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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 3 (März 1910)
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Lasker-Schüler, Else: Theater
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0025

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Natürlich ist es ein Zeichen des Fortschritts,
daß die Schauspieler den Wirtschaftssinn der Zeit
erkannt haben. Sie leben außerhalb des Qesetzes
und sind der frechsten Willkür ihrer Lohnherren
ausgesetzt. Sie werden miserabel bezahlt und
müssen ihren Idealismus noch billiger als deutsche
Schriftsteller verkaufen. Sie sind zur Bühne ge-
gangen, daß dort alles von ihnen abfalle, und der
Körper frei und streng auf der wogenden Fläche
ihrer Qefühle stehe, und bekommen nun nicht ge-
uug, diesen Körper zu ernähren.

Doch fortan sollen sie diesen Körper auch nicht
mehr frei verwalten dürfen.

Es ist reaktionär, genossenschaftlichen Geist
zu verachten. Aber fortschrittlich ist es, den Qeist
dieser Genossenschaft zu verhöhnen. Die bürger-
liche Existenz hat Qoethe nicht gehindert, den
»Faust“ zu beendigen, aber die Not ließ Mozart
Hungers sterben, und seiner kalten Hand entfiel die
Peder, die das Lacrymosa schrieb. Die bürger-
liche Existenz sichert das geistige Leben. Sie ver-
nichtet es nie. Sie vermindert nur den Ruhm
iener, die auch ohne den Hunger nichts geleistet
hätten. Der Hunger rettet unter allen Umständen
die Qloriole. Deswegen wird er meistens ge-
Priesen.

Die Genossenschaft verlangt natürlich mehr,
als sie braucht. Den Schauspielern geben, was sie
Wollen, hieße die Direktoren vernichten. . Ohne
Umsturz unserer Gesellschaftsordnung würde es
nicht gehen. Herr Nissen will aber vorläufig nur
die Unordnung zwischen den Geschlechtern be-
heben.

In diesen geschickt inszenierten Kämpfen um
materielle Hebung des Standesgefühls wurde das
Sehlagwort Prostitution am lautesten erhoben.
Wenn wir Bürger werden wollen, dachte sich
Nissen, müssen wir die Bürger gewinnen. Und
schlafen die sozialen Instinkte, so wachen doch die
moralischen.

Herr Nissen ruft also die Moral zur Besserung
der Qagen auf. Er bekämpft die niedrigen Qagen,
Weil sonst die Moral verdirbt. Eine Hand wäscht
die andere.

Herr Nissen will zunächst verhindern, daß eine
Schauspielerin ihre Liebe verkauft, um leben zu
können. Herr Nissen will verhindern, daß eine
Schauspielerin aus dem Qolde ihrer gebenedeiten
Schönheit Gold schlägt, um schönere Kostüme
besitzen zu können. Herr Nissen will verhindern,
daß eine dem Direktor gefällige Schauspielerin
bessere Rollen spielt als die ihm ungefällige. Herr
Nissen will verhindern, daß der Direktor nur ein
Mensch ist und will ihm verbieten, sich von einer
Krau, mit der er täglich in Berührung kommt, ver-
führen zu lassen.

Herr Nissen will mit einem Wort die Weltord-
Jiung umstürzen. Er hatte zwar die Frauen als
Nächstbeteiligte bisher gar nicht gefragt, ob die
Prostitution abgeschafft werden soll. Aber er hat
sjch ihre Antwort wohl denken können. Die häß-
l'che Majorität, die gegenüber der schönen Minori-
tät einfach nicht mitkam, hätte zugestimmt und die
tveniger wahrheitsmutige Minderheit hätte nicht
die einzig aufrichtige Antwort gegeben: Wir wollen
das Ding, aber nicht den Namen, der es ver-
Schandelt.

Es ist wahr, daß viele Schauspielerinnen früher
von der Not als vom Temperament der Liebe zu-
Seführt werden. Deren Liebe ist allerdings Prosti-
fution. Aber ihr Mangel an Feuer macht sie für
'hren Beruf ebenso ungeeignet wie für die Liebe.
Sie weichen vor der rohen Gewalt des Lebens ins
Himmelreich des Liebens und erleiden die Alltags-
tragik einer unglücklichen Berufswahl. Für sie
^llein wird von Nissen gekämpft: für die Moral der
Heberflüssigen; gegen die Prostitution der Ueber-
flüssigen.

Denn das muß man Herrn Nissen eindringlich
^iederholen: solange es Frauenarbeit gibt, wird es
''Prostitution“ geben. Solange die Frau den Beruf
Piit Männern teilt, und solange Frauen Frauen und
Männer Männer sind, wird sich das Geschäftsleben
P i e g a n z vom Geschlechtsleben trennen lassen.
Hat die Natur der Frau geschenkt, zu geben und zu
versagen, so wird die Frau ihr Vorrecht der Schön-
heit immer im freien Körperwettbewerb gegen die
reizIosere Frau ausspielen. Und ist ihre Hingabe
a«s Ehrgeiz an einen ungeliebten Mann nicht wah-
rer Idealismus? Wohl ist es ein gemeines Macht-
JJiittel des Direktors, die Rolle dem Leib zu ver-
haufen. Aber das freiwillige Angebot der Frau
hornmt ihm, gepanzert gegen das eigene Ge-
schlecht, mit einer Waffe entgegen, die sich die

Schönere nie entreißen Iassen wird. Sagen hundert
niedrige Männer: „Sie wollen die Rolle! Wohl-
an, hier ist mein Schlafzimmer“, so sagen hundert
ehrgeizige Frauen: „Hier ist mein Schlafzimmer!“
Und denken, „nun muß er mir doch die Rolle
geben!“ Aber Herr Nissen sieht das nicht ein,
verlangt von den Direktoren in solcher Notlage
schlimmstenfalls Zechprellerei und rechnet auf De-
nunzianten und Hysterikerinnen, die ihm schon
Schuldige zuschanzen werden.

Herr Nissen hätte also zunächst nicht den Di-
rektoren die N a c h f r a g e, sondern den Schau-
spielerinnen das Angebot zu verbieten. Wenn
manches arme Mädchen vor soviel Macht, so ist
mancher arme Direktor vor soviel Schönheit wehr-
los, und in diesem Konkurrenzkampf um Rolle und
Liebe wird immer das entscheiden, was Nissen und
die Pfeiffer nach seiner Flöte schamloserwtise
Prostitution nennen.

Aber Herr Nissen bekämpft nicht nur die Prosti-
tution wegen zu kleiner Rollen, sondern auch die
Prostitution wegen zu kleiner Gagen, und hier be-
ginnt er, einem Komödiendichter großen Stiles
dankbare Stoffe vorzuspielen. Er kompromittiert
das gute Schauspielerrecht auf bessere Behandlung
mit einer Moral, die nicht aus dem Wolken-
kuckucksheim, sondern einfach aus Böotien
stammt, und will uns einreden, daß die Direktoren
überhaupt soviel zahlen können, daß diese soge-
nannte Prostitution iiberflüssig werden wird. Wenn
er es bisher glaubte, so wird er nun, nach dem am
eigenen Leib erlebten Bankerott, selbst zu zwei-
feln beginnen. Aber was kümmert das uns? Seine
Moralphrasen fälschen die großen Züge der Bewe-
gung und schaffen der Führung, nicht dem Ziel des
Kampfes Feinde. Deswegen miissen sich alle
Freunde der guten Schauspielersache gegen ihn und
seine Anhänger verbünden. Eine Staubwolke auf-
gewirbelter Unsittlichkeiten umhüllt den entrüstc-
ten Weltverbesserer und aus ihr tönt seine Stimme,
die den Schauspielerinnen die Not begehrlich
machen will, die beten lehrt. Eine liebe Stimme
und rührende Harmonie aus Bellamys zweitem
Jahrtausend. Aber bis dahin werden sich die be-
dürftigen und schönen Frauen des Theaters und
aller anderen Berufe noch immer für die Not, die
heben lehrt, entscheiden.

Theater

Insbesondere „Judith“

Es steht heute fest: Die Vollendung Hebbels
sind nicht die Hebbel-Fortsetzer, die Vollendung
Hebbels ist Jbsen. Genie ist nicht mehr (oder nicht
nur) Objektivität, sondern Intensität. Ibsen hat den
Weg des Psychologen Hebbel beschritten und auf
diesem Wege als erster Dramen, genauer Theater-
stücke gedichtet. Er liat die undramatische, anti-
theatralische Charakterisierung der handelnden Per-
sonen und die (ebenso undramatische) Motivierung
ihrer Taten in den geheimsten Falten des Dramas
versteckt, und die Handlung — freilich eine ganz
neue Art Handlung — auf die Oberfläche gebracht.
Er hat den Monolog ermordet und die nahen Ver-
wandten des Monologs, den Vertrauten und das
Beiseitesprechen verbannt und er hat seinen Ge-
schöpfen verboten, ihre Mitgefühle zu charakteri-
sieren, wenn sie damit nicht gleichzeltig der Hand-
lung dienten.

Will man nun Ibsen nicht aufführen, will man
ein literarhistorisches Experiment machen und
Hebbel oder seinen verstorbenen und lebenden Epi-
gonen (pardon: Fortsetzern) durchaus auf die Bühne
helfen, so muß man ihre toten Psychologismen in
Dialogform durch Zurückdrängung der Elemente,
die der große Theatraliker Ibsen beseitigt hat, und
durch kraftvolles Vorschieben der Handlung — bei
Hebbel selbst im Sinne Ibsens — mit dramatischem
Leben zu erfüllen versuchen.

Man braucht nicht erst Hebbels Tagebücher zu
lesen, um zu erfahren, daß gerade Judith ein völlig
phantasiearmes StückberechnenderPsychologie ist.
Wem erbebte nicht das Herz vor Mitleid, wenn er
die Hilflosigkeit sieht, mit der im ersten Akt Holo-
fernes durch kleine Episoden und große Monologe
sich selbst charakterisiert, um die Tat der Jüdin
notwendig zu machen:

„Ich bin Mene-Laus der Gute, Laus der Gute,
Laus der Gute . . .”

Wenn im zweiten Akt Judith vortritt und er-
klärt: Da ich den Holofernes im Schlußakt, nachdem

er Herr meines Leibes gewesen, ermorden muß, so
,-muß ich Jungfrau sein, denn „nur aus einer jung-
Jräulichen Seele kann ein Mut hervorgehen, der sich
dem Ungeheuersten gewachsen fühlt“ (Tagebücher
Bd. II Nr. 1872); „Aber — eine jungfräuliche Seele
kann alles opfern, nur nicht sich selbst“ (ebendort),
deshalb muß ich zwischen Jungfrau und Weib in der
Mitte stehen und erlaube mir, die Geschichte meiner
seltsamen Ehe zu erzählen. Endlich die Volks-
scenen im dritten und fünften Akt, die dem Drama
nicht weiter nützen, als darin, daß sie Darstel ungen
der Volksstimmung geben — seit Ibsen unerlaubt,
daher auf der Bühne heute ungewohnt —, in die
Judith an den verkehrtesten Stellen eingreift.

Max Reinhardt mußte diese Judith reizen.
Wenn auch eine Unzahl fachunverständiger En-
thusiasten Reinhardts Schöpfungen über die Maßen
priesen, sechsunddreißig Stunden nach jeder Pre-
miere des deutschen Theaters brachte es dle Sonne
(verzeihen Sie, Herr Doktor, die grobe
Schmeichelei) in den „Tag“: „Direktor Reinhardt
versteht nichts vom Komödie-Spielen.“ Und auch
wir zwei oder drei weniger genannten Kritiker er-
hoben unsere Stimmen und erklärten: Direktor
Reinhardt versteht nichts vom Komödie-Spielen.
Uebermenschliche Arbeit kann ohne das konzen-
trierende Genie kein Kunstwerk schaffen; der Auf-
wand an Dekorationen, mögen die Entwerfenden
noch so gut ausgesucht sein, kann den völligen
Mangel an Innenregie nicht verdecken.

Max Reinhardt konnte diese Judith reizen.
Hier mußte er zeigen, daß er nicht nur der In-
spizient seines Theaters sei. Bei der Judith stand
und fiel alles mit der Innenregie. Und alles fiel.
Es war seit Reinhardts Faust die unerhörteste Zu-
mutung für den kritischen Zuschauer. Im Faust
konnte man entschuldigen: das Interesse an der
Neuartigkeit der Ausstattung, der schwere erfolg-
lose Kampf gegen die Statisterie nahm die Kraft des
Regisseurs so in Anspruch, daß er dariiber vergaß,
den Faust zu inscenieren. Aber worüber will er
die armseligen drei dramatischen Momente der
Judith vergessen haben? Etwa über den modernen
Inletstoffen, die das gnädige Fräulein angeblich
gewebt hatte? Oder über den drei farbenarmen
Teppichen aus dem Kaufhaus des Westens, in dem
im teppichreichen Osten gelegenen Zelte des
Holofernes?

Es gibt nämlich eine Art, wie man jedes mög-
liche Leben, das aus der blutlosen Gedankenfülle
und psychologischen Unerbittlichkeit dieses dra-
matischen Zwitterwesens emporächzt, im Mutter-
leibe töten kann: Man nimmt seiner Seele Kriegs-
lärm, seinem Körper die dritte Dimension. AIso
wird es am schnellsten eine groteske Karikatur
seiner selbst. Um dies zu erreichen, strebte Rein-
hardt nach möglichster Annäherung an die Wir-
kungen der Reliefbühne. Er ignoriert zum Beispiel
die wichtige Vorschrift des ersten Aktes: „Das
Lager des Holofernes. Vorn, zur rechten Hand, das
Zelt des Feldhauptmanns. Zelte. Kriegs-
volk und Getümmel. Den Hintergrund
schließt ein Gebirge, worin eine Stadt sichtbar ist.“
Wie kann man die Sinnlosigkeit rechtfertigen, auf
das Soldatenmilieu und auf das Kriegsgetümmel zu
verzichten? Worin sollen denn die Reden des
Holofernes sonst untergehen? Im zweiten Akt
sitzen Judith und Mirza nicht am Webstuhl, sondern
laufen umher und wechseln angstvoll die Plätze, als
ob sie im Augenblick etwas ganz anderes vorhätten,
als sich Geschichten zu erzählen. Und wie anders
soll die gute Rezitation der Durieux dramatisch
möglich gemacht werden, als durch die Einförmig-
keit der Arbeit des Webens? Nie aber sah noch
mein Auge oder meine Phantasie ein vor Hunger,
Durst und Angst fast wahnsinniges Volk so sinn-
und zwecklos, so unbekümmert um die Darsteller
der Sprechrollen die Kulissen mit so spiralförmig
verbogenen Armen durchschlafen wie bei dieser
Schandkoniödie im ersten Theater Berlins.

Und wiederum konnte man mif dem immer
deutlicheren Bewußtsein diesen Tempel der Kunst
verlassen, daß man aus dem Hause eines reichen
Mannes ging, der seine eigene trostlose Leere in der
Einrichtung seiner Zimmer, die er sich von Pro-
fessor Bruno Paul entwerfen ließ, zu ertränken
sucht. Sigmund Kalischer

Der Eisenbahnräuber

Vielleicht gehe ich selbst noch einmal in den
Schwank, sein Humor hat doppelte Lebenskraft,
man kann sich zweimal totlachen. Es fällt mir gar
nicht ein, den Inhalt des kleinen Lustspiels zu ver-
raten, nur möchte ich seinen famosen Darstellern

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