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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 4
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Benn, Joachim: Hermann Stehr
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Sutter, Otto Ernst: Die schwarze Köstlichkeit: aus den Notizen eines "Salpeterers"
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0149

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Hermann Stehr.

sonderii ciii Gewebe voii Meiischcn imifaßt und aus dcni
drci Menschen fast gleichniäßig stark beleuchtet, so daß
ein synibolisches Weltbild entsteht. Die Hauptheldin
ist wohl wieder eine Frau. die, noch ininier grüblerisch
und in sich geschlossen genug, ihr Schicksal von dem ihr
angetrauten Mann enipfängt, doch ist dieser Mann nun
nicht ein Bürger, dessen Leben taktmaßig zwischen Heini
und Geschäft hinpendelt, sondern ein energisch aufwärts
strebender Kleinbaucr, der nicht vor Verbrechen zurück-
schcut, woraus eine einigermaßen lebendige Handlung
folgt. Außerdem sind die naturalistischen Dialektreden
gegen früher zusammengeschrumpft und die rein er-
zählerischen Partien, die im Wachsen sind, iiunmehr in
einem annehnibaren Hochdeutsch geschrieben; zum ersten
Male liegtschließlich der Handlung ein wirklich klar heraus-
gearbeitctcs Weltgefühl zugrunde, cin Gefühl nämlich
für die dunkle „Verstrickung" des Lebens, wie wir es
scltsamcrweise ganz verwandt in Hofmannsthals „Kauf-
mannssohn" finden, und dics gibt auch schwächeren
Szenen eine ungewohnt starke Lebensluft. Dennoch
niangelt cs an letztcr künstlerischer Rcife durchaus:
So wächst die ganze, spätcrhin logisch gefügte Handlung
aus unklarcn und unnotwcndigen Anfängen heraus, da
dunkle Seelcnregungen und ein höchst kompliziertcr
Iufall und cin seltsam übertriebenes Ehrgefühl noch
imnicr nicht gcnügend erklaren, warum die Frau cinen
uiigeliebten Mann heiratet, an dem sic zugrunde geht:
noch immer herrscht die naturalistische Lebenstheorie
über wirkliche Lebensbeobachtung. Die allzu zahl-
reichcn Schilderungen seelischer Stimmungcn cntbehrcn
trotz der Menge der vcrwcndeten Metaphcrn nach wie
vor rechtcr Realistik, wie denn die einzige Methode
stimmungsvoller Naturschilderung noch immer die ist,
nach Art der romantischen Epigonen dic Natur in höchst
billiger Weise zu anthropomorphisiercn. Wie früher
ist die Sprache zu leicht laut und crschüttert in ihrcn Aus-
drücken; das Auftreten von Menschcn höhcrcr Bilduugs-
stufe wird unvermutet karikaturhaft ausgcmalt, womit
die Einhcit der Lebensanschauung peinlich durchbrochen
wird; und den cchten logischen Satzbau klassischer deut-
scher Erzählungskunst erkämpft sich Stehr ebenfalls erst
in seinem letzten Buche.

Daß dieses, der inr Jahre 1909 erschienene Ent-
wicklungsroman „Drei Nächte", von dem Verfasscr des
„begrabenen GotteS" stammt, ist kaum erkennbar, so
hoch stcht es über dem gerade in dem, was dessen größte
Schwache ausniachte, in der sprachlichen Wiedergeburt
dcr Welt, in der bewußten Verwendung dcs einzelnen
Wortes und in der Klarheit in der Wahl der Bildcr wie
im Bau der Sätze. Aus weiblichen, ja weibischen, aus
vagen und traumerischen Anfängen heraus ist Stehr
nun zu einem Manne geworden, dessen männlicher Griff
fast verblüffend stark svwohl in der Art zu spüren ist,
wie ein ganzes Menschenschicksal auf seine Logik gebracht
wird, als in der Art, wie ohne breite Stimniungsnialerei
jeder Augenblick seine vollkommene, manchmal eine
panische Deutlichkeit bekommt. Die naturalistische Ver-
gangenheit hat auch im üblen Sinne noch Spuren
hinterlassen: Au denen muß man die Rahmenerzählung
um die Haupterzählung während der „drei Nächte"
rechnen, denn ein leichter Hauch von Banalität, ja noch
von Halbbildung schwebt hier und da über ihr; obwohl

sie klug mit dcr Hauptcrzählung vcrknüpft ist, wärc es
stilvoller gewesen, die eigentliche biographische Jch-
erzählung einhcitlich von Anfang bis zu Ende durch-
zuführen, wofür es ein schönes Beispiel aus den neuesten
Zeiten gibt. Anderseits läßt die seelische Reife der
Darstellung doch noch sehr wohl die Möglichkeit tieferen
Eindringens in die neuentdeckten Lebensbezirke zu:
Das Bußthema, das hier mit leisen, fast ängstlichen
Worten kaum mehr als berührt wird — schon in der
Hauptszene von „Leonore Griebel" taucht cs ver-
schwommen auf — wird einnial in den Mittelpunkt ge-
stellt werden müsscn; wenn seine Lösung dcn heutigen
Menschen tiefer beruhigt, als die heidnische Goethes,
könnte eine Jahrhundertdichtung vielleicht auch in der
Form des Romans entstehen. Von der Rahmenerzählung
abgesehen — der Name des Haupthelden Faber ist
peinlich farblos — ist aber schon dieses Buch etwas
Fertiges und Reifcs: Dcr Ernst, mit dem eine junge
Seele aus den engeren und engsten in die weiteren und
weitestcn Kreise des Lebens geleitet wird, bis es, immer
offeneren und verstehenderen Blickes, mit dem ganzen
Leben schließlich Körper an Körper steht und ringt und
das Geheimnis menschlicher Eristenz beim Anblick cineö
Tisches und Stuhlcs nicht weniger erlebt als beim An-
blick eines menschlicheii Antlitzes: wie das durchgeführt
ivird, ohne daß dcr junge Mensch jemals etwas Änderes
ist als cin kleines Kind, ein Schüler, ein Präparand, ein
Seminarist, ein Lehrer, das ist kaum noch zu übertreffen.
Dabci entspricht dem Ernste der Lebenscrfassung jetzt
die Reife des Ausdrucks; zum crsten Male jubelt in
einem Buche Stehrs die Lust, sich ausdrücken, die Welt
rcstlos in Worte fasten zu können, und die Freuden der
Sprache werfen so endlich auch bci ihm ihre Schleier
noch über die dunkelsten Stunden. Auch hier sind Bilder,
aber sparsamer verwendet verbinden sie weitest ausein-
anderliegende Gebiete des Lebens mit einer über-
legenen Treffsichcrhcit; auch hier ist Mystik, aber sie
bleibt nicht als dunkleS Gefühl in der unklaren Seele
des monographisch beschriebenen Helden, durch tausend
Metaphern mühsam vermittelt, sondern lebt in den Hand-
lungen, in dcr Luft der Gcschehnisse, schwebt um Haus
und Bank, die doch ganz real beschrieben sind. Dic
gespcnstische Neuartigkcit, die dieDinge wie die Menschen
unter dem Auge Stehrs bekonimen durch die Energie,
mit der er sein Wesen auf sie überträgt und wirklich sein
persönliches Weltbild durchformt — denn es gibt eine
Erkenntniü der Welt nur mittelst individuellen Schauens
— erinncrt an mehr als ciner Stelle an die gespenstische
Neuartigkeit, die die Welt unter dem Auge van Goghs
bekam; womit ein Urteil gefällt ist, das für den keiner
nähercn Ausführung bedarf, der heute als Hcutiger
künstlerischer Erlebnisse fähig ist. Joachim Benn.

ie schwarze Köstlichkeit.

Aus den Notizen eines „Salpeterers".

Von Otto Ernst Sutter.

„.... Wenn an einem Winterabend mein Vater die
wurmstichige Truhe, in der Patronen und Pulver ver-
wahrt lagen und allerlei Geräte, wie ein Büchsenmacher

ni
 
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