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JENS KRUSE Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt: Tassos Ende und kein Ende Zurück zur Innenwelt? Erst als der Angeklagte verurteilt wird/ erkennen wir / daß der Verurteilte angeklagt war (Peter Handke, "Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt"). Deren [der Werke] gesamter Lebens- und Wirkungskreis hat gleichberechtigt, ja vorwiegend neben ihre Entstehungsgeschichte zu treten; also ihr Schicksal, ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen, ihre Übersetzungen, ihr Ruhm. Damit gestaltet sich das Werk im Inneren zu einem Mikrokosmos oder viel mehr: zu einem Mikroaeon. Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt — das ist die unsere — zur Darstellung zu bringen. Damit wird die Literatur ein Organon der Geschichte und sie dazu — nicht das Schrifttum zum Stoffgebiet der Historie zu machen, ist die Aufgabe der Literaturgeschichte (Benjamin, "Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft"). Fast scheint es, und scheint bedenklich, daß die Tasso-Forschung unabsichtlich und verkehrt die "Aufgabe der Literaturgeschichte" erfüllt, wie sie Benjamin definiert, nämlich die Zeit, die Goethes Tasso erkennt, zur Darstellung zu bringen. Dies ließe sich für die Zeit von Peter Steins Tasso-Aufführung bis heute im einzelnen nachvollziehen, läßt sich aber abgekürzt durch einen Blick auf die Tasso-Forschung der 80er Jahre zeigen, wobei die erste und die bisher letzte relevante Arbeit dieser Dekade besonders aufschlußreich sind. 104 Jens Kruse Im Jahre 1980, 200 Jahre nach dem Arbeitsbeginn am "Ur-Tasso" veröffentlichte Hans Rudolf Vaget "Um einen Tasso von außen bittend: Kunst und Dilettantismus am Musenhof von Ferrara."1 In diesem Aufsatz entwickelt und präzisiert Vaget sozialhistorische und literatursoziologische Ansätze der späten 70er Jahre,2 deren Frontstellung gegen die werkimmanenten Ansätze der 50er Jahre er in seinem Titel auf den Begriff bringt. Im Jahre 1988, 200 Jahre nach der zentralen Periode der Wiederaufnahme der Arbeit am Tasso? veröffentlichte Helmut Merkl "Spiel zum Abschied. Betrachtungen zur Kunst des Leidens in Goethes Torquato Tasso."4 In diesem Aufsatz kritisiert Merkl die Konzentration der 'Tasso-Forschung der jüngeren Vergangenheit [...] auf die Frage von Tassos äußerer Stellung am Hof von Ferrara"^ und wendet die "Aufmerksamkeit auf das Innere als den Ursprung der dramatischen Entwicklungen ."6 Fast scheint es also, als habe sich so ein forschungsgeschichtlicher Kreis geschlossen, als sei die Tasso-Forschung von methodologischen Ansätzen, die gegen das Primat der Innenwelt rebellierten und ihr Augenmerk auf die Außenwelt richteten, nun wieder zurückgekehrt zur Innenwelt. Dafür spricht auch die Tatsache, daß Merkl die sozialhistorischen und literatursoziologischen Ansätze relativ summarisch zurückweist, während er sich ausführlich auf die überwunden geglaubten Arbeiten der werkimmanenten Literaturwissenschaft stützt: Benno von Wiese,7 Emil Staiger,8 Elizabeth M. Wilkinson9 und Wolfdietrich Rasch10 werden ausführlich zitiert und zum Fundament der eigenen Interpretation gemacht. Fast mutet es gespenstisch an, daß die Germanistik die in den 80er Jahren populäre Imitation der 50er Jahre genau in dem Moment nachvollzieht, wo die Geschichte mit dem Aufbruch in die Post-Reagan Ära auch die in den 50er Jahren geschaffenen politischen und historischen Gegebenheiten hinter sich zu lassen scheint. Allerdings unterscheiden sich die Ergebnisse der Innenwelt-Perspektive bei Merkl in einer wichtigen Hinsicht von denen der Arbeiten der 50er Jahre. Während diese generell eine Kritik Tassos menschlicher Schwächen mit einem Lob seiner dichterischen Stärke verbinden, sieht Merkl auch Tassos Dichten von seinen menschlichen Schwächen korrumpiert.11 Für ihn scheitert Tasso, weil er "Kunst und Leben vermengt" und "sein Dichten nicht so sehr reiner Ausdruck als Vehikel einer Selbstdarstellung" ist.12 Anders als die meisten Arbeiten der 50er Jahre sieht Merkl also Tassos dichterische Fähigkeiten, seine Verwendung von poetischer Sprache, nicht als Lösung seiner menschlichen Probleme, als Rettung, sondern im Gegenteil gerade als den Kern des Problems. Produktiv allerdings scheint mir eine solche Argumentation nur dann, wenn man aus ihr schließt, daß kein Ansatz — weder werkimmanent noch sozialhistorisch bzw. literatursoziologisch — in das Zentrum Tassos vorstoßen kann, der dessen Sprache als autonom, als den sozialen und historischen Strukturen transzendent, versteht. Der Mangel beider Ansätze Goethe Yearbook 105 liegt ganz offensichtlich in der...

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