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Hcst 6. IRufUrrte FamUren-Dertung. Iahrg. M5.


Roman

i

eit.

„Die

hätte sprechen können, um sich über die Vorgänge zu
orientiren! Aber er war sofort nach seiner Einlieferung
von ihm getrennt worden, und nun lief er schon stunden-
lang, wie eine gefangene Hyäne in ihrem Käfig, auf
und ab und zerbrach sich den Kopf, wie er sich aus der
verwünschten Lage wieder befreien könne.
Eine Holzbank, die an den Wänden hinlief, war
das einzige Mobiliar des Lokals, in dem er sich befand.
Wenn er hinaufftieg, so konnte er gerade bis an die
Eisenstäbe des Fenstergitters greifen und sich durch die
Muskelkraft hinaufziehen, um hinaussehen zu können.
Das Fenster ging auf einen erleuchteten, von hohen
Gebäuden umgebenen Hof. Selbst wenn also die Eisen-
stäbe nicht so unmenschlich fest gefügt gewesen wären,
so hätte ein Fluchtversuch durch das Fenster noch immer
keine Aussicht auf Erfolg geboten. Und doch mußte er
fort, fort von hier, so rasch wie möglich, sonst — war
er verloren!
Kalter Schweis; trat auf seine Stirn, und seine
Züge nahmen eine grauenhafte Verzerrung an. Das
fieberhafte und nutzlose Nachdenken schien ihn verrückt
zu machen. Draußen schlug es Stunde auf Stunde

Anton Areiherr v. Saurma-Iettsch,
deutscher Botschafter bei den Vereinigten Staaten von Nordamerika. (S. 113)

von den Thürmen, erst elf, zwölf, dann eins, zwei!
Wie bald war eine solche Nacht dahin, und noch immer
keine Rettung!
Da hörte er plötzlich, wie draußen auf dem eben-
falls mit Steinen gepflasterten Gange müde, schleppende
Schritte herankamen. Gleich darauf wurde das Schloß
seiner Thür geöffnet und ein Mann herein geschoben.
„Da! Hier herein!" sagte der Wärter schlaf-
trunken. „Ihr könnt euch Beide gegenseitig Gesellschaft
leisten."
Dann fiel die Thür krachend wieder in's Schloß,
der Wärter drehte den Schlüssel um — und der Tos-
kaner hatte Gesellschaft.
Der Neuangekommene war ein Mann von etwa
zwei- bis vierundvierzig Jahren, mittelgroß, hager, mit
dünnen, schwarzen Haaren und blasser Gesichtsfarbe.
Seine Kleidung war schmutzig, sein Rock abgetragen
und schäbig, an Aermeln und Knopflöchern zerrissen —
eine jener unzähligen verkommenen Existenzen, wie sie
alle großen Städte aufzuweisen haben.
Woher?" fragte der Toskaner.
Einfaltspinsel!" murrte der Neuling schläfrig
und faul. „Als ob ich auf der spanischen
Treppe nicht ebenso gut hätte schlafen können,
wie hier. Der Schafskopf. Konnte er mich
nicht liegen lassen, wo ich nun einmal lag?"
So verworren und unklar die Worte auch
hervorkamen, so wurde der Toskaner doch rasch
daraus klug. Das war einer jener Leute, die
von einem allzu eifrigen Nachtwächter schlafend
im Freien aufgefunden und nach der Polizei
geschleppt worden waren. Der Glückliche!
Wenn es Tag wurde, so war er nach einem
kurzen Verhör, einer Verwarnung und schlimm-
sten Falles, wenn er etwas besaß, nach Erle-
gung einer kleinen Ordnungsstrafe wieder frei.
„Wie kalt das hier in dem verdammten
Loch ist!" murrte der Mann nach einer Pause
weiter, während er sich auf der Bank aus-
streckte. um weiter zu schlafen.
Der Toskaner betrachtete ihn aufmerksam.
Er schien ihn trotz seiner elenden Lage zu be-
neiden.
„Wollt Ihr einmal einen Schluck trinken?"
fragte er.
„Habt Ihr was hier?" entgegnete der
Andere und sprang wieder auf.
Der Toskaner zog seine Flasche, die er
noch kurz vor seiner Verhaftung hatte frisch
füllen lassen, aus der Rocktasche hervor. Bei
der flüchtigen Visitation, der man ihn bei
seiner Einlieferung unterworfen hatte, mußte
sie den Beamten entgangen sein, da man sie
ihm sonst gewiß nicht gelassen hätte.
„Da! Nehmt!" ermunterte der Toskaner
seinen Leidensgefährten. Dieser nahm auch
begierig einen derben Schluck.
„Donnerwetter! Das ist 'was Gutes, Ka-
merad!" sagte er hustend, infolge des scharfen
Getränkes. Er schien eben auch nicht beson-
ders verwöhnt zu sein.
Der Toskaner trank auch, aber mehr zum
Schein.

von
WoLdrmar Urban.
(Fortsetzung.)

(Nachdruck verboten.)
Zwölftem Kclpitsk.
m fatalsten und gleichzeitig auch am über-
raschendsten und unerklärlichsten war diese
s plötzliche Wendung der Dinge für den
Toskaner. Er hatte zuviel auf dem Kerb-
holz, als daß ihm gleich klar gewesen wäre,
weshalb er eigentlich verhaftet worden war,
und wieviel man von seinen dunkeln
Wegen wußte. War er wegen seiner klei-
nen Geschäftchen mit falschen Fünf-Lirescheinen verhaf-
tet oder wegen anderer, noch weittragenderer
Dinge? Er mußte das Letztere aus den
Aeuszerungen folgern, die bei seiner Verhaf-
tung gefallen waren. Die Geschichte konnte
ihm an den Kragen gehen oder ihm doch
fünfzehn bis zwanzig Jahre Zuchthaus ein-
tragen, was schließlich dasselbe war. Denn ob
er gleich exekutirt wurde oder sich im Bagno
zu Tode arbeiten mußte, kam am Ende auf
Eines heraus.
Man hatte ihn bei seiner Einlieferung
nach seinem Namen und etwaigen Legiti-
mationspapieren gefragt. Er hatte angegeben,
Benvenuto Maresco zu heißen, da er aber
keinerlei Legitimation bei sich führte, so wollte
Niemand glauben, daß dies sein richtiger
Name sei. Ein weiteres Verhör hatte nicht
stattgesunden, wahrscheinlich weil es schon
zu spät- am Abend und die Untersuchungs-
beamten nicht mehr anwesend waren. Er hatte
das also morgen zu erwarten. Was sollte er
den Leuten sagen? Was durste er ihnen sagen,
ohne irgend Jemand zu kompromittiren?
Lange Zeit ging er in dem Lokal, in das
man ihn gebracht hatte, nachdenklich auf und
ab. Der Raum — offenbar zur interimistischen
Aufnahme von über Nacht Eingelieferten be-
stimmt — war ziemlich groß, der Boden
gepflastert, die Wände dick, das einzige Fenster
stark vergittert, Alles von einer bedauerlichen
Solidität und Festigkeit, wie er sich rasch
überzeugt hatte. Es war trotz aller Findig-
keit und Geschicklichkeit kein Gedanke an eine
Flucht. Zudem hatte man ihm sein Geld
abgenommen — einige vierzig Lire! Zum
Glück war kein falsches darunter gewesen,
nur bei Alfossi hatte man ein falsches Fünf-
Lirebillet gefunden.
Alfossi war offenbar von seiner Verhaf-
tung gerade so überrascht worden, wie er
selbst. Wenn er nur zwei Minuten mit ihm
 
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