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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

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Heft 23
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Kretzer, Max: Objektivität und Subjektivität in der Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0359

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23.Stück.

Lrscbetnt

Derausgeber:

zferdtnand Nvenarius.

Kestcllpreis:
vierteljährlich 21/2 Mark.
Anzeigen: 3 gesp. Nonx.-Zeile -sO j)f.

2. Zabrq

GbLektivitäl uild Lubiektivität m der Dicbtuilg

-SMLLL^alzae sagt einmal: „Ls giebt Dichter, welche
und Dichter, welche ausdrücken; die
ersteren sind die glüeklicheren." !Nan könnte
diesen Ausspruch noch dahin erweitern, daß
fühlende Dichter immer subjektiv in ihrer^ Auffassung
sein werden. Aber vielleicht sind sie gerade deswegen
wirkliche Dichter. Ich will mich verbessern: sie sind
es deswegen gewiß. Der Dichter soll nicht nur ge-
sehen, er soll auch erlebt und durchlebt haben
Ls ist z. B. sehr häufig bei Zola das Unglück, daß
er zu viel sieht, und bei Dostojewski das Glück, daß
er viel durchlebt hat. Der Letztere ist daher der
„glücklichere" im Sinne Balzae's, d. h. nur in der
wirkung auf den Leser, denn im gewöhnlichen Leben
find diese „glücklicheren" höchst unglückliche Blenschen,
wenn auch im Allgemeinen die welt sehr wenig da-
von erfährt. Ls ist auch ganz natürlich: ungewöhn-
liche Größe des Gtzfühls macht die Menschen immer
unglücklich, denn das, was sie empfinden und anstreben,
steht stets im schärfsten Gegensatz zu ihrer Umgebung.

U'lan spricht jetzt so viel von der Gbjektivität in
der Dichtung und meint damit die kühle, parteilose,
sachliche, „wissenschaftliche" Beobachtung und wieder-
gabe der wirklichkeit. Diejenigen, die in ihr das
Allheilmittel erblicken, sind sicherlich keine wahrhaften
Dichter; sie werden vielleicht vorzüglich sehen, sie
werden den Ulenschen so ausfassen, wie fie ihn er-
blicken, sich über ihn vorzüglich „ausdrücken", aber
sie werden ihn noch lange nicht ergründet haben.
Der Blick in die ^eele des Andern ist nur dem ge-
stattet, der in der eigenen etwas zu finden hat. Und
um dahin zu gelangen, bedars es eines langen weges,
reich an Lnttäuschungen.

In jedem Iahre erscheint mindestens ein Dutzend
von Abhandlungen, in denen Uorschläge zur Nettung
unserer nationalen Literatur gemacht werden und in

welchen jeder der Lserren verfasser seiner eigenen
Uleinung über die „realistische Schule" Ausdruck ver-
leiht. Das Romische dabei ist, daß die meisten von
ihnen vom Nealismus als von einer ganz neuen
Runstsorm sprechen, die wohl gar erfunden zu haben sie sich
nicht selten anmaßen. So ist denn für den ober-
siächlichen Leser der „Nealismus" zu demselben un-
glückseligen Schlagwort geworden wie ungesähr der
„Sozialismus": die wenigsten haben eine Ahnung
von der tiefern Bedeutung dieser Bezeichnungen.
Das jdublikum ist heute ebenso sreigebig mit dem
worte „realistisch", wie es vor dreißig Zahren mit
dem worte „romantisch" war. Die worte haben
sich mit der Wode geändert, oom Denken dabei kann
kaum noch die Uede sein. „Nomantisch" war früher
Rarl Woor, heute ist er Dank der Weininger „rea-
listisch" geworden. Als „romantisch" wurde zu Groß-
vaters Zeiten irgend eine Lhe zwischen einem Grasen
und einer Romödiantin bezeichnet; heute findet man
dergleichen „realistisch". Bei all'dieser „wortklauberei",
die von jeher in der Lntwicklungsgeschichte der Deut--
schen eine große Nolle gespielt hat, ist das Rein-
Wenschliche, das seit undenklichen Zeiten den eigent-
lichen Rern einer Dichtung, falls sie diesen Namen
verdiente, gebildet hat, und bis in alle Lwigkeit
bilden wird, am ^chlechtesten weggekommen.

wlan sieht nicht mehr den wlenschen an und für
sich, sondern man erblickt in ihm den vertreter seines
Berufes, den Träger seiner Rolle, seiner Rleidung;
man läßt ihn nicht mehr aus sich heraus sich entwickeln,
sondern man diktirt ihm die chandlungen, gleich Ras-
perl, der seine Warionetten an der Strippe führt.
Und das wird dann „über den Dingen stehend,"
vuIZo „Objektivität" aliag „Nealismus" genannt. Und
doch ist jede wahrhaft große Dichtung zu gleicher
Zeit eine große Tharakterstudie gewesen, die zumeist




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