind gestorben, bleibt nur, auch hier die Konstellation zu notieren: „14 october 1530, aubends vm 9 vr / wz den tag daruor des mons lest quartier 2 stond 44 Minut nach mitag / im leo 12, die Sonn im Scorpion“ (G68, fol. 50r).

Abb. 5 
          Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 20v
Abb. 5

Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. H 13, fol. 20v

Die Ungewissheit des Endes und damit der Gesamtstruktur des menschlichen Lebens bringt es mit sich, einzelnen Punkten des Weges eine selbst schon strukturierende Funktion zuzuweisen. Man nehme das oben herausgestellte Jahr 1518. Es teilt den Lebensabriss in zwei quantitativ ungleiche Teile. Der erste, etwa zwei Drittel einnehmend, deckt die Jahre von 1499 bis 1518 ab, der zweite, etwa ein Drittel, die zwischen 1518 und 1540. Das heißt nicht, Rem habe für die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens weniger notiert. Im Gegenteil. Mit der Selbstständigkeit und Familiengründung differenzieren sich die Aufzeichnungen in die verschiedenen Aspekte aus, die, den Handel, die Steuern, die Kinder betreffend, in eigenen Teilen behandelt werden. Die eigentliche Lebensgeschichte ist damit entlastet. Für die frühere Zeit hingegen, bis 1518, kommt ihr die Funktion zu, so etwas wie die Gesamtheit des Lebens zu repräsentieren – in seinen ökonomischen, sozialen und diätetischen Dimensionen. Für diese Zeit, en bloc eingetragen, ist denn auch ein spezifisches ,self-fashioning‘ zu erkennen, eine regelrechte Konstituierung des Subjekts.

Von der eigenen Geburt springt Rem zu den nächsten größeren Ereignissen: der Erstkommunion mit elf Jahren, der Unterbringung in verschiedenen Pfarrhäusern im Alter von 12 und 13, der Ausbildung im Rechnen und in der Buchhaltung mit etwa 14/15. In knappen Strichen erhält ein Subjekt Kontur, das (1) über eine allgemeine und speziellere Grundausbildung verfügt, (2) Begabung und Neigung zum Rechnen besitzt und (3) von Zuhause fort in die Fremde strebt. Ein mobiles Subjekt: Hundertfach kommen die Ausdrücke „ritt ich“ oder „kam ich“ vor. Ein mobiles Subjekt mit fast schon pikaresken Zügen: Es trennt sich aus eigenem Antrieb von den Eltern („dan Si mich forkomen laussen, vnlustig wassen“; G5; fol. 1r), schlägt sich in guten wie schlechten Dienstverhältnissen durch – zum Beispiel bei einer geizigen Patronin, die die jungen Leute zu Listen und Streichen provoziert („ain Ris bapeir wer fol zuo schreiben, der listikait wir trieben mit esendt ding vnd wein, wir stalen“; G6, fol. 1v). Zum buchhalterischen Wissen und zur raschen Auffassungsgabe kommt Behauptungsfähigkeit dazu – gute Voraussetzungen für eine ökonomisch-merkantile Tätigkeit, die sich zunächst einmal im Dienste der Augsburger Welser-Vöhlin-Gesellschaft vollzieht und vielerlei Aspekte umfasst: Warentransport, Geldtransfer, Bücherkontrolle, Informationsaustausch.[29]

Bezogen auf die Jahre zwischen 1499 und 1517 registriert das Ich die Reisen durch Mitteleuropa und die Aufenthalte an verschiedenen Orten, zuerst überwiegend in Frankreich, dann in Portugal und in den Niederlanden, wo jeweils die Bücher zu kontrollieren und die Abrechnungen in Ordnung zu bringen sind. Diese Registratur von Zeiten und Orten ist so genau, dass man aus ihr die Fortbewegungs­geschwindigkeiten und Aufenthaltsdauern ermitteln konnte: Mehr als 2000 Tage hielt sich der Kaufmann in Lissabon auf, mehr als 1000 in Antwerpen und fast 800 in Lyon – Augsburg, die Heimatstadt, bleibt demgegenüber mit 360 Tagen deutlich zurück.[30] Und bleibt doch das ideelle, als Heimat empfundene Zentrum des Lebens. Lucas erwähnt explizit den ersten Besuch dort nach Jahren der Abwesenheit (1501; G7). Und er hält die Freude fest, am Ende einer zweieinhalbwöchigen Reise ans Ziel gelangt zu sein – sogar die Uhrzeit gibt er ausnahmsweise an: „Rit Ich aus Antorff mit 4 guoten gesellen auf köln, mentz, speir, vlm zuo, vnd kam gen augspurg adj. 12 Jener 1509 zwischen 3 vnd 4 vr mit groß freden“ (G10, fol. 4r). Für den 30. Mai 1510 notiert er sich: „an unsers herrn fronleichnams tag aubends gen Augspurg gott hab Lob. // ain weytte schwere grosse Rais volbracht“ (G15, fol. 7r).

Eine genauere Beschreibung der einzelnen Geschäftsvorgänge im Kontext der Reisen gibt Rem nicht. Manchmal erwähnt er die Waren, mit denen die Gesellschaft handelt: Metalle, Stoffe, Gewürze, Früchte. Mehr aber konzentriert er sich auf die Begleitumstände: die geizige Patronin, gegen die man sich zu behaupten hat; ein Unwetter, das die Kaufleute in Lebensgefahr bringt; vor allem aber Krankheiten, die das Subjekt befallen. Zusammen mit den Schwierigkeiten der Handels-, Buchhaltungs- und Schuldeintrei­bungsgeschäfte sowie der kontinuierlich hohen Arbeitsbelastung ergibt sich das Bild eines mühseligen Lebens. Ein kleiner Ausschnitt aus den Jahren 1501/1502:

kam adj. 10 aug° wider gen Lion, krank, gong also an xij teg vm und ward fast schwerlich vnd lang krank, dz mir die erztet dz leben absagtten. hett ain hitzig pestelentzials fieber dz mir in gerechten fůs schlug / ward mir geraten den luft verkeren. / also

adj. 25 ottobro Ritt Ich gen bendox Jenff etc. etc. krank kam adj. 15 nov. wider also

adj 19 Decembro Rit Ich gen Sct Antonio de Vienes, kam adj. 23 dito wider gen Lion het meins fuos zuo des fuirs grosse sorg gehept.

adj. 31 marzo 1502 Rit Ich gen Jenff, freiburg, bern. // Luod ain grose Sum Silber zuo Jenff per Lion, vnder denen, die bey 600 Mark Im Rotten versancken, dz ain besundre plag, mir ain vnmas gros leid was (G7; fol. 2r).

Zusammenfassend heißt es für das Jahr 1505: „die on mas enxtig mie, vberflisig arbeit, gros widerwertikait, mir damit gegnet, ist vnerschreibenlich“ (G7f.; fol. 2v). Krankheiten, Unglücksfälle, Widrigkeiten, Anstrengungen – sie prägen und qualifi­zieren das Subjekt, das sich zugleich auf die Welt hin öffnet. Selbsterfahrung und Welterfahrung gehen Hand in Hand. Schon für Juli 1499 vermerkt Rem, er sei bei Piero Deburg in Lyon geblieben, um „die sprach zu lernen“ und um „mer zuo sechen lernen“ (G8). Für Dezember 1508 erwähnt er, er sei im flämischen Bergen (op Zoom) auf dem Markt hin und her gegangen, „um zuo lernen sechen“ (G10). Es geht um die lokalen Gegebenheiten des Handels, aber auch um andere lokale Phänomene: Prozessionen, Umzüge, Passionsspiele, Reliquien etc. Ins Zentrum rückt dies für das Jahr 1509, wo das Subjekt in Rom zunächst einmal wieder mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen hat („gross mie, [...] fil anstos, widerwertikait“), dann aber plötzlich, der Geschäfte ledig, Zeit zur Verfügung hat: „het anderes auch nit zuo schaffen, dan am sechen grose kurtzweil“ (G11, fol. 4v). Der Kaufmann wird zu einem Reisenden auf Kavaliers­tour, der die wichtigsten Sehenswürdigkeiten abhakt:

adj 21 ditto kam Ich gen Sanct maximin, da man Sancta maria magdlena hapthar / ain wunderperliche bix / ander fil vnd gros haltong vnd gar fil köstlichait zaigt.

adj. 22 dito, kam Ich ala Sancta bauma, ist ain wunder hoch gepey zuo sehen, kirchlin mit etlichen münch, ist da Sancta maria magdlena gepiest hat, schön andechtig zuo sechen.

adj. 22 may° aubends kam Ich gen Marsiglia, ain gar herliche Stat, da zaigt man Sanct andreas // sonder Sanct lasarus haptt in aim fast köstlichen gantz gulden, mit fil stayn ziert stuck. Vnd ander fil haltong (G11, fol. 4v/5r).

Die Wahrnehmung des Bemerkenswerten steht unter dem Zeichen des „erfarens“.[31] Das Subjekt vermehrt nicht nur das Vermögen der Gesellschaft, es wird selbst angereichert durch das, was ihm begegnet. Doch dies nur, solange die Umstände es zulassen: Im Trubel der Geschäfte lässt sich die Neigung zum Erfahrungsgewinn nur mehr bedingt realisieren. Obschon dem großen Wallfahrtsort Santiago de Compostela nahe, schafft Rem es nicht, dorthin zu kommen: 12. August 1509 – „was nur xij meyl von Sant Jacob, vnd dorft nit dar Raißen, sorgend etwaz versaumen“ (G12, fol. 5v). Das ,Wunderbare‘ verschiebt sich dann von dem, was man mit den eigenen Augen sieht, auf das, was dem eigenen Körper widerfährt: „An Sancta katarina tag wolt Ich von alualada gen Sancta katarina Reitten vnd fůl mir mein Ros am kraden berg ab, fuol dz Ros aufn Rucken den satel zuo stiklin / vberschluog sich. Ich kam wunderperlich daruon, on al laid / also mag Ich sagen diß tag erst Niu geporn sey“ (G14, fol. 6r). Das Muster der Neugeburt, schon für das Jahr 1501 eingespielt (s. oben: „dz mir die erztet dz leben absagtten“), verweist auf einen biografischen Einschnitt, der gesetzt werden soll, tatsächlich aber ausbleibt. Weder die körperlichen noch die merkantilen Probleme lassen im Folgenden nämlich nach. Das Ich leidet unter starken Schmerzen und Lähmungserscheinungen:

kam gen Ravespurg adi. 9 ditto fast kranck am gerechten fuos adi 12 ditto erlampt Ich ganz vnd gar an al mein glider vnd leib. Ward je krank, je nit, fuor hin vnd her / lidt vnseglich gros schmertzen vnd leyden, gab gott eben ain wunderlich gluck Ich alda krank wardt, dan da was doctor mathaeus der beremptest arzet disser lender. Der tatt gros fleis, mit purgieren, cristiren, englaplich, vnd laussen, zuoletzt schwitzen on mas. bracht mich das nur haut und bain an mir, gar kein fleisch, blůt wz (G15f., fol. 7r).

Rem deutet das Unglück in das Glück um, dass gerade der richtige Arzt zur Verfügung steht.[32] Aber auch diese ,Wiedergeburt‘ führt nicht dauerhaft zu besseren Verhältnissen. Es mehren sich die Schwierigkeiten mit der Gesellschaft, die für die Jahre 1511 bis 1518 ganz in den Vordergrund treten, bis dann in den Notizen der oben beschriebene Einschnitt erfolgt. Ein Neueinsatz, in mehrfacher Hinsicht markiert: durch einen zusammenfassenden Eintrag zu Rems 18 Jahren im Dienst der Welsergesellschaft, durch eine Notiz zu einer nicht dienstlichen Reise von Augsburg nach Nürnberg, wo der Kaufmann Reliquien und einen Triumphzug sieht, schließlich, nach den erwähnten Leerzeilen, durch den Vermerk der eigenen Hochzeit. Das ist der Auftakt zu einer nunmehr veränderten Bewegungsdynamik. Da zahlreiche Bereiche des Lebens, die Geschäfte, die Steuern, die Kinder, die Diener, auf eigenen Blättern verzeichnet werden, kann sich die tagebuchartige Registratur auf das Sonstige konzentrieren. Hier besonders: das Reisen und den Körper.

Die Reisen beschränken sich auf den süd- und mitteldeutschen Raum. Die am weitesten entfernten Stationen sind Brüssel und Straßburg, Frankfurt und Köln spielen eine gewisse Rolle, vor allem aber bewegt sich das Subjekt im Dreieck zwischen Augsburg, Ulm und Nürnberg, wobei meist nur die basalen Daten genannt werden: „adi. 23. 24 maj [1519] Ritt ich gen dilingen, vlm, kam adi 26 ditto wider haim. | ad. 28 ag° Rit Ich gen vlm, kam adi 2 settb. wider gen Augspurg. // | adj 19 decembr. Ritt Ich gen vlm / mit vlrico Ehinger zuo handeln, adi 23 wider haym“ (G21, fol. 10v). Mehr wird über die Geschäfte meist nicht gesagt. Stattdessen nehmen die Krankheiten viel Raum ein. Starke Schmerzen im Knie, in den Armen, Fieber, Purgationen, die nicht längerfristig helfen. Nach Köln lässt der Kaufmann sich auf einem Wagen transportieren und dort im Haus der Imhof pflegen. Er bleibt dem Übel, kontingenter als jede Unwegsamkeit auf Reisen, ausgeliefert: „Luoff mir mein krankhait hin vnd her, wunderperlich, oft in 6, 8 ortt, in tag vnd nacht, je mit / je on schmertzen, je was gar nichs“ (G22, fol. 11r). Im Sommer 1520 ist ein vorläufiger Höhepunkt erreicht:

adi 27 Julio fong es an vnd ward mir all necht die ain Im glinken arm hand / die ander im gerechten arm hand fast wee / bis 5 ag° da fong Ich al aubend zwischen 11 vnd 1 vr gar erlamen, al morgen zwischen 5 vnd 7 vr ward Ich wider krad. Dz weret xij tag. Mocht auch gar nichs schlafen, al obstend zeitt, aine vm schmertzen, die ander on / vnd je mer schmertzen, je mer Ich schlief. Doch in fil tegen nie 1/2 oder 1 stund anainander. Wz also ain gar und gantz vnstet verkerlich ding, dz nit zuo erschreiben ist (G22f., fol. 11r).

Die Krankheit beeinflusst sogar den Modus der Registratur. Einerseits gerät die Reihenfolge der Tage durcheinander. Vom 27. Juli bzw. 5. August greift Rem zurück auf den 24./25. Juli, führt dann verschiedene Behandlungsmethoden, vom 31. Mai angefangen, auf und landet wieder beim 22. Juli, für den er einen großen, erleichternden Brechdurchfall notiert, den er zuvor nicht erwähnt hat. Andererseits kommt in dieser Situation die Ebene der Stunden in den Blick, die zuvor in dem an den Tagen, den Monaten und den Jahren orientierten Lebensabriss kaum eine Rolle gespielt hat. Sie ist nötig, um jene raschen Umschwünge zu erfassen, die weniger mit der Makrodynamik der Fernreisen als mit der Mikrodynamik der Aufenthalte im Nahraum zu tun haben.[33]

Zentral wird die Registratur der Stunden auch für das bevorzugte Heilmittel, das der Kaufmann seinen Krankheiten entgegensetzt: die Bäderkur. Sie kam gelegentlich schon im ersten Teil vor und gewinnt nun für die Jahre ab 1521 verstärkte Bedeutung. Immer wieder hält Rem sich mit seiner Frau im Wildbad bei Calw auf und registriert dafür genau die an den einzelnen Tagen im Bad verbrachten Stunden: „adi 23 sept. fong Ich an baden, badet 3, 4, 5, 6, 7, 7, 7, 7 ½, 7, 6, 5 ½, 6, 7, 6, 6, 7, 7, 7, 7, 6, 6, 7, 6, 6, 5, 4, 3, 2. Somma stond 162. An dem ersten badet Ich bey 14 tag im hern / darnach im gemaynen großen bad vm dz wermer vnd mer geselschaft wz // dz baden erzausset, ersůchet mich on mas gnach, allum vnd vm“ (G23, fol. 11v). Rem addiert die Badestunden ebenso wie die Firmengewinne, die Steuern und die Hochzeitsausgaben. Er behandelt den eigenen Körper nicht anders als die eigene Gesellschaft oder die eigene Familie, was umgekehrt aber auch bedeutet, dass die Leiden dieses Körpers ebenso wie deren Linderungen in ihren Quantitätendas Selbst nicht weniger qualifizierenals seine ökonomischen Erträge. Während allerdings Lucas für diese Erträge eine Gesamtrechnung zu präsentieren vermag, die die bemerkenswerte Summe aus allen zwischen 1502 und 1540 erwirtschafteten Gewinnen zieht (54.000 Gulden; G42), bleibt die Gesamtrechnung des Lebens offen: Nach dem Ende der Badekur vom Sommer 1540 vermerkt er noch die Rückkehr nach Augsburg; mit den Worten „Got hab lob“ endet der Eintrag. Keine weiteren von seiner Hand folgen. Eine andere Hand notiert, Lucas, der „seine tag vil vnd mancherley ausgestanden“ (G29, fol. 14v), sei am 22. September 1541 gestorben.

V

Hält man sich an die vorliegenden Aufzeichnungen, scheint ,Individualisierung‘, selbst wenn man sie auf gruppen- oder gesellschaftsspezifische Positionierungsanstrengungen bezieht, kaum die angemessenste Beschreibungskategorie zu sein. Zwar zeigt der Lebensabriss durchaus, „how the late medieval urban elite saw itself, and [...] how an individual wanted to obtain a prominent place within that elite“.[34] Zum Beispiel, indem es die Orientierung am Gemeinsinn (Familienehre) und nicht am Eigennutz heraushebt. Aufstiegswille und Statusbewusstsein stehen aber in den Aufzeichnungen keineswegs im Vordergrund. Das sieht man im Vergleich mit dem erwähnten, etwa zeitgleichen Kostümbuch des anderen Augsburgers, Matthäus Schwarz. Wo der sich mit seinen prächtigen, kostspieligen, modischen Kleidern abbilden lässt, bringt er einen beachtlichen Repräsentationsanspruch zum Ausdruck. Repräsentation in mehrfacher Hinsicht: auf das, was man im gesellschaftlichen Rahmen darstellt, hier: eine Figur aus dem inneren Zirkel des Fugger’schen Imperiums, wie auf das, was an einem sichtbar wird, hier: das Vergehen der Zeit. Schwarz versteht seine Bilderserie als mediale Möglichkeit, im Wandel der Moden die Veränderung der allgemeinen Zeit und des individuellen Lebens festzuhalten.[35]

Bei Rem ist das anders. Zwar offenbart die Liste der im Rahmen der Hochzeit benutzten Stoffe und Gewänder eine kaum geringere Pracht als im Falle von Schwarz: Samt, Atlasseide, Innenfutter, Fransen, Nesteln etc. Aber das ist ein einmaliges Ereignis, primär von familialer und ökonomischer Relevanz. Für andere Hochzeiten scheinen die Ausgaben mehr die Geschenke als die eigene Kleidung zu betreffen. In der Handelsbilanz sind bei der Generalrechnung für die Jahre 1519 bis 1521 jeweils 50 Gulden für Kleidung ausgewiesen, doppelt so viel wie für den Unterhalt der Pferde, allein dieser letzte Posten aber wird in den folgenden Rechnungen explizit weitergeführt. Rem scheint nicht nur faktisch weniger kleiderfixiert gewesen sein als sein Augsburger Mitbürger. Er weist diesem Bereich auch keinen besonderen Raum in seinen Aufzeichnungen zu – weil sie einen anderen Status haben. Wo Schwarz in seinen über 130 Bildern eine einzige Kontorszene darstellen lässt, ist für Rem das Kontor der Ort sine qua non seines Memorialbuchs.

Dementsprechend zeigt er sich in den verschiedenen Partien kaum in sozialen Kontexten, sondern fast immer in geschäftlichen Situationen. Die weitläufigen verwandtschaftlichen und familialen Netzwerke, wie sie im Verzeichnis der Leibgedinge, Liegenschaften und Pachten sichtbar werden, erhalten fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von Ansprüchen, Leistungen und Erträgen (Gelder wie Naturalien) Kontur. Der Bereich des Hauses und der Ehe, der Liebe und der Sexualität bleibt blass. Wir erfahren: Das Ich hat zunächst mehr Neigung zum Handel als zu den Frauen (G32, fol. 22r) – immerhin gibt es zu diesem Zeitpunkt schon fünf uneheliche Kinder mit Margareta Borch in Antwerpen. Der Beschluss für die Ehe mit Anna Ehem/Echain in Augsburg wurde gefasst auf „fil Lang vnd ernstlich anhaltten meiner Ersamen můter brieder und ander fil vertraut fraind vnd gůt günner“ (G43, fol. 33r). Oder auch: Das Ehepaar unternimmt gemeinsam, selbst als die Frau hochschwanger ist, Badekuren, begleitet von Mägden und Knechten. Das ist es aber auch schon. Viel mehr wird nicht gesagt. Auch Zeitgeschichtliches kommt, von kurzen Erwähnungen abgesehen („da vernam ich Kayser Maximilians abgang, vnd wie herzog von wirtenberg for Reitlingen lag“; G21, fol. 10v), nur selten in den Blick.[36]

Signifikant ist in diesem Zusammenhang auch der Unterschied in der Zeitauffassung bei Schwarz und Rem.[37] Der eine ist am Wandel interessiert, den er der eigenen Person, den eigenen Kleidern, dem eigenen Körper abliest; er versteht die Zeit als eine im Vergehen sich zeigende allgemeine Größe. Der andere datiert zwar genau alle Reisen und Aufenthalte, für ihn ist die Zeit aber etwas Konkretes, etwas, das man nutzen möchte und von dem man bedauert, nicht mehr zu haben. Vor allem solange Rem noch in Diensten der Welser unterwegs ist, wirkt sein Bewegungsmodus gehetzt.[38] Er ist Tag und Nacht tätig, gönnt sich keine Ruhe, nimmt auf Krankheiten nur Rücksicht, wenn es nicht mehr anders geht. Vom unmöglichen Besuch in Santiago de Compostela war schon die Rede. Wenig später heißt es in Bezug auf die unwirtliche Gegend um Tassacorte, für die erhebliche agrikulturelle Anstrengungen nötig wären: „da solt ich lang pliben sein, gros vil gůt ordnung tann haben, aber Ich erfandt, dz got geb, wz Ich befelch, nach meim abschid nit folstreckt wurd, zuom wasserlayten, land bawen, etlich Jar gehoret, die Ich nit pleiben wolt, gleich eylett, bei tag, dz land, leit, fich, die gantz nachtt rechnongen, biecher besach, on al ruo, eylet on mas, vm den winter aus den Inslen zuo komen“ (G13; fol. 5v). So manifestiert sich die Zeit als das, was man nicht hat oder was besonders dann hervortritt, wenn man mit Einschnitten konfrontiert ist: die Heirat, die Gründung der eigenen Gesellschaft, der Ausbruch einer Krankheit, all das situiert in der Spannung zwischen Ereignishaftem (hier auch gelegentlich die Kategorie der Stunde) und Wiederholungshaftem – immer wieder kommt es zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen, immer wieder zu Versuchen der Heilung.

Die Eigentümlichkeit der Aufzeichnungen ergibt sich so aus ihrem vielfältigen, kombinatorischen Charakter. Mit zeitgenössischen Itineraren teilen sie das Prinzip der Dokumentation des Reisens, mit Selbstzeugnissen die Art und Weise, die Wechselfälle des Lebens festzuhalten, mit Geschlechterbüchern die Aufmerksamkeit für die Vorfahren wie die Nachkommen, mit Familienbüchern das Interesse etwa für die Hochzeit, mit Handelsbüchern den Sinn für das ununterbrochene Rechnen und Bilanzieren. Aber kein Muster herrscht ungebrochen: Die Itinerare verlaufen mäandernd, sind nicht auf hervortretende Ziele hin ausgerichtet. Vom eigenen Leben wird vieles ausgespart. Eine weitgespannte, lückenlose Genealogie ergibt sich nicht. Von der Familie werden die Kinder am stärksten präsent, die Brüder vor allem als Geschäftspartner. Die Bilanzen erhalten durch allerlei narrative Einsprengsel chronikalische Dimensionen.

Was all das zusammenhält, ist, neben dem Ich selbst, das sich durchziehende Spannungsfeld von ,Erträgen‘ und ,Mühen‘. So wie schon der erste fassbare Vorfahr, Hans Rem, sein Vermögen gegen Widerstände und Verluste aufbaute, so steht auch das, was Lucas erreicht, immer vor dem Hintergrund des Gegenläufigen: schikanöse Direktiven der Welsergesellschaft, ungerechte Verteilung der Profite, wetter- und situationsbedingte Unbilden, allerorts ausbrechende Seuchen, dazu die eigenen Krankheiten und Gebrechen. Von „on mas enxtig mie, vberflisig arbeit, gros widerwertikait“ (G8), „on mas fil grosse vnd schwere Recht“ (ebd.), „gros mie, fil anstös, widerwertigkeit“ (G11) ist im Lebensabriss die Rede, von „mie vnd laid, vncost“ (G31) in der Handelsbilanz, von „fil stritt vnd bitt“ unter den Brüdern (G58), von „Schinderey vm ruo, frid vnd fraintschat wilen“ (G62) im Güterverzeichnis. Ganz zu schweigen von dem Schmerz um die frühverstorbenen Kinder, etwa um Bertold: „Ain fast schons schwartzaugends kind, mit aim kraussen weyssen har, aber fir vnd fir mit krankhait beladen, vergicht, grimmen, haptwee, zuo letzt die flecken. Die hett er vnmasig, also dz er Starb adi 14 october 1530 aubends vm 9 vr“ (G68, fol. 50r).[39]

Bekommt das Ich vor allem dort Kontur, wo es sich gegen solche Widerstände behauptet oder ihnen punktuell (wie im Gefolge des Aufenthalts in Rom) entkommt, so erscheint auch sein Körper primär als leidender und geplagter, beständig oszillierend zwischen Krankheitsfällen und Besserungen oder Heilungen. Auch bei Matthäus Schwarz erhalten im Kostümbuch der Schlaganfall und seine Konsequenzen breiten Raum – über mehrere Bilder hinweg wird der Prozess einer langsamen Erholung sichtbar. Bei Rem ist dies noch bedeutend ausführlicher. Der Ton, der schon auf den ersten Seiten des Lebensabrisses mit dem ,Pestilenzialfieber‘[40] in Lyon angeschlagen ist, klingt im ersten Teil immer wieder an, verdichtet sich in einigen präzisen Beschreibungen der Körperteile, an denen Schmerzen auftreten, und wird zum Basso continuo des zweiten Teils. Dadurch wird Rems Text nicht schon zu einer Autobiografie ,am Leitfaden des Leibes‘.[41] Das Interesse gilt wie auch sonst in dieser Zeit dem leidenden Körper, der hier nun aber nicht zwischen Himmel und Hölle schwankt und nicht zum Obstakel oder zur Inspirationsquelle des Gelehrten wird.[42] Er repräsentiert die innerweltliche, nicht zuletzt ökonomische Anstrengung. Er ist eine Größe, die sich selbst als Wert fassen und mit anderen Formen des Wertes verbinden lässt.

Was es erlaubt, diese Werte aufeinander zu beziehen, sind die vorliegenden Aufzeichnungen. Sie dienen zeittypisch der Sicherung des eigenen Namens und Ranges, der Herstellung von Erinnerung – sowohl die Handelsbilanz als auch das Verzeichnis der Handelsdiener sind mit „Memoria“ betitelt. Das autoökonomische Memorialbuch erzeugt einen Leistungsausweis in finanzieller, sozialer und familiärer Hinsicht. Es registriert die Erträge und bindet sie an die Mühen eines Subjekts, das sich wiederum im Schreiben fragmentiert. Narrativierend und kontextualisierend, spatialisierend und temporalisierend vernetzt es die disparaten Aspekte des eigenen Lebens und spaltet zugleich das Subjekt auf: in ein reisendes und leidendes, badendes und kurierendes, handelndes und buchhandelndes, Kinder zeugendes und Handlungsgehilfen verpflichtendes, ein ökonomisches und fiskalisches, soziales und familiäres. Gerade die Differenzierungsmöglichkeit, die in der Schrift mit ihren Dynamiken und Strukturierungen liegt, ist auch ein Grund, warum das Subjekt nicht eines ist, kein ,in-dividuum‘, in dem die Vielfalt zur Einheit würde.

Deshalb ist in diesem Beitrag von ,Ökonomien des Selbst‘ im Plural die Rede. Es gibt nicht nur diejenigen Ökonomien, die direkt mit der Handlungsgesellschaft zusammenhängen. Es gibt auch solche des Körpers, über den Bereich der Arbeit mit jenen verbunden, und solche der Familie, ebenfalls stark unter ökonomischen Gesichtspunkten gedacht. Was Lucas Rem über Jahrzehnte hin betreibt, ist eine Buchhaltung des Lebens, eine durchgehende Ökonomisierung der Existenz, für die die Schrift nicht nur ein konventionelles Medium der Registratur ist, sondern eine soziale Maschine, um disparate Fäden miteinander zu verknüpfen.

Noch deutlicher sichtbar werden die Funktionen der Schrift eine Generation nach Rem in den Aufzeichnungen eines anderen Kaufmanns oder genauer: Kauffrauenehemanns, des Kölners Hermann von Weinsberg (1518–1597). Er verbrachte sein Leben nicht nur mit der Verwaltung seines ererbten Rentenbesitzes und des Vermögens seiner beiden wohlhabenden Ehefrauen, sondern auch mit der kontinuierlichen Verschriftlichung der Familien- und der Zeitgeschichte.[43] Nachdem er schon 1559 das bis in die Römerzeit zurückreichende Boich Weinsberch abgeschlossen hatte, begann er 1560 mit Gedenkbüchern, an einen künftigen Hausvater gerichtet (direkten Erben hatte er keinen), die nun weit über das familiengeschichtlich Relevante hinausreichen. Sie werden durch eine Vorrede eingeleitet, die ganz grundsätzlich die Schrift als „das allerlankwirigst und zu ewicher zit daurhaftigst wirk“[44] begreift, als Medium einer Nicht-Face-to-Face-Kommunikation. Die vorliegenden Aufzeichnungen sollen als schriftlicher Sendbrief an die Nachwelt dienen: „dan ein epistel ader sentbreif ist ein rede und sprach des abwesenden gegen den abwesenden“.[45] So wie der Autor darin alles für das ,Haus‘ und sein Umfeld Nötige zu Lebzeiten festhalten will, legt er auch den künftigen Generationen eine ähnliche Aufzeichnungspraxis ans Herz: „hab ich diss boich befoln zu verwaren und zu continuern“.[46]

Vor diesem Hintergrund dürfte es für die Erforschung von Egodokumenten künftig vielversprechend sein, sowohl die multiplen Dimensionen der Schrift als auch die der Ökonomie stärker zu berücksichtigen. Schrift in ihrem Doppelcharakter als Erscheinungs- und als Darstellungsform, als habituell praktizierte wie als gezielt eingesetzte und wohlbedachte. Ökonomie als etwas, das nicht nur das Wirtschaften im engeren Sinne betrifft, sondern auch den familialen und sozialen Kontext, den Umgang mit verschiedenartigen Ressourcen (z. B. Zeit) und das Verhältnis von Zählen und Erzählen. Um im Falle von Lucas Rem weiterzukommen, dürfte es angesichts der oben angestellten Beobachtungen wie bei Hermann von Weinsberg sinnvoll sein, zunächst einmal eine neue, gesicherte editorische Grundlage herzustellen.[47]

Online erschienen: 2023-06-14
Erschienen im Druck: 2023-06-05

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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