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Open AccessStudiendesign und Methoden

Studienprotokoll für eine randomisiert-kontrollierte Studie zur Untersuchung der Cue-Exposure in der virtuellen Realität

Herausforderungen und Ausblick

Published Online:https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000812

Abstract

Zusammenfassung:Zielsetzung: Die „Cue-Exposure“-Therapie (CET) ist eine Intervention, die zur Rückfallprävention bei Substanzgebrauchsstörungen genutzt wird, um zu lernen, die automatisierte Reaktion auf suchtrelevante Reize (Cue-Reaktivität) zu habituieren. Die Effektivität der CET ist moderat; Gründe dafür und Möglichkeiten, diese in der virtuellen Realität (VR) zu verändern, werden diskutiert. In diesem Artikel wird die Entwicklung eines Studienprotokolls für eine VR-CET Studie zusammengefasst, welches eine Pilotstudie mit n=17 Rauchern beinhaltet, welche unterschiedliche Situationen hinsichtlich derer Rückfallwahrscheinlichkeit bewerten sollten. Der Artikel schließt mit einer Diskussion von Herausforderungen und Ausblicken im Bereich der VR-CET. Methodik: Es wird das Studienprotokoll einer randomisiert-kontrollierten Studie vorgestellt, in der vier unterschiedliche VR-CET-Szenarien genutzt werden sollen. Schlussfolgerungen: Die VR-CET erlaubt es, Einschränkungen der praktischen Anwendung der CET in der Rückfallprävention bei Raucher_innen zu überwinden. Die Notwendigkeit und die Möglichkeiten zur Individualisierung der VR-CET werden herausgearbeitet; damit in Zusammenhang stehende Schwierigkeiten werden thematisiert. Die Validierung der Ergebnisse aus VR-CET Studien ist erforderlich, um die praktische VR-CET-Anwendung zur Rückfallprävention bei Abhängigkeitserkrankungen zu optimieren.

Study Protocol for a Randomized-Controlled Study Investigating Cue-Exposure in Virtual Reality: Challenges and Chances

Abstract:Aim: Cue-exposure therapy (CET) is an intervention for relapse prevention in substance use disorders aiming at the habituation of the automatized response to substance related cues (cue-reactivity). Effectiveness of CET is moderate; possibilities to overcome some limitations through virtual reality (CR) are discussed. This paper summarizes the development of a study protocol for a VR-CET study, including a pilot study with n=17 smokers who rated the relapse probability of high-risk relapse situations. The paper closes with a discussion of obstacles and perspectives in the field of VR-CET. Method: The study protocol of a randomized-controlled trial using these scenarios is presented. Conclusions: VR-CET allows to overcome practical limitations of CET in relapse prevention in smokers. The need of and possibilities to individualize VR-CET scenarios and their boundaries are discussed. A validation of the VR-CET results is required to improve the practical VR-CET application in relapse prevention in substance use disorders.

Einführung

Die Prävalenz des Tabakrauchens ist in Deutschland mit 35,5 % sehr hoch (Stand 12/2022, https://www.debra-study.info/). Das Zigarettenrauchen hat massive gesundheitliche Konsequenzen – trotz des Wissens um die gesundheitlichen Folgen des Zigarettenrauchens erreichen Rauchende bei spontanen Aufhörversuchen mit 5 % nur geringe langfristige Erfolgsquoten (Batra et al., 2022). Lediglich eine leitliniengerechte, professionelle Unterstützung (durch Einzel- oder gruppentherapeutische Angebote auf verhaltenstherapeutischer Basis in Verbindung mit einer medikamentösen Behandlung der Entzugssymptomatik) erhöht die Erfolgsaussichten einer Tabakentwöhnung auf ca. 35 %, ohne dass damit die aktuellen Behandlungserfolge schon als zufriedenstellend bezeichnet werden können (Batra et al., 2022).

Die neurobiologischen Grundlagen der Tabakabhängigkeit ähneln denen anderer stoffgebundener Abhängigkeitserkrankungen (Heinz, Batra, Scherbaum & Gouzoulis-Mayfrank, 2012). Ein Merkmal der Abhängigkeit ist dabei die Cue-Reaktivität – die Auslösung von Craving (Konsumverlangen) durch extrinsische und intrinsische Stimuli. Die Cue-Reaktivität ist eine automatisierte Reaktion auf Reize, die im Zusammenhang mit einem erhöhten Rückfallrisiko bei Abhängigkeitserkrankungen steht (Conklin et al., 2019). Die Cue-Exposure Therapie (CET) ist eine verhaltenstherapeutische Technik im Kontext eines Gesamtbehandlungsplans. Sie dient der Überwindung der Cue-Reaktivität und damit der Rückfallprophylaxe bei Abhängigkeitserkrankungen. CET basiert auf der Annahme, dass die Cue-Reaktivität durch Habituations- und Extinktionsprozesse reduziert werden kann (Byrne, Haber, Baillie, Giannopolous & Morley, 2019). Auf der Basis lerntheoretischer Annahmen ist CET geeignet, Suchtverlangen von suchtmittelassoziierten Reizen zu entkoppeln. Durch eine wiederholte, gezielte Exposition soll bei entwöhnungswilligen Raucher_innen die Cue-Reaktivität abgeschwächt und damit die Wahrscheinlichkeit für eine langdauernde Abstinenz erhöht werden.

Die Auslöser für das Suchtgedächtnis unterscheiden sich bezüglich der Nähe zum Konsum (Conklin, Robin, Perkins, Salkeld & McClernon, 2008). Sogenannte proximale Auslöser der Cue-Reaktivität sind Objekte, die unmittelbar mit dem Konsum in Zusammenhang stehen, z. B. bei Raucher_innen eine Zigarettenschachtel, ein Feuerzeug oder ein Aschenbecher. Distale Reize hingegen sind regelmäßig mit dem Konsum verbunden, sind jedoch nicht spezifisch für ein Konsummuster, z. B. Stress oder soziale Kontexte wie Partys. Für die Umsetzung einer effektiven CE im therapeutischen Kontext ergeben sich jedoch sowohl für proximale als auch distale Cues Schwierigkeiten: 1) Proximale Cues können nur bei legalen Drogen im therapeutischen Kontext verwendet werden, illegale Drogen erfordern optisch ähnliche legale Substanzen. 2) Insbesondere legale Substanzen werden in vielen alltäglichen Situationen genutzt, so dass die Relevanz der distalen Reize zunimmt und möglicherweise die Nutzung der proximalen Reize für die CE zur Rückfallprävention unzureichend ist.

In einer qualitativen Untersuchung bei Raucher_innen (Buczkowski, Marcinowicz, Czachowski & Piszczek, 2014) wurden drei Themenbereiche für hohe Rückfallsituationen genannt: 1) Stress und das Bedürfnis von Stressregulation durch eine Zigarette; 2) das Bedürfnis einer positiven Erfahrung beim Rauchen; 3) ein raucherfreundliches Umfeld bei der Arbeit und zu Hause. Auch andere Autor_innen beschreiben die Relevanz der adäquaten Erfassung und Berücksichtigung solcher Rückfallsituationen (Pisinger, Aadahl, Toft & Jørgensen, 2011). Diese Situationen zur Rückfallprophylaxe bei Tabakabhängigkeit aufzusuchen wird in der Praxis jedoch durch zeitliche und personelle Ressourcen limitiert.

Im Bereich der empirisch sehr gut belegten Expositionen bei Angsterkrankungen gab es Hinweise auf die reduzierte Bereitschaft von niedergelassenen Psychotherapeut_innen, die Praxis zu verlassen, um längere Expositionen in den realen Situationen durchzuführen (Pittig & Hoyer, 2018). Als Gründe werden hier durch die ambulanten Psychotherapeut_innen insbesondere praktische Gründe genannt (aufwendige Anreise, unklare rechtliche Absicherung außerhalb der Praxis, finanzielle Kosten, die nicht durch die Krankenkassen getragen werden). Die technische Entwicklung der virtuellen Realität (VR) bietet die Möglichkeit, trotz beschränkter Ressourcen distale Cues und komplexe Rückfallrisikosituationen als Auslöser für die Cue-Reaktivität in der therapeutischen Praxis standardisiert darzubieten, z. B. durch das Generieren sozialer Situationen und alltäglicher Kontexte (García-Rodríguez, Pericot-Valverde, Gutiérrez-Maldonado, Ferrer-García & Secades-Villa, 2012; Paris et al., 2011; Traylor, Parrish, Copp & Bordnick, 2011). Bei spezifischen Phobien konnte zudem auch gezeigt werden, dass die Bereitschaft zu einer Exposition in der VR im Vergleich zur in vivo Exposition bei Patient_innen erhöht ist (Garcia-Palacios, Botella, Hoffman & Fabregat, 2007). Diese vielversprechende technische Entwicklung der VR bietet also die Möglichkeit, Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung von psychotherapeutischen Interventionen wie CE oder Angstexposition im klinischen Alltag zu erleichtern.

Eine VR-basierte CE wurde schon in einzelnen Studien als wirksame Komponente in der Suchttherapie beschrieben. Goldenhersch et al. (2020) untersuchten in einer randomisierten kontrollierten Studie 120 Raucher_innen, die entweder ein Selbsthilfeprogramm mit einer „Virtual Reality Mindful Exposure Therapy“ (VR-MET) und einer begleitenden psychologischen Unterstützung erhielten oder ein Handbuch zur Tabakentwöhnung durcharbeiten konnten. Insgesamt 23 Prozent der VR-Gruppe (14/60) waren unmittelbar nach der Intervention (Kontrollgruppe 5 %, 3/60), 33 Prozent waren nach 90 Tagen abstinent (in der Kontrollgruppe hatten nur 20 % das Follow-up abgeschlossen). Pericot-Valverde, Secades-Villa und Gutiérrez-Maldonado (2019) hatten die VR-Expositionstherapie bereits als Add-on für eine kognitiv-behaviorale Behandlung zur Tabakentwöhnung untersucht und dabei unterschiedliche virtuelle Szenarien (Angebote zu rauchen durch andere Personen, alkoholische Getränke oder Kaffee als Cues) eingesetzt. Allerdings zeigte sich (trotz einer Reduktion des Rauchverlangens) kein Unterschied zwischen den Gruppen bezüglich der Abstinenz, vielmehr sogar eine höhere Rückfallquote in der VR-Gruppe. Auch Studien bei Patient_innen mit anderen substanzbezogenen Störungen (Metamphetamin, Alkohol) weisen auf eine Realisierbarkeit des Behandlungsansatzes hin, die Ergebnisse waren allerdings bzgl. des Abstinenzerfolges noch wenig überzeugend (Chen et al., 2018; Gamito et al., 2021). Insgesamt sind die Behandlungserfolge der VR-CET noch heterogen (Segawa et al., 2020), was weitere randomisiert kontrollierte Studien zur Untersuchung der Wirkfaktoren erforderlich macht.

Die Identifikation geeigneter Rückfallszenarien ist grundlegend für die Wirksamkeit der VR-CET. Für das vorgestellte Studienprotokoll einer randomisiert kontrollierten Studie zur Untersuchung der Wirksamkeit der VR-CET bei Raucher_innen erfolgte dies auf der Basis der beschriebenen Literatur und einer anonymisierten Befragung von Teilnehmer_innen mehrerer Raucherentwöhnungskurse (N=17). Die Ergebnisse dieser Befragung werden im Methodenteil beschrieben, um die kritische Diskussion der Herangehensweise zu gewährleisten. Im vorgestellten Studienprotokoll soll u. a. auch der Effekt der Verwendung distaler Cues in der VR-CET auf die individuelle Reaktion auf proximale Cues im natürlichen Kontext untersucht werden. Die prognostische Validität der Cue-Reaktivität für die Wirksamkeit der VR-CET soll zudem im Sinne der personalisierten Medizin geprüft werden. Neben der Vorstellung des Studienprotokolls soll diese Arbeit zudem für Chancen der VR-CET und dessen praktische Herausforderungen sensibilisieren.

Methode

Vorabbefragung zur Auswahl der Szenarien für die VR-CET

Basierend auf einer Literaturrecherche (Buczkowski et al., 2014; Pisinger et al., 2011) wurden neun Rückfallrisiko-Situationen ermittelt, die in der VR umsetzbar sind. Für jedes der Szenarien gaben N=17 anonymisierte Teilnehmer_innen von Tabakentwöhnungskursen am Universitätsklinikum Tübingen eine Einschätzung des Rückfallrisikos für die jeweilige Situation in Prozent (Spannweite: 0–100 %) an. Zusätzlich wurden in vier offenen Fragen weitere Vorschläge für nicht erwähnte Rückfallsituationen sowie zusätzliche Veränderungsvorschläge erfragt, durch die die bereits beschriebenen Situationen eine höhere Rückfallwahrscheinlichkeit bedingen könnten. Keine der dabei vorgeschlagenen Situationen wurde von mehr als einer Person genannt, so dass letztlich die Auswahl aus den bereits vorbereiteten Situationen erfolgte. Aus der Einschätzung des Rückfallrisikos für die einzelnen Szenarien wurde jeweils ein Mittelwert über alle Teilnehmer_innen hinweg gebildet. Tabelle 1 zitiert die neun Szenarien aus dem Fragebogen mit Rating des Rückfallrisikos der einzelnen Szenarien. Die vier Szenarien mit dem höchsten Rückfallrisiko wurden für die Umsetzung in VR ausgewählt. Die Befragten sollten nicht in die später stattfindende Effektivitätsstudie eingeschlossen werden.

Tabelle 1 Beschreibung der einzelnen Risikosituationen im Fragebogen der Vorabbefragung mit Mittelwert (M) und Standardabweichung (SD) der Bewertungen der Szenarien hinsichtlich ihrer subjektiven Rückfallwahrscheinlichkeit (0–100 %)

Erstellen der VR-Szenarien

Basierend auf den Fragebogendaten wurden für die vier risikoreichsten Szenarien ausführliche Drehbücher geschrieben und Videos der Szenarien, in denen Student_innen die Rollen der zu erstellenden Agenten spielten, erstellt. Drehbücher und Videos dienten anschließend als Vorlage für die Umsetzung in der VR. Die Dialoge im Rahmen der Szenarien wurden für alle vier Szenarien durch in Ausbildung befindliche Sprecherzieher des Zentrums für Sprache und Kommunikation an der Universität Regensburg eingesprochen. Zwei der VR-Szenarien (Stress; Einsamkeit und Grübeln) wurden intern am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Regensburg entwickelt. Die beiden weiteren Szenarien (Privatparty und Café) wurden durch eine auf VR-Forschung spezialisierte Firma (VTplus GmbH, Würzburg) entwickelt. Um die Rauchstimuli in VR an die individuelle Tabakmarke der Studienteilnehmer_innen anpassen zu können, wurden 21 aktuelle Zigarettenschachteln und 5 Päckchen für Drehtabak jeweils von gängigen Marken und Sorten fotografiert und als Auswahlmöglichkeit vor Beginn der VR für alle realisierten Szenarien implementiert. Ausschnitte der finalen VR-Szenarien sind als Screenshots in Abbildung 1 zu sehen.

Abbildung 1 Screenshots der 4 VR-Szenarien. Zusammenfassend wurde mit der Auswahl der Szenarien Einsamkeit und Grübeln, Privatparty, Stress und Café auf Basis der Vorstudie ein breites Spektrum an für Raucher_innen relevanten Rückfallsituationen ausgewählt und in VR mit interaktiven Elementen mit anderen virtuellen Raucher_innen (Ausnahme: Einsamkeit und Grübeln) umgesetzt.

Studienprotokoll für die Effektivitätsstudie

Studienziel: Eingebettet in ein gruppenbasiertes 6-wöchiges Tabakentwöhnungsprogramm (jeweils n=6–8 Teilnehmer_innen) soll die Effektivität einer VR-gestützten CE an zwei Standorten (Universitätsklinikum Tübingen und Psychologisches Institut der Universität Regensburg) in einem randomisierten kontrollierten Studiendesign bezüglich der kurz- und langfristigen Erfolgsquoten mit einer Kontrollbedingung aus einer PMR-Behandlung (Progressive Muskelrelaxation; beide Bedingungen als Ergänzung einer leitliniengerechten, verhaltenstherapeutischen Behandlung) verglichen werden (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT03707106). Einschlusskriterien sind: Alter von 18 bis 70 Jahren; tägliches Rauchen seit min. zwei Jahren; aktueller Tabakkonsum von min. 10 Zigaretten/d. Ausschlusskriterien sind bestehende Schwangerschaft; aktuelle psychiatrische Diagnose (außer Tabakabhängigkeit); Diagnose einer Psychose, Bipolaren Störung, Posttraumatischen Belastungsstörung oder Konversionsstörung in der Vorgeschichte; Teilnahme an einem Tabakentwöhnungsprogramm innerhalb der letzten 6 Monate. Die jeweils ca. 40-minütige Zusatzintervention findet in beiden Studienarmen vier Mal (von Kurswoche 3 bis 6) statt.

Population und Stichprobengröße: Der primäre Endpunkt der geplanten Studie ist die kontinuierliche Abstinenz zum Zeitpunkt der 6-Monats-Katamnese. Auf der Basis früherer Daten schätzen wir die Wahrscheinlichkeit eines positiven Therapieergebnisses (=Abstinenz) unter der Kontrollbehandlung (KVT plus Entspannungstraining) auf 70 % direkt im Anschluss an den Behandlungszeitraum und ca. 30 % am Ende des 6-Monats-Katamnese-Zeitraums (vgl. z. B. Batra et al., 2010). Angesichts der fehlenden Datenlage für eine entsprechende Behandlung mit dem geplanten VR-Abstinenztraining schätzen wir in diesem Behandlungsarm – aufgrund einer verringerten Rückfallwahrscheinlichkeit – einen Anstieg der Erfolgsrate auf etwa 80 % nach Beendigung der Therapie und 50 % abstinenter Teilnehmer zum Zeitpunkt der 6-Monats-Katamnese. Basierend auf diesen Vorüberlegungen sowie einem a priori definierten Alpha-Fehlerniveau von 5 % und einer angenommenen Teststärke von 80 % ergibt sich bei 2-seitiger Testung und Verwendung eines Chi-Quadrat-Tests zur Überprüfung des primären Endpunktes eine benötigte Stichprobengröße von n=93 Teilnehmern pro Behandlungsarm (Berechnungen durchgeführt mit der Software PS). Bei einer angenommenen Dropout-Rate von ca. 20 % (Batra et al., 2010) streben wir daher den Einschluss von initial n=120 Studienteilnehmer_innen pro Behandlungsgruppe an.

Vor der ersten Behandlungssitzung (mit 1. EEG-Messung) sollen die Teilnehmer_innen ein Fragebogenpaket ausfüllen, das rauchanamnestische und sozialanamnestische Daten, den Schweregrad der Abhängigkeit (Heatherton, Kozlowski, Frecker & Fagerstrom, 1991), das Rauchverlangen (Cox, Tiffany & Christen, 2001), die Abstinenzmotivation und Selbstwirksamkeitserwartung umfasst. Zusätzlich wird die Cue-Reaktivität mittels einer Peripherphysiologie- und EEG-Messung sowie einem Annäherungs- und Vermeidungsparadigma in Bezug auf proximale Rauch-Cues erfasst. Nach der letzten Therapiesitzung sollen Craving, Motivationsfragebogen sowie die Selbstwirksamkeitserwartung erneut erfasst werden. Nach Abschluss der Behandlung sollen differentielle Veränderungen in der Verarbeitung von Rauch-Cues durch die Therapie anhand der neurophysiologischen und motivationalen Maße untersucht werden (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2 Studienablauf mit Erhebungszeiträumen.

Als primärer Endpunkt wird die kontinuierliche Abstinenz 6 Monate nach Behandlungsende gewählt. Dabei wird der Russell Standard (West, Ussher, Evans & Rashid, 2006) eingehalten, der neben der Selbstangabe der Rauchfreiheit auch die biochemische Validierung per CO-Messung beinhaltet.

Als sekundäre Endpunkte sollen Effekte der VR-Zusatztherapie auf folgende Variablen untersucht werden:

  • Veränderung der Cue-Reaktivität in einem Annäherungs-Vermeidungs-Paradigma
  • Veränderung der Cue-Reaktivität während einer in vivo Cue-Exposure
  • Anzahl der gerauchten Zigaretten nach der Rauchentwöhnung

Cue-Exposure in der VR (proximale und distale Cues)

Im Verlauf des Szenarios Privatparty wird das Craving insgesamt 11 mal erfragt, im Szenario Einsamkeit und Grübeln sowie im Szenario Café jeweils 12 mal und im Szenario Stress 14 mal. Am Ende jedes Szenarios erfolgt noch 8 mal die Abfrage des Cravings zum Emotionssurfing ohne weitere Interaktionen. Wenn die Craving-Angaben zweimalig bei 0 (Maximum: 100) sind, wird das Szenario beendet.

In vivo Cue-Exposure (proximale Cues)

Zu Beginn werden zwei verschlossene Kisten vor den Teilnehmer_innen abgestellt (vgl. Abbildung 3). Der in vivo CE mit rauchbezogenen Reizen (Kiste B) wird zu jedem Messzeitpunkt eine Kontrollbedingung mit neutralen Gegenständen (Kiste A) vorangestellt. Die Teilnehmer_innen erhalten dann minütlich Instruktionen zum Umgang damit: (1) die Aufforderung, die Gegenstände ausführlich anzuschauen, (2) diese anzufassen, (3) daran zu riechen sowie (4) gewohnte Bewegungen damit auszuführen. In der darauffolgenden CE wird die zweite Box geöffnet, in der sich rauchassoziierte Gegenstände (inkl. Zigaretten) befinden. Auch hier erhalten die Teilnehmer_innen minütlich Instruktionen, die Gegenstände (1) genau zu betrachten, (2) diese anzufassen, (3) daran zu riechen und (4) gewohnte Bewegungen damit auszuführen, auf das Anzünden der Zigarette jedoch zu verzichten. Während der Kontrollbedingung und der CE werden die Teilnehmer_innen 10-mal dazu aufgefordert, ihr aktuelles Craving auf einer Skala von 0–100 einzuschätzen. Neben der bewussten subjektiven Craving-Ebene werden als weitere Ebenen der Cue-Reaktivität die Hautleitfähigkeit (EDA) sowie die Herzratenvariabilität (HRV) aufgezeichnet sowie ein EEG abgeleitet.

Abbildung 3 Inhalt von links: Kiste A (Kontrollbedingung) und rechts: Kiste B (rauchbezogene Reize).

Leitliniengerechtes Tabakentwöhnungsprogramm als Basisbehandlung

Alle abstinenzmotivierten Tabakraucher_innen, die in die randomisiert kontrollierte Studie eingeschlossen werden, nehmen an einem 6-wöchigen Tabakentwöhnungsprogramm („Nichtraucher in 6 Wochen“; Batra & Buchkremer, 2004) teil. In Therapiewoche 1 und 2 erfolgt zunächst eine Psychoedukation zum Tabakrauchen sowie die Vorbereitung zum Rauchstopp, der zwischen Therapiewoche 2 und 3 geplant ist (Punktstopp-Methode). Am Ende von Behandlungswoche 2 wird in der VR-Gruppe das Rationale der CET vermittelt, wohingegen in der PMR-Gruppe die Hintergründe für das Entspannungstraining vermittelt werden. In Woche 3 bis Woche 6 werden Alternativen zum Rauchen weiter gefestigt und abstinenzförderliche Verhaltensweisen aufgebaut. Außerdem finden die jeweiligen Zusatztherapien statt, also je nach Randomisierung das Entspannungstraining (PMR) oder die CE in der VR.

Diskussion

Die Cue-Exposure in der VR verspricht – so der bisherige Stand der Literatur – eine wirkungsvolle Intervention zur Rückfallprophylaxe mit geringem Aufwand und hoher ökologischer Validität zu werden. Bei der Entwicklung valider Szenarien gibt es jedoch zunächst ein paar Herausforderungen zu meistern, die hier thematisiert werden sollen. Die Durchführung einer CET in der VR bei Abhängigkeitserkrankungen erfordert zunächst die Identifikation störungsspezifischer, für größere Populationen geeigneter Szenarien, die für die Zielgruppe eine hohe Rückfallrelevanz haben. Anhand von Fragebogendaten konnten wir für die Zielgruppe regelmäßig rauchender Personen vier Szenarien identifizieren, für die im Mittel eine zwischen knapp 50 % bis 30 % liegende Rückfallwahrscheinlichkeit geschätzt wurde. Diese Zahlen zeigen, dass es durchaus Situationen mit hoher Rückfallwahrscheinlichkeit gibt, diese jedoch auch einer großen Varianz unterliegen (30–38 %).

Die Entwicklung von VR-Szenarien erfordert große zeitliche wie auch finanzielle Ressourcen. Entsprechend wurde das beschriebene Studienprotokoll auf vier mögliche Risikosituationen begrenzt und keine individualisierte Auswahl der Szenarien vorgesehen. Bislang gibt es noch keine standardisierten Datenbanken, um solche Szenarien zu validieren und für weitere Studien zu nutzen, wie es z. B. für Bild- und Videomaterial für Cue-Reaktivität bereits der Fall ist (Khazaal, Zullino & Billieux, 2012; Stippekohl et al., 2010).

Die Überlegenheit des Auslösens der Cue-Reaktivität in der VR im Vergleich zum gewohnten Labor- bzw. therapeutischen Setting konnte in einer Metaanalyse gezeigt werden (Mazza, Kammler-Sücker, Leménager, Kiefer & Lenz, 2021). Hier werden auch weitere Möglichkeiten diskutiert, um die Stärken der VR für die CET zu nutzen, z. B. durch multimodale Reize. Insbesondere für die CET können olfaktorische Reize ein wertvoller Bestandteil zu einer intensiven und zuverlässigen Aktivierung der Cue-Reaktivität sein. Ein weiterer Ansatz ist die Individualisierung der Szenarien; so können z. B. Risikosituationen durch bestimmte Zigarettenmarken individualisiert werden oder Avatare auf das individuelle Verhalten der Teilnehmer_innen in der VR reagieren. Hierbei würde ein weiterer interessanter Ansatz darin bestehen, Blickbewegungen der Teilnehmer_innen mittels Eye-Tracking aufzuzeichnen und entsprechende Reaktionen für das VR-Szenario adaptiv auszulösen. Auch in der Suchtforschung ist „Embodiment“, die Umsetzung einer gewünschten Verhaltensweise in virtueller Realität, ein erleichternder Schritt, um dieses Verhalten auch in realen Hochrisikosituationen umzusetzen, da das Verhalten in der virtuellen Realität bereits erlebt und erlernt werden kann.

Für die noch erforderlichen Studien zur Wirksamkeit der VR-basierten Cue-Exposure ist außerdem zu berücksichtigen, dass subjektives Craving nicht für alle Raucher_innen zu erwarten ist. So konnte dies in einer Studie mit alkoholabhängigen Personen bei nur zwei Drittel der Population gezeigt werden (Szegedi et al., 2000). Zudem gab es Patient_innen, die lediglich eine physiologische Reaktion zeigten oder sogar als Non-Responder klassifiziert wurden, nachdem sie keinerlei Reaktion auf die Cues zeigten. Unklar sind bislang die genauen Ursachen für das Ausbleiben der Reaktion sowie die Frage, ob dieser Effekt auch bei distalen Cues gezeigt werden kann. Hierzu gibt es aktuell keine weiteren Befunde, da bisherige Ansätze sehr auf Mittelwerte von Stichproben fokussieren, ohne Non-Responder gesondert zu berücksichtigen. Zusammenhänge der unterschiedlichen Ebenen der Cue-Reaktivität stehen hier ebenfalls noch aus und sollen im vorgestellten Studienprotokoll durch die ergänzenden Maße der Cue-Reaktivität berücksichtigt werden. Das beschriebene Studienprotokoll ermöglicht neben den Aussagen über das Ansprechen der Cue-Reaktivität auf subjektiver Ebene auch Korrelationen mit der Peripherphysiologie, dem Annäherungsverhalten und zentralnervösen Veränderungen. Mit diesem komplexen Studienprotokoll erwarten wir zum einen weitere Hinweise auf die Wirksamkeit der VR-CET in der Rauchentwöhnung. Zum anderen sollen jedoch auch grundlegende Mechanismen der Cue-Reaktivität weiter analysiert und in Zusammenhang mit der Wirksamkeit der VR-CET gebracht werden.

Diese Studie wird finanziert durch die Deutsche Krebshilfe (NR 70111871). Wir danken Ramona Täglich, Tomris Amhari, Hendrick Laicher, Isabell Int-Veen, Sarah Kirchler und Sarah Wandl für die aktive Mitarbeit in der Datenerhebung. Wir danken Benedikt Amberger für seine wertvollen Beiträge bei der Vorbereitung der Studie in Regensburg. Schließlich danken wir Daniela Tepner und Melissa Schmidmeier für ihre Mithilfe bei der Studiendurchführung.

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