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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,1.1911

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1911)
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Avenarius, Ferdinand: Heiratsmarkt
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https://doi.org/10.11588/diglit.9028#0212
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Iahrg. 25 Erstes Novemberhest 1911 Heft Z

Heiratsmarkt

^^^.ein, der Wolff-Metternich-Prozeß darf doch nicht den andern
^/ I Sensationsprozesfen gleichgestellt werden, bei denen Fräu- und
^ ^Männlein in Spannung darüber fiebern, ob Er wirklich seinen
Namen befleckt oder nur ein bißchen bestaubt und ob Sie außer mit
dem Rittmeister T noch mit dem Leutnant N zu tun gehabt hat.
Gewiß, auch diesem neuesten Prozeß hat die Freude am Klatsch seinen
Zulaus verschafft, nichts Besseres. Aber es ist, als lagere über ihm
der Brodem unsrer ganzen Gesellschastssäulnis, aus so vielen Kloaken
wogen seine Düfte zusammen. War es nicht mitunter, als werde
hier von der „Simili-Kultur", über die ein andrer in der Rundschau
dieses Heftes spricht, eine geradezu künstlerische Satire gezeichnet?
Das einzelne dachten wir uns ja meistens so, aber zu welchem Ge-
samtbilde schlossen sich alle Szenen! Einen buchstabengetreuen steno-
graphischen Bericht von diesen Verhandlungen, und für ganze Ge-
biete siele die Klage um einen Iuvenal dahin!

Alles aber in diesem Prozeß hatte zur Lebenskraft eine Voraus-
setzung: Geldheirat, wie ja der Herr Graf zu gleicher Zeit zwischen
vier guten Partien schwankte. Geldheirat und Heiratsmarkt. Pri-
vaten und öfsentlichen. Lassen wir nun den Prozeß und betrachten
wir einmal unsern ösfentlichen Heiratsmarkt sür sich. Darüber ein
Aufsatz an leitender Stelle im Kunstwart, ist das nicht unerhört?
Eben, weil es „unerhört" ist, geschieht's. Nm wuszufallen da-
mit, aus keinem andern Grund. Was wir dahinten in der Rund-
schau zur Sache gesagt haben, ist ja bis jetzt ohne den allerleisesten
Widerhall geblieben. Nicht nur bei den vielen Interessenten an
Annoncengeschästen, auch im großen Publikum, denn das ist durch
Gewöhnung gegen das Ekelhaste und Schädliche des gedruckten Heirats-
marktes abgehärtet, das deshalb nicht minder widerlich und schädlich
bleibt. „Heiratsannoncen", man lächelt oder macht einen Witz, wenn
man sie sieht, und legt das Blatt dann als etwas weg, über das man
sich nicht weiter „aufzuregen" braucht. Ich will den Heiratsmarkt
in den Zeitungen auch nicht zu einer Sache von allererster Kultur-
bedeutung ausbauschen, aber etwas mehr „ausregen" könnte man
sich immerhin über ihn. Nnd wär es nur, um ihn nach den Forde-
rungen der Ausdruckskultur daraushin anzusehen, was er von unsrer
vortresflichen Zivilisation als Symptom aussagt.

Das Weib, das sich für einen Abend verkauft, nennen wir Dirne,
die Mätresse, die das sozusagen im Abonnement auf längere Zeit
tut, steht uns auch nicht höher, kann einer, dem die Gedanken und
die Gesühle aus geraden Wegen gehn, das Weib oder den Mann
besser bewerten, die sich aus Ehezeit verhandeln? Auch die sreieste
Moral in geschlechtlichen Dingen wird das Hingeben des Leibes gegen
materiellen Lntgelt als gemein ansehn und das Verkausen nicht
nur des Leibes sondern auch der besten Lebensfreiheit: der Frei-
heit bei der Lrgänzung des eignen Menschenwesens, doppelt.

h Novemberheft Vü
 
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