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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 18
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Die Heilung der Kritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0280

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Lvvettes Zunt-Dett t693.


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16. Stück.

Lrscbclnt

Derausgeber:

Ferdtnund Nvenartus.

Kcsrellpreis:
vierteljährlich 2 1/2 Mark.

6. Zabrg.

Die Deilung der Ikritik.

Treibet das Handwerk nur fort! Wir können 's euch freilich nicht legen;
Aber ruhig, das glaubt, treibt ihr es knnftig nicht mehr!

o alt wie die Kritik sind ihre Mängel: der
Kritiker ist sozusagen auch ein Mensch, und
kein Mensch ist unsehlbar, wenn sich auch zn
allen Zeiten literarische Päpste aufgeworfen
haben, denen es nicht an Gläubigen fehlte. Eine dauernde
öfsentliche Gefahr konnte indeß so lange nicht aus dem
Mißbrauch der Kritik erwachsen, als das Publikum noch
kindlich naiv genug war, die Bücher, welche es kennen
lernen wollte, selbst zu lesen. Seitdem es zum „großen"
Kinde herangewachsen ist, schämt es sich seiner Unwissenheit,
will alles kennen, -— und, mein Gott, es wird so viel
geschrieben! Doch eben wo Begrisfe fehlen, da stellt
die Zeitung zur rechten Zeit sich ein. Die an sich
bewundernswerte Organisation unseres Zeitungswesens hat
den modernen Menschen sast völlig in Bande geschlagen:
er weiß nun nicht nur, was er weiß, sondern auch, was
die andern wissen. Was semand auf dem Erdenrund
schreibt und spricht und thut, hier wird es für die wiß-
begierige „Mitwelt" gesammelt. Und das ist gnt so,
meint Meister Publikum. Wie gut, daß „unser Blatt"
über alle wichtigen Erscheinungen kurz unterrichtet, wie
gut, daß es „alles bringt"!

Es ist wahr, seitdem die Dichtung aufgehört hat,
Ausfluß eines Seelendranges zu sein, seitdem die Literatur
ein Jndustriegebiet, ein Geschäft geworden, schwillt sie in
immer unheimlicherer Weise an, und es herrscht, wie in
so vielen Berufszweigen, Überproduktion. Also -— Journal-
kritik als Führerin durch das Labyrinth der Literatur!
Ganz schön — wenn stch das Publikum nur bewußt bleibt,

Lenien.

daß es in jedem Falle Ansichten eines Einzelnen
vernimmt, die nur nach Maßgabe seiner
Urtei ls sähigkeit Wert haben. Wie aber steht
es oft um die Urteilsfähigkeit der Rezensenten? Die
amtliche Zeitung einer größeren deutschen Regierung be-
zeichnete die samosen „Vierzig Lieder von einem Deutschen"
teilweise als höher stehend, denn entsprecheude Dichtungen
Goethes. Umgekehrt schrieb vor hundert Jahren z. B.
Karl Philipp Moritz in der „Vossischen Zeitung" über
Schillers „Kabale und Liebe" die berüchtigten Worte:
„Jn Wahrheit wieder einmal ein Produkt, was unseren
Zeiten -— Schande macht! Mit welcher Stirn kann ein
Mensch doch solchen Unsinn schreiben und drucken lassen!"

Wer dauernd mehrere Blätter verfolgt — es sind
verschwindend wenige, die sich diese Mühe nehmen —,
kann nicht so leicht in Einseitigkeit versallen. Ja, doch:
gewöhnlich liest er dann Blätter derselbtu Parteirichtung. . .
Also, wer nicht nur zwei Fäden derselben Nummer zur
Hand nimmt, sindet sast Tag sür Tag Gelegenheit, dasselbe
Buch, dasselbe Stück in widersprechender Weise beurteilt
zu sehen. Wehe dem Werke, das einstimmigem Urteil
begegnet: es ist sicher überslüssig; entweder erscheint es
zu spät oder zu früh, je nachdem das Urteil einstimmig
lobend oder tadelnd lautet. Ereignete sich doch erst unlängst
wieder, daß sogar zwei persönliche und literarische Freunde
über dasselbe Buch schroff entgegengesetzte Urteile veröfsent-
lichten. Der eine äußerte sich sehr entschieden sympathisch,
während der andere apodiktisch erklärte: Noch ein solches
Buch, und der Autor ist sür immer kompromittirt. Wer

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