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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter March 10, 2023

Texte vor der Gutenberg-Galaxis oder Lachmannisches Mittelalter?

Ein Dialog über die Online-Edition Lyrik des deutschen Mittelalters als Ort der Vermittlung und Dokumentation mittelalterlicher Textualität

  • Florian Kragl EMAIL logo and Justin Vollmann EMAIL logo
From the journal editio

Abstract

The two parts of the article are complementary. In the first part, Justin Vollmann takes a look at digital editing and in particular at the online edition Lyrik des Deutschen Mittelalters (LDM) from a McLuhanian perspective, with LDM also being presented in its basic functions. In the second part, Florian Kragl follows the ‘gutenberggalactic’ tendencies of medieval manuscript tradition using Bligger von Steinach as an example, and then asks about the editorial consequences. The common goal is to establish a differentiated view on the medieval manuscript culture and its modern edition possibilities.

1. Vor und nach der Gutenberg-Galaxis[1]

1.1. Theoretischer Hintergrund

In seiner Theorie digitaler Datenbanken schließt der Medienwissenschaftler Marcus Burkhardt an eine Beobachtung an, die sich im ersten Band von Niklas Luhmanns Gesellschaft der Gesellschaft findet.[2] Burkhardt paraphrasiert und erläutert die betreffende Passage wie folgt:

Zur Konzeptualisierung des Computers schlägt Luhmann vor, zwischen der phänomenal zugänglichen medialen Oberfläche und der unsichtbaren Tiefe des Computers zu unterscheiden, welche durch Befehle miteinander verkoppelt werden müssen. Die Seite der Oberfläche kann als die Ebene der Interfaces betrachtet werden, wohingegen der Begriff der Tiefe auf die Seite der technischen Daten- und Informationsverarbeitung Bezug nimmt, die unsichtbar für die Nutzer im Computer ablaufen.[3]

Wesentlich für diese „mediale Topologie des Computers“[4] ist laut Burkhardt das „variable[ ] Verhältnis“,[5] in dem Oberfläche und Tiefe zueinander stehen: „Bei der Vermittlung zwischen Oberfläche und Tiefe kann aus Gleichem […] Unterschiedliches entstehen, ebenso wie [umgekehrt] verschiedene Bitfolgen an der Oberfläche keinen Unterschied machen können.“[6]

Diese „relative Einfachheit, mit der das Eine mithilfe von Computern als Vieles behandelt bzw. das Viele als Einheit verarbeitet oder präsentiert werden kann“,[7] ist nicht zuletzt für die Edition von Minnesang von Interesse, erlaubt sie es doch, unkompliziert zwischen der Einheit des Lieds und der potentiellen Vielheit seiner Fassungen zu vermitteln.

Eher dem heiligen Gral[8] als dem gedruckten Buch vergleichbar, kann der Computer an seiner Oberfläche ganz Unterschiedliches zur Erscheinung bringen. Das ermutigt dazu, im Fahrwasser Marshall McLuhans und anderer[9] mit der These einer Strukturanalogie zwischen der digitalen Kultur der Postmoderne und der semi-literalen Kultur des Mittelalters zu experimentieren. Der „unsichtbaren Tiefe des Computers“ entspräche hierbei der flüchtige Raum der mündlichen Performanz, der an der „phänomenal zugänglichen medialen Oberfläche“[10] der handschriftlichen Überlieferung seine Spuren hinterlässt.

Damit soll nun keinesfalls gesagt sein, dass die Varianz der Minnesang-Überlieferung ausschließlich auf Einflüsse der Mündlichkeit zurückzuführen sei (vgl. unten Abschnitt 2). Anderseits sind solche Einflüsse aber auch nicht vorschnell auszuschließen. So hat etwa Nikolaus Henkel selbst für einen ‚prima facie‘ stark schriftliterarisch anmutenden Fall wie die handschriftliche Zusammenstellung tonverschiedener Einzelstrophen in Erwägung gezogen, von der „‚Oberfläche‘ der Aufzeichnung“ vorsichtig auf die Möglichkeit eines „performativen Gebrauchs solcher Arrangements von Einzelstrophen“ zu schließen.[11]

Um solch komplexe Fälle indessen soll es hier gar nicht gehen. Vielmehr sollen die folgenden Überlegungen an einem Beispiel entfaltet werden, bei dem Mehrfachzuschreibung sowie Varianz nicht nur des Wortlauts, sondern auch des Strophenbestands und der Strophenfolge kaum Zweifel am Einfluss mündlicher Performanz lassen.

Terminologisch sollen die genannten Phänomene als ‚literarische Unfestigkeit‘ von einer rein ‚sprachlichen Unfestigkeit‘ unterschieden werden, die sich dem Umstand verdankt, dass die mittelhochdeutsche Dichtersprache zwar gewisse Tendenzen zur Vermeidung dialektaler Besonderheiten aufweist, aber noch weit von einer Standardisierung entfernt ist, wie wir sie aus Zeiten der Gutenberg-Galaxis kennen. Hier kann das Normalmittelhochdeutsche Abhilfe schaffen, das aber als (Re-)Konstruktion des 19. Jahrhunderts nicht überall im besten Ruf steht. Während sich herkömmliche Printausgaben in der Regel zwischen Handschriftennähe und bequemer Lesbarkeit entscheiden müssen, hält das digitale Medium flexiblere Lösungen parat.

1.2. Das Beispiel LDM

Als These aus den vorangegangenen Überlegungen lässt sich festhalten: Während wir es in der Gutenberg-Galaxis mit relativ festen Texten zu tun haben, tendieren die semi-literale Kultur des Mittelalters wie auch die digitale Kultur der Postmoderne dazu, ihre Texte als unfeste Oberflächenphänomene zu konzeptualisieren, die sich aus einer unsichtbaren Tiefe speisen. Dies vorausgesetzt, müsste sich das digitale Medium in besonderem Maß zur Edition mittelalterlicher Texte eignen. Dass dem tatsächlich so ist, soll im Folgenden am Beispiel des DFG-geförderten digitalen Editionsprojekts Lyrik des deutschen Mittelalters (LDM) gezeigt werden. Zitiert sei zunächst aus der Selbstbeschreibung des von Manuel Braun, Sonja Glauch und Florian Kragl geleiteten Projekts:

Das Ziel des Projekts ist es, die deutschsprachige Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts neu aus den Quellen herauszugeben, und zwar in Form einer frei verfügbaren Online-Ausgabe. […] Mit der Neuedition werden Leiche, Minnelieder und Sangsprüche des Hochmittelalters in zeitgemäßer, einheitlicher und leicht zugänglicher Gestalt vorliegen, während sie bisher auf eine Vielzahl überwiegend veralteter, höchst unterschiedlicher und vielfach vergriffener Ausgaben verstreut sind.[12]

Jeweils unterteilt in sprachliche und literarische Unfestigkeit der edierten Texte seien im Folgenden zunächst die sichtbare Oberfläche und dann die unsichtbare Tiefe der digitalen Edition skizziert.

1.2.1. Die sichtbare Oberfläche

Sprachliche Unfestigkeit

Als Beispiel dient im Folgenden die C-Fassung des Hartmann-Liedes We, war umbe truren wir?[13] (vgl. Abb. 1). Grundsätzlich ist jeder Strophe ein über den roten Reiter am rechten Strophenrand abrufbares Handschriftendigitalisat beigegeben. Jede Strophenreihe (verstanden als konkrete Liedfassung einer Handschrift) kann außerdem über die ausklappbaren „Einstellungen“ am linken Bildschirmrand in verschiedenen sprachlichen ‚Aggregatzuständen‘ angezeigt werden: von der Transkription (sei es im Zeilenumbruch der Handschrift oder mit einem an den Versgrenzen orientierten Zeilenumbruch; sei es unter Beibehaltung oder unter Auflösung der Abkürzungen) über die nicht normalisierte Editionsansicht bis hin zum normalisierten Text (vgl. Abb. 2).

Abb. 1: C Hartm 22–26 (Standardansicht); https://ldm-digital.de/show.php?au=Hartm&hs=C&lid=2624 (gesehen 2.12.2022).
Abb. 1:

C Hartm 22–26 (Standardansicht); https://ldm-digital.de/show.php?au=Hartm&hs=C&lid=2624 (gesehen 2.12.2022).

Abb. 2: C Hartm 22 in verschiedenen Ansichten; https://ldm-digital.de/show.php?au=Hartm&hs=C&lid=2624 (Ausschnitte, gesehen 2.12.2022).
Abb. 2:

C Hartm 22 in verschiedenen Ansichten; https://ldm-digital.de/show.php?au=Hartm&hs=C&lid=2624 (Ausschnitte, gesehen 2.12.2022).

Literarische Unfestigkeit

Eingebettet ist die betreffende Strophenreihe in mindestens zwei Ordnungssysteme. Das erste Ordnungssystem, das sich aus der Schnittmenge der übergeordneten Ebenen ‚Autor‘ und ‚Handschrift‘ ergibt, ist dasjenige des Hartmann-Korpus von Hs. C. So kann die Nutzerin oder der Nutzer per Pfeilfunktion zum vorherigen bzw. zum folgenden Lied dieser Handschrift wechseln und sich so durch das gesamte Hartmann-Korpus von C klicken.

Das zweite Ordnungssystem ist dasjenige des übergeordneten Liedes, von dem die betreffende Strophenreihe eine Fassung darstellt. In einem Kästchen links oben findet der Nutzer die weiteren Fassungen dieses Liedes anklickbar aufgelistet. Im konkreten Fall kann er dem Kästchen entnehmen, dass das in C fünfstrophige Lied in B ebenfalls fünfstrophig unter dem Namen Hartmanns, in E dagegen vierstrophig unter dem Namen Reinmars und in M1 dreistrophig unter dem Namen Walthers überliefert ist. Per Klick gelangt man zu den entsprechenden Strophenreihen, für deren Darstellung dann dasselbe gilt wie für die hier betrachtete.

Ebenfalls über das Kästchen anklickbar ist ein synoptisches Schema, dem im konkreten Fall zu entnehmen ist, dass das Lied in B und C in derselben Strophenfolge, in E und M1 dagegen in einer von BC abweichenden Strophenfolge überliefert ist. Über einen hellgrünen Reiter am rechten Strophenrand ist außerdem eine Textsynopse abrufbar, die sämtliche Fassungen des Liedes spaltenweise nebeneinander platziert, wobei die Strophenentsprechungen durch farbliche Unterlegungen optisch kenntlich gemacht sind (vgl. Abb. 3).

Eine über einen gelben Reiter erreichbare Strophensynopse platziert darüber hinaus die einander entsprechenden Strophen der verschiedenen Fassungen jeweils horizontal nebeneinander, wobei jede beliebige Fassung als Leitversion gewählt werden kann. Zusätzlich wird neben einer jeden Strophe des edierten Textes auf die entsprechenden Strophen der Parallelüberlieferung verlinkt.

Abb. 3: Textsynopse zu C Hartm 22–26; https://ldm-digital.de/textsynopse.php?li=2624&mode=0x600 (gesehen 2.12.2022).
Abb. 3:

Textsynopse zu C Hartm 22–26; https://ldm-digital.de/textsynopse.php?li=2624&mode=0x600 (gesehen 2.12.2022).

1.2.2. Die unsichtbare Tiefe

Sprachliche Unfestigkeit

Mit Ausnahme der Digitalisate, die über die Datenbank mit den entsprechenden Strophen verknüpft sind, werden sämtliche der beschriebenen sprachlichen ‚Aggregatzustände‘ aus ein und demselben mit entsprechenden Kodierungen versehenen Text generiert. Für den Benutzer bleibt dieser Text unsichtbar. Im internen Editor ist er zwar sichtbar, verliert sich aber aufgrund der zahlreichen Kodierungen ins Unanschauliche.

Literarische Unfestigkeit

Das Wissen über die Zugehörigkeit einer Strophenreihe zum Autorkorpus einer Handschrift einerseits und zu weiteren Fassungen des übergeordneten Liedes (einschließlich der genauen Strophenzuordnungen) andererseits ist in Form entsprechender Verknüpfungen in die Datenbank eingelassen. Diese Datenbank liegt noch eine Ebene tiefer als die interne Editor-Ansicht, die ihrerseits überhaupt erst aus der Datenbank generiert wird.

1.3. Minnesang als Datenbank?

Es sei noch einmal bei dem als Beispiel herangezogenen Lied angesetzt. Die ältere Forschung hat dieses Lied teils Hartmann oder – seltener – Reinmar zugesprochen, teils beiden – und erst recht Walther – abgesprochen und es im Extremfall gar als einen fiktiven Dichterwechselgesang aus der Feder eines unbekannten Autors des 13. Jahrhunderts interpretiert.[14] Die an sich naheliegende Möglichkeit, die Überlieferungssituation als Ausdruck einer lebendigen Aufführungspraxis zu begreifen, in der z. B. Reinmar und Walther ihre jeweils eigene Version eines Hartmann-Liedes im Repertoire gehabt hätten, ist erst in der neueren Forschung zumindest in Erwägung gezogen worden.[15]

Selbst dann jedoch, wenn man beim Spiel mit Strophenbestand und Strophenfolge eher den Redaktor als den Sänger am Werk sehen wollte, ist und bleibt es doch die aus der Mündlichkeit sich herschreibende strophische Verfasstheit des Minnesangs, die zu einem solchen Spiel überhaupt erst einlädt – dies umso mehr, als die Strophen zwar durch ein gemeinsames Thema zusammengehalten werden, gleichzeitig aber, wie so häufig im Minnesang, recht unverbunden nebeneinanderstehen. Um einen groben Eindruck zu geben, sei aus dem Liedkommentar zitiert, der sich in LDM links neben jedem Lied (bzw. der aktuell angezeigten Fassung dieses Lieds) befindet:

Das in der längeren, Hartmann zugeschriebenen Version mit einem (allerdings in den Abgesang verlegten) Sommereingang aufwartende Lied wendet sich gegen die Zumutungen der Hohen Minne. Das Ich spricht sich gegen vergebliche Strapazen (BC I) und für einen raschen Erfolg aus (BC II). Gefordert wird die Treue der Dame trotz Abwesenheit des um die Ehre der Dame besorgten Mannes (BC III). Kritisiert werden die von der Dame vertretenen Maximen ‚Freundschaft ja, Sex nein‘ (BC IV) und ‚Dienen ist Lohn genug‘ (BC V). Die kürzeren, Reinmar bzw. Walther zugeschriebenen Versionen des Liedes setzen vor allem dadurch einen eigenen Akzent, dass sie das Votum für einen raschen Erfolg pointiert ans Ende stellen.[16]

In der Tat erinnern die Strophen an die in der Tiefe einer Datenbank befindlichen Datensätze, auf die selektiv zurückgegriffen werden kann, um in permutativen Verfahren wechselnde Oberflächen zu erzeugen, die in ihrer Gesamtheit den unfesten Text ausmachen. In den Tiefen dieser Datenbank nach dem versunkenen Archetyp zu fahnden, war das Lieblingsprojekt einer ‚gutenberggalaktisch‘ inspirierten Textkritik, die nach Verfestigung des Textes strebte. Dagegen nutzt die – ihrerseits selbst datenbankförmig organisierte – ‚postgutenberggalaktische‘ Edition die Unfestigkeit des digitalen Mediums konsequent zur Dokumentation der Unfestigkeit des mittelalterlichen Textes.

Aber: Wie unfest ist dieser mittelalterliche Text tatsächlich? Danach fragt der zweite Teil des vorliegenden Beitrags.

2. ‚Lachmannisches‘ in der mittelalterlichen volkssprachlichen Dichtung?

2.1. Ein kurzer Blick in die Fachgeschichte

Die im späten 18., frühen 19. Jahrhundert erstehende Mittelalterbegeisterung bildete rasch zwei gegenläufige Stoßrichtungen aus. Da war zum einen eine nicht nur im landläufigen, sondern auch im literarhistorischen Sinne ‚romantische‘ Faszination für das Alte, Urwüchsige, Echte, für das Unverfälschte, Ungekünstelte, Wahre, wie sie aus Texten wie des Novalis Heinrich von Ofterdingen hervorglänzt. Und da war zum anderen das insgesamt stärker historisch-politische Anliegen einer Aufforstung der eigenen Vergangenheit, das in dieser nicht den Sehnsuchtsort des Ganz-Anderen finden wollte, sondern – unter anderem – kulturelle Leistungen auf Augenhöhe eines Homer oder eines Vergil. Es nimmt nicht wunder, dass – bei allen Interferenzen – das zweite benannte Anliegen von den entstehenden Nationalphilologien intensiver bedient worden ist als das erste, da diese ja institutionell und auch individuell-biographisch aus der Klassischen Philologie sprossen und also auch ein institutionelles Ziel verfolgten. Dass man begann, mittelalterliche Dichtung zu traktieren, als handelte es sich um gelehrte Buchdichtung, wird in diesen institutionellen Prozessen einen wesentlichen Grund haben. Das Schwärmerische blieb, doch auf dem Feld der Editionsphilologie fand es wenig Raum. Es sollte noch gut anderthalb Jahrhunderte dauern, bis es auch dort Fuß fassen mochte, mit den bekannten Folgen einer Entgrenzung auch des philologischen Textbegriffs.

Nun rechnet es zu den Eigenheiten sehr vieler, vielleicht sogar grundsätzlich aller ideologischen Debatten, dass sie mit den Gegenständen selbst gewisse Schwierigkeiten haben. Lachmann, Haupt und ihre Nachfolger mussten sich die mittelalterlichen Texte mit teils grobianischen Werkzeugen zurechtschneidern, um sie jenem Textkosmos passend zu machen, der sich seit Jahrhunderten um das Novum Testamentum Graece oder die Werke der klassischen Antike entfaltet hatte. Dass die Editoren hierbei häufig nicht zimperlich zu Werke gingen, ist lange bekannt, und die fachhistorische Distanz macht es uns leicht, die Radikalität der philologischen Operationen mit klarem Blick zu erkennen. Auch heute aber mag es sein, dass wir Gefahr laufen, die Dinge ohne konzentrierte Ansehung der konkreten Verhältnisse über einen breiten Kamm zu scheren, der dann eben nicht ‚Werk‘ oder ‚kritischer Text‘ heißt, sondern handschriftennaher Abdruck nach der Prämisse unbedingter Überlieferungsnähe, der zufolge im Prinzip jeder einzelne Textzeuge unterschiedslos jene unantastbare Würde hält, die zuvor nur dem sozusagen abstrakten Werk zugedacht werden wollte. Verehrung ist beides, und beide Male verbindet sich mit ihr die Gefahr, die Meinung schon im Voraus gefasst zu haben: ein klassisches Vorurteil.

Wie schon gesagt, auf der einen, sagen wir: lachmannischen Seite ist dieser Mechanismus leicht zu erkennen, und welche theoretischen und methodischen Optionen heute zur Verfügung stehen, um die Textsituation der mittelalterlichen Dichtung im Allgemeinen, der mittelalterlichen (deutschen) Lyrik im Speziellen zu beschreiben und sich dieser editorisch zuzuwenden, ist im ersten Teil des Beitrags ausgeführt. Im nun Folgenden wird es, gegengleich dazu, darum gehen, inwieweit auch diese heute geläufige(re) Perspektive an einigen – nicht vielen, aber auch nicht ganz seltenen – Überlieferungssituationen scheitert. Es wird sich zeigen, dass auch jene schrift- und buchbasierte philologische Textkritik, zu deren Chiffre der Name Lachmann werden sollte, ihre Vorläufer nicht nur in der Antike hat – man denke an Servius zu Vergil, an die patristischen Bemühungen um die heiligen Texte des Christentums oder die alexandrinische Homer-Philologie –, sondern dass auch im Bereich des Mittelalters, und nicht nur im engeren Bezirk der Gelehrsamkeit (etwa: karolingische Initiativen zur Bibel und zur antiken Dichtung), jenes abstraktere, ‚werkbezogene‘, ‚kritische‘ Denken als solches durchaus greifbar ist, dass es aber dort stets sehr viel rascher an seine Möglichkeitsgrenzen stößt als zu anderen Zeiten und in anderen sozialhistorischen Bereichen der europäischen Literaturgeschichte. Das Beispiel ist ein überschaubares und kleines: Gehen soll es um die wenigen Strophen, die in den Lyrikhandschriften B und C dem Dichter Bligger von Steinach zugeschrieben werden.

2.2. Bligger von Steinach in BC

Über den Dichter Bligger von Steinach sind wir, im Vergleich zu anderen Dichtern der höfischen Zeit, erstaunlich gut informiert, wenn diese Informationen auch freilich im Vergleich zu anderen Phasen der europäischen Literaturgeschichte insgesamt spärlich wirken werden.[17] Er gehörte einem Adelsgeschlecht an, das um 1100 die Hinterburg in Neckarsteinach baut. Der Sohn von deren Erbauer ist der erste Steinacher, der den Namen Bligger trägt, und 21 Steinacher werden ihm darin nachfolgen, darunter auch die unmittelbaren männlichen Nachfahren, was eine sichere Zuordnung des Dichters zu einer Bligger-Generation so gut wie unmöglich macht. Vielfach hat man in der Forschung an Bligger II. gedacht, der dann als Dichter wohl im späteren 12. Jahrhundert aktiv gewesen wäre. Urkunden verbinden ihn, vielleicht auch angrenzende Generationen, mit der Adelselite der Zeit: Kaiser Friedrich I., Kaiser Heinrich VI. – der sich ja selbst in Minnesang geübt hat –, Kaiser Otto IV. Außerdem gibt es eine urkundliche Verbindung mit Walther von Hausen, dem Vater des Minnesängers Friedrich von Hausen, der Zentralgestalt der sogenannten ‚rheinischen Hausenschule‘, einer charakteristischen Spielart des Minnesangs im ausgehenden 12. Jahrhundert, ist. Auch die Lieder Bliggers werden dieser Spielart zugeschlagen bzw. fügen sich thematisch und poetisch nahtlos in den Rahmen ein, den deren Vertreter mit ihren Gedichten definieren.

Nicht mehr als drei Dichtungen haben sich unter Bliggers Namen erhalten: ein zwei- sowie ein dreistrophiges Minnelied, die beide mit demselben Strophenbestand in derselben Strophenreihung von der Weingartner Liederhandschrift (B, um 1310/20) und der Großen Heidelberger Liederhandschrift, dem Codex Manesse (C, um 1300 mit Nachträgen bis ca. 1340), überliefert werden. In C gibt es nach diesen fünf minnelyrischen Strophen noch eine Spruchstrophe in der Alment (einem weit verbreiteten Spruchton), deren Zuschreibung an Bligger aus verschiedenen Gründen angezweifelt worden ist. Die Strophe fäll in der Tat poetisch weit ab gegen die beiden Lieder; für das Folgende ist sie aber schon aus dem banalen Grund irrelevant, dass es sich um unikale Überlieferung handelt, sie wird daher nicht weiter berücksichtigt. Übrigens dürfte Bligger auch als Epiker aktiv gewesen sein.[18] Gottfried von Straßburg (Tristan, Vers 4689–4720) und Rudolf von Ems (Wilhelm von Orlens, Vers 12192–12197 und Alexander, Vers 2205–2218) rühmen ihn in ihren Literaturkatalogen lauthals als Verfasser des Umbehanc, eines wohl epischen Textes, der aber nicht erhalten sein dürfte und über den man nichts weiß. (Den Optimismus, den Titel als Chiffre für ein erhaltenes Gedicht zu nehmen und dieses auch identifizieren zu können – man dachte unter anderem an den Moriz von Craûn und das Nibelungenlied –, scheint das Fach heute meistenteils verloren zu haben.)

Ehe es nun an eine Betrachtung der fünf minnelyrischen Strophen Bliggers geht, noch ein Wort zu den Autorkorpora in BC und speziell zu den zugehörigen Miniaturen. Diese führen mehr als alles andere unmittelbar vor Augen, dass die Eventualität, die beiden Korpora in BC seien womöglich unabhängig voneinander entstanden, jeder Wahrscheinlichkeit entbehrt. In B zeigt das Autorbild (pag. 26) unter dem Titel „·h·BLIGER·V–SAINACH·“ in einem unteren, größeren Bildsegment einen sitzenden Mann mit rotem Kranz auf dem Haupt. Mit der rechten Hand hält er ein leeres Pergamentband oder eine Pergamentrolle, mit der linken ein Schwert, das zwischen den Knien lehnt. Andere Waffen hat er nicht. Im oberen Bildsegment, das in etwa ein Drittel der Miniatur ausmacht, findet sich links ein Wappen: silberweiße Harfe auf rotem Grund, rechts daneben ein goldener Helm, aus dem nach oben zwei grüne Pfauenköpfe herausragen, die, gegeneinander abgewandt, nach links und rechts blicken. Das Harfenwappen stärkt die Verbindung zu der Adelsfamilie, die dieses Wappen zwar wohl nicht zu Bliggers Zeiten verwendet hat, aber bald danach. Wenn es also auch anachronistisch ist, so zeigt es doch deutlich, dass sich die Produzenten der Handschrift bei der Verbindung von Dichter und Adelsgeschlecht ihrer Sache sicher waren. Dass ein Rubrikator den Namen des Geschlechts im Bildtitel verhunzt hat, tut dem keinen Abbruch.

Die C-Miniatur (fol. 182v) ist jener aus B so nahe verwandt, dass man Zufall getrost wird ausschließen dürfen.[19] Wieder ist das Bild in der Vertikalen geteilt, wieder nach in etwa demselben Verhältnis der Bildbereiche, wieder sitzt unten ein Mann, wieder mit Schwert und Kranz, wieder finden sich oben Wappen und Helmzier, wenn auch mit leicht wechselnder Farbe: das Wappen nun mit goldener Harfe auf blauem Grund, die Pfauenköpfe blau statt grün. Neu ist eine zweite Figur im unteren Bildbereich, die deutlich kleiner ist als die (wenn man so möchte) Dichterfigur. Den Attributen nach zu schließen – Feder und Rolle – handelt es sich um einen Schreiber, der ein Diktat der größeren Figur – die ihre Hand entsprechend hält – abnimmt. Die C-Miniatur hat den Titel „her Blîgge vō Steinach“ (in roter Schrift), die Texte auf der nachfolgenden Seite des Kodex sind mit „von Steinach“ (teilweise im Falz) überschrieben. Wie genau der Weg ging, den das Konzept dieser Miniatur nahm, wissen wir heute nicht. Dass da aber gegenseitiger Einfluss (unwahrscheinlich) oder eine gemeinsame Vorlage (wahrscheinlich) dagewesen sein muss, ist im Wortsinne evident.

Dasselbe gilt für die beiden Lieder.[20]

2.2.1. Lied I

Bliggers erstes Lied besteht aus zwei Strophen, die in BC folgenden Wortlaut haben:

C Bligg 1

I

Min alte swere, die klage ich fu̍r nu̍we,

wan si getwanc mich so harte nie me.

ich weis wol, durch waz si mir tůt so we,

daz mich sin verdriesse unde du̍ not mich geru̍we,

die ich hate uf trostlichen wan.

nein, ine mac, noh enlat mich min tru̍we,

swie schiere uns aber du̍ sumerzit zerge.

des wurde rat, muse ich ir hulde han:

die neme ich fu̍r lop unde fu̍r kle.

B Bligg 1

I

Ain alte swere, die clage ich fu̍r nu̍we,

wan si getwang mich so harte nie me.

ich wais wol, durch was si mir tůt so we,

das mich sin verdriesse unde du̍ not mich geru̍we,

dıe ich hatte uf trostlichen wân[ ].

nain, ich enmag, noch enlat mich min tru̍we,

swie schiere u̍ns aber du̍ sumerzit zerge.

des wurde rat, muse ich ir hulde han:

die neme ich fu̍r lop unde fu̍r cle.

C Bligg 2

II

Ich getar niht vor den lu̍ten gebaren,

als es mir stat: duhtes ir einen gůt,

da bi sint viere, den min leit sanfte tůt.

boese unde gůte gescheiden ie waren;

der sitte musse och lanc stete sin:

ir beider willen kan nieman gevaren,

wan er ist unwert, swer vor nide ist behůt.

si haben dan daz ir unde lassen mir daz min,

unde sweme da gelinge, der si wol gemůt!

B Bligg 2

II

Ich getar niht wol vor den lu̍ten gebaren,

als es mir stat: duhte es ir ainen gůt,

da bi sint viere, den min lait sanfte tůt.

boese unde gůte geschaiden ie waren;

der sitte muz och lang stete sin:

ir baider willen kan niemen gevaren,

won er ist unwert, swer vor nide ist behůt.

su̍ haben in das ir unde lassen mir das min[ ],

unde sweme da gelinge, der si wol gemůt!

Überlieferungskritischer Apparat: B I,5 wâne. B II,8 mine.

Dass diese beiden Fassungen einander überlieferungskritisch nahestehen, sieht man auf den ersten Blick. Die Differenzen werden noch geringer, wenn man die handschriftliche Graphie, die ja immer kodex- und schreiberspezifische, teils auch dialektale Eigenheiten aufweist, überführt in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch, wobei mit Nachdruck betont sei, dass sich im Falle dieses Liedes (und auch des anderen, nächsten) durch eine solche Transformation an der Lautgestalt nicht ein Jota ändert. Will sagen: Wer diese Lieder laut liest, dem klingen sie durch und durch ‚normalmittelhochdeutsch‘, und da es im Mittelhochdeutschen keine geregelte Orthographie gibt, werden die normalisierten Fassungen einem Fassungsvergleich dienlicher sein:

C Bligg 1

I

Mîn alte swære, die klage ich für niuwe,

wan si getwanc mich sô harte nie mê.

ich weiz wol, durch waz si mir tuot sô wê,

daz mich sîn verdrieze unde diu nôt mich geriuwe,

die ich hâte ûf trœstlîchen wân.

nein, ine mac, noch enlât mich mîn triuwe,

swie schiere uns aber diu sumerzît zergê.

des wurde rât, müese ich ir hulde hân:

die næme ich für loup unde für klê.

B Bligg 1

I

Ein alte swære, die klage ich für niuwe,

wan si getwanc mich sô harte nie mê.

ich weiz wol, durch waz si mir tuot sô wê,

daz mich sîn verdrieze unde diu nôt mich geriuwe,

die ich hâte ûf trœstlîchen wân[ ].

nein, ich enmac, noch enlât mich mîn triuwe,

swie schiere uns aber diu sumerzît zergê.

des wurde rât, müese ich ir hulde hân:

die næme ich für loup unde für klê.

C Bligg 2

II

Ich getar niht vor den liuten gebâren,

als ez mir stât: dûhtez ir einen guot,

dâ bî sint viere, den mîn leit sanfte tuot.

bœse unde guote gescheiden ie wâren;

der site müeze ouch lanc stæte sîn:

ir beider willen kan nieman gevâren,

wan er ist unwert, swer vor nîde ist behuot.

si haben dan daz ir unde lâzen mir daz mîn,

unde sweme dâ gelinge, der sî wol gemuot!

B Bligg 2

II

Ich getar niht wol vor den liuten gebâren,

als ez mir stât: dûhte ez ir einen guot,

dâ bî sint viere, den mîn leit sanfte tuot.

bœse unde guote gescheiden ie wâren;

der site müez ouch lanc stæte sîn:

ir beider willen kan niemen gevâren,

wan er ist unwert, swer vor nîde ist behuot.

siu haben in daz ir unde lâzen mir daz mîn[ ],

unde sweme dâ gelinge, der sî wol gemuot!

Das Lied operiert mit konventionellen Topoi der Minnelyrik im Umfeld der ‚Hausenschule‘.[21] Konzeptioneller Kern sind die Maximen und Axiome der sogenannten Hohen Minne; es handelt sich, wie schon der Eingang der ersten Strophe klarstellt, um eine Minneklage: Das Ich ist schon lange bedrückt, jetzt aber ganz besonders, und verantwortlich dafür ist eine Frau. Was sie genau tut, bleibt opak, jedenfalls leidet er (wenn wir uns das Ich als männlich denken dürfen) Verdruss und will schon alle Hoffnung auf ‚Trost‘ fahren lassen, was ihm freilich nicht gelingt: Seine ‚Treue‘ lässt ihn nicht. Obwohl die Sommerzeit schwindet (man kann das wörtlich oder metaphorisch nehmen: für die Verschärfung des leidvollen Zustands und den Schwund der Zuversicht), würde es Abhilfe schaffen, wenn diese Frau sich ihm gegenüber geneigt zeigte. Das wäre ihm lieber als Blätter und Klee – was das Bild der Sommerzeit mit einer verschmitzten Pointe aus dem minnelogischen Vergleichskosmos hinauskatapultiert.

Strophe II handelt, ohne konzisen argumentativen Anschluss an Strophe I, vom Verhältnis des Sängers zu irgendwelchen Leuten. Er wagt nicht, vor diesen sein Herz auszubreiten, denn wenn einer das schätzt, so gewinnen vier aus seinem Leid Plaisir. Auch hier lauert eine kleine Pointe: Dieses Vergnügen an seinem Leid könnte, wie es in anderen Liedern der Hohen Minne ausgeführt ist, daher rühren, dass er sein Leid so schön, so artifiziell darzustellen weiß: Auch jene vier, denen sein Leid Freude bereitet, würden dann seine Kunst goutieren. Diese Pointe lässt sich nur extern ins Lied eintragen. In diesem selbst hat sie keinen Rückhalt, zumal sie das Verhältnis von einem Günstigen gegen vier Missgünstige störte. Dieses wird aber – vielleicht, um das Argument nach diesem assoziativen Angebot wieder klar auf Kurs zu bringen – konsolidiert mit der althergebrachten, immerwährenden Unterscheidung von Guten und Bösen. Niemand kann es beiden Parteien (allen?) rechtmachen, und wer nicht Missgunst leidet, der ist nichts wert. Soll doch jeder das Seine haben, und wem der Erfolg winkt, der möge sich freuen!

Die Gedankenführung ist fahrig, wobei man zugleich im Blick behalten sollte, dass alle diese Gedanken zur mutmaßlichen Schaffenszeit Bliggers schon gut erprobt sind, dass sie also ob ihrer Konventionalität vielleicht genauso wenig auffallen wie ihre – je nach Rezeptionshaltung – kühne oder schlampige Fugung. Für textkritische Belange ist diese Frage wenig relevant, denn semantische Unterschiede zwischen den beiden Fassungen gibt es so gut wie nicht. Die einzige zarte Nuance, die sich anführen ließe, wäre „Mîn alte swære“ (C) gegen „Ein alte swære“ (B) in I,1, aber der Kontext der Phrase versöhnt die beiden Lesarten: Sie laufen auf dasselbe hinaus.

Anders liegen die Dinge hinsichtlich der formalen Gestaltung. Erstens steht gegen die – zumindest dem Anschein nach – sorglose inhaltliche Komposition eine durchdachte, originelle Strophentektonik, die man kaum anders denn als Spiel mit poetischen Konventionen (wieder: eben dieses ‚rheinischen Minnesangs‘ und auch seiner französischen Vorbilder) deuten kann. Die Strophen erstrecken sich über neun Verse, das Reimschema ist jenes der Periodenstrophe, beginnend mit einem umarmenden Reim – abba (V. 1–4) –, der dann sukzessive (und wie häufig bei Periodenstrophen) in einen ‚fehlerhaften‘ Kreuzreim überführt wird: abcb (V. 6–9). Den Übergang leisten die Verse 4–8, in denen die Idee des umarmenden Reims nachklingt: cabc (V. 5–8). Wie hier das eine Reimprinzip schleichend ins andere hinüberläuft, ist nicht ohne formalen Esprit. Nochmals neue Reize bringen die Binnenreime in V. 6 und 8, die die zunächst simpel anmutende Reimsystematik vollends aufweichen. Dass der Binnenreim (Reimklang d) in V. 8 im Vergleich zu jenem von V. 6 um einen Takt bzw. um eine Hebung im ansonsten isometrischen Vers verschoben ist, fügt sich ins Bild.

Rhythmisch dürfte es sich bei den Versen um daktylische Metren handeln, wenn auch eine zweitaktige Messung (wie fast stets bei Daktylen) ebenfalls möglich ist. Je nach Variante haben die Verse eine Hebung mehr bzw. weniger. Auf jeden Fall haben wir es, wie schon gesagt, mit isometrischen Strophen zu tun, alle Verse haben dieselbe metrische Länge. Dass die Abfolge betonter und unbetonter Silben im Versinneren wenig reguliert erscheint, deutet ebenfalls auf Daktylen hin – sie sind im Mittelhochdeutschen fast immer vergleichsweise ‚wild‘ gebaut, scheuen keine Tonbeugungen, einen streng geregelten Wechsel betonter und unbetonter Silben kennen sie meistens nicht. Ginge man von Zweitaktern aus, wäre das formale Schema der Strophe:[22]

5-a 5b 5b 5-a / 5c 3d+2-a 5b 2d+3c 5b

Bei den (wahrscheinlicheren) Daktylen müsste man dieses Schema ansetzen:

4-a 4b 4b 4-a / 4c 3d+1-a 4b 2d+2c 4b

Die andere, zweite Besonderheit der formalen Komposition – im Vergleich zur inhaltlichen – basiert auf diesem sorgfältigen Strophenbau. Während nämlich die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen in inhaltlicher Hinsicht völlig beliebig wirken und die Varianten als gleichrangig erscheinen, lassen sie sich unter formaler Perspektive abwägen und taxieren. Formal gleichwertig sind lediglich die erwähnte inhaltliche Nuance in I,1 sowie die iterierende Variante in I,6: „ine mac“ (C) gegen „ich enmac“ (B). Dazu kommt orthographische Varianz, die trotz der Normalisierung stehen bleibt (II,2 und 5). Je nach Metrisierung ist das „wol“ in B II,1 rhythmisch überschüssig (bei Zweitaktigkeit) oder neutral (bei Daktylen). Unbedingt irritierend hingegen sind die beiden auslautenden „e“ in Reimstellung, die Fassung B in I,5 und II,8 führt. Noch mehr gilt dies für den Binnenreim in B II,8, der nicht nur das Reimschema irritiert (c-Reimklang statt zu erwartendem d-Reimklang; der d-Klang in V. 6 wird folglich zur Waise), sondern auch noch unrein reimt (î : i).

Eine historische Einschätzung dieser Irritationen kann nur tentativ erfolgen. Die größere Wahrscheinlichkeit hat, soweit ich sehe, die Annahme, dass Störungen des Reimklangs vom Muster ‚-0‘ gegen ‚-e‘ im 12. bis 14. Jahrhundert – der Zeit, in der man Minnesang pflegt und in der die ‚großen‘ Handschriften entstehen – auch als Störungen begriffen worden sind; sie sind insgesamt rar, wirken beliebig über die Texte gestreut und sind je nach Handschrift häufiger oder seltener, was auf ein redaktionelles (und kein produktionsästhetisches) Prinzip hindeutet. Auch hinsichtlich der Varianz des Binnenreims ist es wahrscheinlich, dass schon die Minnesänger und die (meisten) Redaktoren diese Phänomene als Errata begriffen und, wo möglich, rasch korrigiert hätten; mit Binnenreimen verbinden sich zwar größere poetische Lizenzen als mit Endreimen, doch die Verwaisung des einen Reimklangs und die ‚Verunreinigung‘ des anderen übersteigt das übliche Maß. Allerdings, ganz sicher ausschließen können wir die Eventualität nicht, dass man solche Irritationen nicht als Errata, sondern als ein poetisches Surplus begriffen hätte, dass also die B-Fassung nicht einen fehlerhaften, sondern einen originellen Text böte.

Es ist hier auch gar nicht das Ziel, zweifelsfrei zu klären, was das Bessere wäre, womöglich in welchem Text mehr vom Autor Bligger steckte. Das kleine Liedchen diene vielmehr der Illustration, wie hier schon um 1300 redaktionelle Vorgänge zu beobachten sind, die in systematischer Hinsicht eine große Ähnlichkeit aufweisen mit jenen schriftgestützten, buchbasierten, ‚kritischen‘ Überlegungen, die man mit der mittelalterlichen volkssprachlichen Lyrik seit einigen Jahrzehnten zusehends seltener verbindet. Offensichtlich bieten B und C zwei Fassungen, die überlieferungsgenetisch ganz eng zusammengehören. Anders ist die über weite Strecken wort-, teils sogar buchstabenidentische Überlieferung nicht zu erklären. Das Lied gehört damit in jenen nicht kleinen Bereich, den man mit *BC sigliert und der, wenn auch die Details opak sind, eine oder mehrere Vorstufen vieler Lieder aus BC umschreibt. Und offensichtlich ist auch, dass auf diese beiden Bligger-Strophen schriftgestützte redaktionelle Energie verwendet worden ist. Das Anhängen oder Tilgen auslautender ‚e‘-s ist eine typische Eigenart mittelhochdeutscher Schreibsprachen, anhand derer sich beobachten lässt, wie mitunter schreibsprachliche Konventionen den poetischen Belangen (wie der Reinheit des Reims) obsiegen. Auch dass ein Binnenreim – dies freilich nur eine Hypothese – nicht als solcher erkannt und dann zerstört wird, kommt vor.

Wir wissen nicht, ob C den Text einer Vorlage besser bewahrt als B oder ob C einen B-ähnlichen Text wieder(?) formal herstellt, indem die C-Redaktoren ‚bessern‘, was ihnen besserungswürdig erscheint.[23] Unsicher also ist, in welche Richtung die Bearbeitung ging, auch ob es mehrere Stufen, vielleicht ein Hin und Her gab. Alle hypothetisch denkbaren Prozesse allerdings fügen sich ein ins ‚lachmannische‘ System: sei es, dass es im Schreibprozess zu genuin schriftbasierten Fehlleistungen kommt, sei es, dass ebendort redaktionelle ‚Besserungen‘ installiert werden, die mit ‚lachmannischen‘ Kategorien operieren (der ‚bessere‘ Text in normativer Hinsicht).

2.2.2. Lied II

Das zweite, dreistrophige Bligger-Lied, das BC abermals parallel überliefern, stärkt diesen Befund. Wiederum sei zunächst der Text geboten, doch diesmal aus den oben genannten Gründen nur in normalmittelhochdeutscher Gestalt.

C Bligg 3

I

Er funde guoten kouf an mînen jâren,

der âne fröude wolte werden alt,

wan si mir leider ie unnütze wâren.

umbe einez, daz wær’ als ein trôst gestalt,

gæbe ich ir driu – sô förhte ich den gewalt;

des gêt mir nôt: wie sol ein man gebâren,

der âne reht ie sîner † engalt?

B Bligg 3

I

Er funde guoten kouf an mînen jâren,

der âne vröude wolte werden alt,

wan si mir leider noch ie unnütze wâren.

umbe einez, daz wær’ als ein trôst gestalt,

gæbe ich ir driu – sô vorhte ich den gewalt;

des gêt mir nôt: wie sol ein man gebâren,

der âne reht ie sîner † engalt?

C Bligg 4

II

Erfunde ich noch, waz für die grôzen swære,

die ich nu lange an mînem herzen hân,

bezzer danne ein stæter dienest wære,

des wurde ein michel teil von mir getân.

hulfe ez mich iht, sô wære daz mîn wân:

swer elliu wîp durch eine gar verbære,

daz man in des geniezen solte lân.

B Bligg 4

II

Befunde ich noch, waz für die grôzen swære,

die ich nu lange an mînem herzen hân,

bezzer danne ein stæter dienest wære,

des wurde ein michel teil von mir getân.

hulfe ez mich iht, sô wære daz ie mîn wân:

swer alliu wîp durch eine gar verbære,

daz man in des geniezen solte lân.

C Bligg 5

III

Ich funde noch die schœnen bî dem Rîne,

von der mir ist daz herze sêre wunt

michels harter, danne ez an mir schîne.

[…]

[…] wurde mir mîn swære kunt,

diu mir ist alse Dômas Saladîne

unde lieber mohte sîn wol tûsent stunt.

B Bligg 5

III

Ich funde noch die schœnen bî dem Rîne,

von der mir ist daz herze sêre wunt

michels harter, danne ez an mir schîne.

[…]

[…] wurde ir mîn swære kunt,

diu mir ist alse Dômas Saladîne

unde lieber mohte sîn wol tûsentstunt.

Überlieferungskritischer Apparat: C II,7 in fehlt.

Auch dieses Lied fügt sich gut ein in den Bereich der ‚rheinischen Hausen-Schule‘, auch dieses Lied entfaltet Ideologeme der Hohen Minne, wenn es auch im Vergleich zu Lied I geradezu gegengleich gefertigt ist. Die assoziative inhaltliche Fugung weicht einem klaren argumentativen Aufbau, statt Periodenstrophe steht Kanzonenstrophe, die Metren der Verse sind nicht gleichsam frei-rhythmisch, sondern streng alternierend. Im Einzelnen:[24]

Strophe I thematisiert die Aussichtslosigkeit des (Minne-)Dienstes auf Erfolg und deutet die damit verbundene Ungerechtigkeit an. Inhaltlich originell ist die kaufmännische Metaphorik: Wer sich mit freudelosen Jahren eindecken möchte, findet beim Ich üppigen Kaufschatz, wohingegen das Ich drei solcher freudelosen Jahre gäbe für ein einziges, das ‚Trost‘ birgt. Strophe II greift den Dienstgedanken aus Strophe I auf: Das Ich weiß sich keine andere, bessere Strategie als beständigen Dienst, um das Leid zu therapieren, das er (es sei wieder ein Mann angenommen) im Herzen trägt. Die (als irreal präsentierte) Hoffnung ist, dass steter Dienst für eine auserwählte Dame dem Dienstleister von Nutzen sein müsste. Auch Strophe III ist mit der vorgängigen Strophe thematisch verknüpft, nun über die Einzigartigkeit der bedienten Dame. Offenbar soll deren Singularität herausgestellt werden, wenn auch die Details aufgrund der ca. anderthalb Fehlverse nicht mehr präzise erschlossen werden können. Die Verkettung der Strophen wird außerdem gestärkt durch die anaphorischen Stropheneingänge: „Er funde“ – „Befunde“/„Erfunde“ – „Ich funde“.

Abermals ist die inhaltlich relevante Varianz zwischen BC minimal. Eine grammatikalische Nuance mag man in I,5 ausmachen, falls dort Indikativ (B) gegen Konjunktiv (C) stünde. Die Sache ist aber flexionsmorphologisch schwierig, vielleicht handelt es sich auch nur um einen graphischen bzw. dialektalen Unterschied. Markant ist der Wechsel von „ir“ (B) und „mir“ (C) in III,5. Aufgrund des Überlieferungsdefekts lässt sich diese Differenz nicht mit Sicherheit beurteilen; so, wie die Texte in den Handschriften stehen, ist „ir“ in B konventionell, während das „mir“ in C ganz nach einem Fehler aussieht (dass ihm sein eigenes Leid bekannt würde, ist tautologisch). Solche kleinen Verschreibungen, gerade bei kleinen Wörtern wie eben auch Pronomina, sind in den mittelhochdeutschen Handschriften nichts Seltenes.

Zur Form: Die Strophen präsentieren sich als schlichte Kanzonenform, der Aufgesang ist kreuzgereimt (abab), der Abgesang hat die Struktur einer Waisenterzine, die aber durch Anreimung an den Aufgesang ihre Waise einbüßt (bab). Es gibt also pro Strophe nur zwei Reimklänge. Ungemein aufgeräumt ist auch die Metrik der Verse, die streng isometrisch gebaut sind: Alle sind fünfhebig, alle haben Auftakte, lediglich die Kadenzen wechseln zwischen weiblich (a-Reim) und männlich (b-Reim). Das formale Schema:

.5-a .5b / .5-a .5b // .5b .5-a .5b

Bligger ist übrigens nicht der einzige Dichter, der sich dieses Tons bedient. Er findet sich außerdem noch mehr oder minder baugleich bei LDM B Fen 8–12 et al., LDM B Fen 16 f. et al. und LDM B Raute 1–3, dazu gibt es romanische Parallelen, möglicherweise handelt es sich um eine Serie von Kontrafakturen.[25]

Die beiden oben als inhaltliche Nuancen oder Fehler vermerkten Fälle sind ‚formal‘ neutral. Dasselbe gilt für die iterierende Varianz „Befunde“/„Erfunde“ in II,1. Rein orthographisch und/oder dialektal sind Vorkommnisse wie „f“/„v“ (I,2), „alliu“/„elliu“ (II,6) oder „tûsentstunt“/„tûsent stunt“ (III,7). ‚Metri causa‘ fehlerhaft erscheinen „noch“ in B I,3 sowie „ie“ in B II,5, die die Regelmäßigkeit der Alternation stören, desgleichen das fehlende „in“ in C II,7 (es ist oben nach B ergänzt), das den Vers auch syntaktisch schwierig macht: Aussparung eines pronominalen Objekts kommt im Mittelhochdeutschen gelegentlich vor, in der Regel aber dort, wo sich das Fehlende wie von selbst ergibt. Das ist hier nicht unbedingt der Fall.

Für all diese kleinen Funde gilt, was oben schon zu Lied I gesagt ist. Wiederum könnte man streiten über die Deutungsvarianten: Greifen wir hier Fehler eines strengen formalen Regelsystems oder eine bewusste Abweichungsästhetik zu ebendiesem? Wieder aber würde man mit dieser Frage in die schon oben skizzierten Diskursbahnen einbiegen, und wieder würde die (leichte) Unsicherheit darüber, was das ‚Bessere‘ wäre, nichts daran ändern, dass wir es mit schriftgetriebener Varianz zu tun haben.

Spezifisch nur für Lied II ist, dass ein weiteres deutliches Indiz für diese Schriftgebundenheit dazutritt, das es in Lied I nicht gibt: gemeinsame Fehler. In I,7 fehlt ganz offensichtlich ein Wort, das Metrum lässt eine betonte Silbe vermissen, auch syntaktisch aber ist der Satz korrupt. Solche Wortausfälle entstehen im Abschreiben ständig und leicht – es ist eine Sache der Konzentration –, nicht aber beim Singen oder ‚Zersingen‘. Besonders erstaunlich ist, dass die Schreiber/Redaktoren nicht versucht haben, diesen Fehler zu reparieren: Sehr leicht könnte man hier „zuht“, „triuw’“ oder dergleichen einsetzen, und auch die Schreiber/Redaktoren hätten dies tun können. Dass sie es nicht getan haben, zeigt, dass auch sie mechanisch vorgegangen sind und sich zumindest an dieser Stelle nicht den Kopf über den abzuschreibenden Text zerbrechen wollten. Nicht ganz so leicht zu beheben ist der Defekt in III,4 f. Dort fehlen ein ganzer Vers sowie der Anfang des Folgeverses. Auch dies muss – aufgrund der Parallelität von BC – ein Abschreibversehen sein, und auch hier haben die Schreiber/Redaktoren von BC keinerlei Eigeninitiative ergriffen, um den Schaden zu heilen.

Wieder also, wie bei Lied I, erkennen wir zwei wesentliche Eigenarten, die ins ‚Lachmannische‘ verweisen: Zum einen treten die Schreiber/Redaktoren als ‚kritische‘ Geister in Erscheinung, die den Text im kleinen Detail korrigieren, besonders für C ist dies wahrscheinlich, und dass der C-Text bei beiden Liedern so glatt durchläuft, wird man wohl auch auf das Konto dieser Agenten schreiben dürfen. Zum anderen zeigen die auftretenden Errata – viel häufiger in B, in Lied II auch in BC als Bindefehler –, dass die ‚lachmannische‘ Vorstellung von der mittelalterlichen Überlieferung nicht notwendigerweise eine grundfalsche ist.

2.3. Repräsentation und Dokumentation

Die beiden hier verhandelten Beispiele sind Dutzendware. Viele Minnelieder stehen parallel in BC, viele davon weisen eine ähnlich geringe Varianz auf wie die beiden Lieder Bliggers. Der Gutteil der Varianz besteht aus iterierenden Varianten und – noch mikrostruktureller – aus Augenvarianz, also graphischen und/oder dialektalen Eigenheiten, die sofort verpuffen, sobald ein Text vorgesungen oder auch nur vorgelesen wird. Stille Lektüre aber war mit Sicherheit auch im 14. Jahrhundert die absolute Ausnahme. Es bleiben seltene formale Lesarten, wobei es generell häufig so ist, dass C die ‚reineren‘, ‚runderen‘, ‚glatteren‘ Texte präsentiert im Vergleich zu B, noch mehr im Vergleich zu A. Und schließlich bleiben spärliche inhaltliche Varianten, die man oft mit der Lupe suchen muss.

Ist dann aber, medienhistorisch, die Vorstellung vom mittelalterlichen Dichtungsbetrieb als einer vor-gutenbergschen Galaxis eine irrige und müsste man den Texten, editionsphilologisch, doch wieder auf jene Art und Weise zu Leibe rücken, wie man dies im 19. Jahrhundert zu tun pflegte?

Medienhistorisch dürfen wir nicht übersehen, dass die Funde im Bligger-Korpus das Bild insofern verzerren, als sie – offensichtlich – einem Bezirk mittelalterlicher Schriftkultur entspringen, der sich in einigen Punkten in der Tat ähnlich verhält wie Schriftkulturen anderer Epochen. Diese Schriftkultur, die uns den mittelhochdeutschen Minnesang bewahrt hat, ist aber selbst schon irgendwie – denn präzise, positive historische Zeugnisse fehlen uns – sekundär gegenüber der gelebten Praxis des Minnesangs, und wenn also BC oder *BC oder *BBuC oder *ABBuC einen abgezirkelten (und im Übrigen gut untersuchten)[26] Bereich schriftkulturellen Tuns definieren, so gibt es drumherum jenes mündliche Gewusel, das in der Gutenberg-Galaxis merklich abnimmt und das wiederum solche Fälle von Überlieferungsvarianz erklären hilft, die anders gelagert, die krasser sind als die beschauliche BC-Situation, wo also Strophenbestand und Strophenreihung wechseln, wo Spuren des ‚Zersingens‘ mit Händen zu greifen sind. Es wäre verkürzt zu sagen, dass die mittelalterliche Lyrik keine Berührungspunkte zu Schreiben, Abschreiben und zu redaktionellen Vorgängen hat, die dem 19. Jahrhundert so vertraut sind, dass man sie für selbstverständlich erachten wollte. Aber diese Berührungen geschehen nur dann und wann, sie spannen selten eine weite Tradition auf, und die Konsequenz, mit der die Schreiber und Redaktoren zu Werke gingen, ist nur im ganz grundlegenden Sinne, durchaus nicht aber in ihrer Intensität zu vergleichen mit genuin philologischen Bemühungen anderorts zu anderer Zeit.

Editionsphilologisch könnte man auf den Gedanken verfallen, dass Überlieferungssituationen wie dem kleinen Bligger-Korpus in BC ein ‚lachmannischer‘ Zugriff angemessener wäre als jene dokumentierende Herangehensweise, die LDM definiert. Dieser Gedanke hat einen wahren Kern: Wenn nämlich Ziel einer Edition die Repräsentation einer Überlieferungsgruppe ist, und zwar Repräsentation in dem Sinne, dass die Edition dem Tun der Textproduzenten angemessen zu sein hat, dann lägen ‚kritische‘ Verfahren nahe. Offensichtlich sind die Schreiber/Redaktoren – sie wären die Textproduzenten, um die es geht, nicht die Minnesänger – diesen Verfahren selbst zugetan, und die Vorstellung entbehrt nicht der Wahrscheinlichkeit, dass ein Schreiber/Redaktor um 1300 es reichlich seltsam gefunden hätte, wenn eine Edition stur und penibel alle Unachtsamkeiten bewahrt und ausstellt, die man doch ganz einfach bessern könnte. Allein, erstens gibt es solche Editionen schon, und zwar zur gesamten mittelalterlichen Lyrik (Lachmanns Walther, Minnesangs Frühling, die Liederdichter des Carl von Kraus); zweitens wäre es gar nicht trivial, im Editionsprozess jene halbe Höhe des ‚kritischen‘ Vorgehens zu wahren, die auch die alten Handschriften prägt (denn mit so sicherer Hand wie Lachmann oder Moriz Haupt agieren deren Produzenten ja nicht); drittens aber würde man sich damit ganz auf die Seite der schriftlichen Überlieferung schlagen und das andere, oft prominentere literarhistorische Telos – den Minnesang vor seiner späten schriftlichen Aufzeichnung – noch weiter aus den Augen verlieren, als wir es aufgrund der späten Überlieferung und ihrer „Wege in die Schriftlichkeit“[27] ohnehin nolens volens tun.

Man wird konzedieren müssen, dass, wo es nicht ums einzelne Wort, sondern um Repräsentation im Ganzen geht, ‚klassische‘ textkritische Verfahren einen stimmigeren Eindruck von der Sachlage vermitteln als dokumentarische, und dies dann, wenn sich die Überlieferung darstellt wie im Bligger-Korpus – um von der Redundanz, die dokumentarische Verfahren sich in solchen Fällen aufhalsen, ganz zu schweigen. Umgekehrt behalten dokumentarische Verfahren auch hier ihren Wert: Erst sie machen sichtbar, was in den obigen Analysen zur Sprache kam, nämlich dass und wie hier ansatzweise Modalitäten der Gutenberg-Galaxis in einer historischen Situation erprobt werden, der diese – abseits der gelehrten, lateinischen Buchschriftlichkeit – weitgehend fremd sind. Auch dies ist ein Beitrag zur medienhistorischen Erschließung alter Dichtung. Seine Wichtigkeit ergibt sich daraus, dass man diese Aspekte mittelalterlicher Dichtung und Dichtungsüberlieferung in jüngeren Jahrzehnten nicht mehr gern sehen mochte, sodass aus dem einen Schwarzweißbild nur sein Negativ wurde, ohne auf die Schattierungen achtzuhaben. Dass wir, in der theoretischen Konzentration auf solche Gemengelagen, auch den Blick für die Mischungsverhältnisse vielleicht schon der gutenbergschen, sicherlich aber der post-gutenbergschen Galaxis schärfen können, kommt dazu.

Published Online: 2023-03-10
Published in Print: 2023-03-28

© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 13.6.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/editio-2022-0007/html
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