1 Einführung: Hochschullehre für die Zukunft – Anforderungen und Problemstellung

Hochschulen und Universitäten haben die Aufgabe, Fachinhalte und Methoden der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen zu entwickeln und zu vermitteln – und dabei den Erfordernissen der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Dies ist aktuell angesichts komplexer globaler Probleme (wie Klimawandel, Folgen von Krieg, demografischer Wandel, und digitale Transformation) mit enormen Herausforderungen verbunden. Es geht darum, zukunftsfähig zu bleiben (Ehlers, 2021; Global Learning Council 2021). Das erwarten Studierende und zukünftige Arbeitgeber*innen gleichermaßen (Pelletier et al. 2023). In nahezu allen Bereichen der Gesellschaft, Politik, Umwelt und Wirtschaft fehlen Fachkräfte, die in der Lage sind, unterschiedliche Anforderungsebenen zu verknüpfen und digitale Entwicklungen kreativ für interdisziplinäre Problemlösungen zu nutzen. Neben dem Wissen in den einzelnen Fachdisziplinen muss Hochschullehre daher auch übergeordnete Kompetenzen entwickeln (Ehlers 2021; Ehlers und Kellermann 2019). Diese umfassen neue Fähigkeiten für den Umgang mit digitalen Systemen und künstlicher Intelligenz bis hin zu flexiblem selbstgesteuertem Lernen über das ganze Leben hinweg (Pelletier et al. 2023). Notwendig sind nicht nur digitale Kompetenzen im engeren (technischen) Sinn, sondern so genannte „future skills“ (Ehlers 2021; Ehlers und Kellermann 2019) oder „21st century skills“ (z. B. Binkley et al. 2012). Dazu gehören: Kreativität und Innovationsfähigkeit, Kommunikations- und Teamfähigkeit für interdisziplinäres Problemlösen sowie den Umgang mit Komplexität und Paradoxien (Carretero Gomez et al. 2017; v. Ameln 2020; Zahn et al. 2021). Ehlers (2021) ordnet „future skills“ drei übergeordneten Kompetenzfeldern zu: entwicklungsbezogene, objektbezogene und organisationsbezogene Kompetenzen.

Ehlers und Kellermann (2019) betonen im Kontext dieser Kompetenzanforderungen die „future skills university“, die neben der klassischen Wissensvermittlung in Hörsälen und Seminarräumen, neue Szenarien für kreatives Lernen und praxisorientierte Teamarbeit der Studierenden unterstützt – und damit einhergehend: einen „next mode of learning“. Die Realisierung dieses „next mode of learning“ bedeute allerdings nicht weniger als die Umsetzung eines „radikalen Paradigmenwandel[s], mit dem Institutionen und Stakeholder der Hochschulen nicht vertraut sind“ (Ehlers 2021, S. 271). Rollen verändern sich: Studierende sollen selbstorganisiert, selbstbestimmt und in der Peer-Gemeinschaft lernen, die Universität/Hochschule soll dabei als Partizipationsplattform und Community dienen, Lehrende sind Coaches (Pelletier et al. 2023; Krauskopf 2021). Dafür bedarf es passender Lerngelegenheiten (Krauskopf und Zahn 2015) und Entwicklungen im System Hochschullehre.

Kann Psychodrama ein Teil der Lösung sein? Eine aktuelle Interviewstudie an der Universität Sevilla (Maya und Maraver 2020) zeigt ein starkes Bedürfnis unter Lehrenden, innovative aktivierende Lehr-Lernmethoden zu entwickeln, um Studierende zu motivieren und ihre Kompetenzen zu stärken. Hierfür sehen die Befragten psychodramatische Methoden als eine Option. Das beinhaltet, Studierende als Protagonist*innen zu begreifen, die ihre Kreativität und Spontaneität nutzen, um gemeinsam im Lernprozess Probleme zu lösen, oder generell zur adäquaten Bewältigung des Studiums.

2 Psychodrama als Teil der Lösung

Psychodrama könnte als Katalysator der Kompetenzentwicklung für Kreativität, Spontaneität und für die Gruppenarbeit in verschiedenen Fächern (auch in den naturwissenschaftlichen, wirtschafts- oder technischen Fachdisziplinen), in Theorieseminaren (vgl. 4.3) oder hochschuldidaktischen Weiterbildungen zur Anwendung kommen. Punktuell belegen empirische Studien mit Studierenden, dass Psychodrama im Studium den Lernerfolg und die Zufriedenheit der Studierenden sowie deren Kompetenz zur Entscheidungsfindung (hier: im Bereich Marketing) verbessern kann (Lin 2019).

2.1 Psychodrama und Entwicklung der Hochschullehre

Die Potenziale des Psychodrama für die Entwicklung der Hochschullehre werden bereits seit längerem als breites Handlungsfeld skizziert (Wildt und Wildt 2014). Nach Wildt (2011) sind Perspektivübernahme und Rollenflexibilität im Psychodrama wichtige Wirkmechanismen und auch Motoren für eine veränderte Lehrauffassung bzw. eine neue studierendenzentrierte „Haltung“ in der Lehre. Dieser Ansatz ist ermutigend, bietet aber noch keinen umfassenden Erklärungsrahmen und ist sicher kein Freibrief für ad-hoc-Experimente mit Psychodrama in der Hochschullehre. Damit es nicht bei insularen und möglicherweise exotisch anmutenden Umsetzungen bleibt, ist zu klären, wie und auf welcher Erklärungsgrundlage psychodramatische Techniken oder Arrangements in die Hochschullehre eingeführt und Hindernisse überwunden werden können. Nach Wildt und Wildt (2014) sind deshalb für den Einsatz von Psychodrama in verschiedenen Handlungsfeldern an Hochschulen „… Analysen und Berichte, die sich theoretisch und empirisch mit dem Einsatz von Psychodrama in der Hochschuldidaktik auseinandersetzen“ (S. 108) zentral. Der vorliegende ZPS-Artikel reflektiert einen kognitionswissenschaftlichen Ansatz zur Erklärung der Wirksamkeit psychodramatisch inspirierter Lehr‑/Lernmethoden.

2.2 Psychodrama und Anschlussfähigkeit an aktuelle wissenschaftliche Diskurse

Psychodrama hat nur dann das Potenzial, zur Lösung der Herausforderungen für die Hochschullehre etwas beizutragen, wenn die Qualitätsansprüche des Systems Hochschullehre beachtet werden. Hierzu gehört die wissenschaftliche Erklärbarkeit der in der Lehre eingesetzten Methoden, um deren Lernwirksamkeit sicherzustellen. Wissenschaftlichkeit ist eine Grundhaltung in der Hochschullehre. Hochschulen sind Orte der Wissenschaft und Forschung – die Lehre orientiert sich nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen (z. B. aus den Learning Sciences, Sawyer 2014).

Um psychodramatische Methoden in der Hochschullehre umfassend einsetzen und weiterentwickeln zu können, sollte daher ihre Anschlussfähigkeit an aktuelle wissenschaftliche Diskurse nachgewiesen werden. Anders ausgedrückt: Um psychodramatische Arbeitsweisen nutzbar zu machen, bedarf es einer systemkonformen Legitimation. Nach von Ameln und Kramer (2014a) wird

„[…] Die Aufgabe heutiger und zukünftiger Generationen von Psychodramatikern […] darin liegen, Morenos Konzepte nicht als Kulturkonserve zu betrachten, sondern weiterzuentwickeln und ihre Verbindungen zu den aktuellen sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskursen aufzuzeigen. Diese Verbindungen sind ohne Zweifel vorhanden: Morenos Ideen sind in ihrem Kern hochaktuell. […]“. (S. 158)

Wie lässt sich der Einsatz psychodramatischer Techniken für die Hochschullehre bzw. das akademische Lernen im Studium theoretisch begründen? Um diese Frage zu beantworten, wird ein kognitionswissenschaftliches Erklärungsmodell mit dem Psychodrama verglichen und geprüft, ob die beiden Ansätze kompatibel sind. Vor dem Hintergrund aktueller kognitionswissenschaftlicher Diskurse (4E Cognition, vgl. Newen et al.2018; 4E-Learning, vgl. Lund et al. 2019) werden im Folgenden zentrale Konzepte des Psychodrama-Ansatzes (vgl. v. Ameln und Kramer 2014a) neu beleuchtet und zueinander in Beziehung gesetzt. Ziel ist es, Synergien zwischen psychodramatischen Konstrukten und der Psychologie des digital unterstützten Lernens an Universitäten und Hochschulen herauszuarbeiten und eine im Hochschulsystem tragfähige theoretische Basis zu schaffen.

3 „4E Cognition“

Die Kognitionswissenschaft untersucht grundlegende Mechanismen kognitiver Prozesse und des Lernens – einschließlich der Erklärung digitaler und KI-unterstützter Lernprozesse. Sie bietet damit eine wichtige wissenschaftliche Basis für die Gestaltung von Lernszenarien der Zukunft. Im Folgenden werden nun Grundbegriffe des 4E-Kognitions-Ansatzes (Newen et al. 2018) vorgestellt und diskutiert.

Kernaussagen

Die 4 E’s in der 4E-Cognition-Theorie nach Newen et al. (2018) heißen: Embodied, Extended, Enactive und Embedded Cognition (Übersicht über die Bedeutungen vgl. Tab. 1). Das Wort „Cognition“ (dt. Kognition, Gigerenzer 2023) umfasst die psychologischen Funktionen Wahrnehmung, Denken, Problemlösen, Entscheiden, Sprache, zielgerichtetes Handeln und Lernen.

Tab. 1 Bedeutung der 4E’s entsprechend der 4E-Kognitionstheorie

Die 4E-Kognitionstheorie ist ein Theorieansatz mit starken Bezügen zur wissenschaftlichen Neuro- und Kognitionspsychologie, der sich gleichzeitig sehr deutlich von der klassischen kognitiven Psychologie abgrenzt, indem er deren starke Fokussierung auf das Gehirn als „Sitz“ der Kognition kritisiert (ähnlich wie der embodied cognition Ansatz, vgl. Pujari 2019; Varela et al. 1991). Kognition wird als ganzheitlich und überindividuell angenommen und um kognitive Phänomene zu erklären, werden die Einflüsse des Körpers (embodied), der Interaktion zwischen Organismus und Umgebung (extended), des Handelns in sozialer Interaktion (enactive) und der Situiertheit aller Kognition (embedded) betont.

Dies wird am Beispiel der menschlichen Sprache plausibel gemacht: Sprache ist ein kognitives Phänomen – sie entspringt dem Denken, repräsentiert und ergänzt es. Dennoch ist sie nicht nur im Gehirn lokalisiert – sie ist körperlich, denn sie wird auch im Körper, in den Sprechwerkzeugen, in der Lunge, im Zwerchfell usw. produziert, und der Körper ist ihr Resonanzraum (embodied) – Sprache ist zudem nicht auf das einzelne Individuum beschränkt, sondern erstreckt sich als Kommunikationsmittel über komplexe sozio-technische Systeme (extended). Sprache ist zudem eine aktive, zielgerichtete Handlung und dient dem Austausch von Botschaften und der Interaktion zwischen verschiedenen kognitiven Systemen (enactive). Und: Sprache basiert auf der Verwendung von Zeichen und Symbolen sowie auf Normen, Konventionen und Rollen (embedded). Sprache kann daher nach Ansicht der Autor*innen mit Hilfe des 4E-Kognitionsansatzes besser als mit der klassischen Kognitionspsychologie als das beschrieben werden, was sie ist: eine Brücke, die sich von elementaren kognitiven und körperlichen Prozessen bis hin zu komplexen Handlungen und Ritualen des institutionalisierten und normativen Lebens erstreckt. Und: „Die Brücke geht in beide Richtungen, denn die Ergebnisse sprachlicher Praxis wirken zurück auf die Gestaltung unseres körperlichen Handelns und affektiven Lebens“ (Newen et al. 2018, S. 12).

3.1 4E-Kognitionstheorie und Lernen

Nicht nur Sprache, auch das Lernen, um das es in diesem Artikel geht, ist ein wichtiges Anwendungsfeld der 4E-Kognitionstheorie: Es heisst 4E-Learning (Lund et al. 2019) und man nimmt an, dass Lernen nicht nur „Kopfsache“ ist und nicht nur über die visuellen und auditiven Verarbeitungskanäle und das Gehirn (Sehen, Hören, Informationsverarbeitung z. B. Mayer 2014) geschieht, sondern sich über den ganzen Körper (embodied) erstreckt. Darüber hinaus nimmt man an, dass Lernen auf der Interaktion zwischen einem Organismus und seiner Umwelt basiert (Extended), einschließlich der Nutzung von Werkzeugen, die heute auch digitale oder intelligente Werkzeuge sind (Software, Lernplattformen, virtuelle Realität und künstliche Intelligenz). Und Lernen ist Handeln in sozialer Interaktion (Enactive) sowie situiert (Embedded) – es findet also in komplexen Situationen statt.

Diese Annahmen werden auch für Lernprozesse in der akademischen Bildung gemacht, also Lernformen, die nicht wie im Sport direkt den Körper und seine Bewegungsabläufe betreffen, sondern auch abstrakte Inhalte oder Theoriewissen. Pujari (2019) fasst in Bezug auf den Aspekt embodied cognition in der Bildung zusammen:

„In education, the embodied mind perspective suggests that learning should be grounded in sensorimotor experiences and interactions with the environment. By engaging in hands-on activities and incorporating movement and sensory experiences, learners can better integrate and retain information.“ (S. 242)

3.2 Empirische Evidenz für die Gültigkeit der 4E Learning Annahmen

Die Argumente des 4E-Ansatzes stehen in Einklang mit etablierten Kognitionstheorien und Forschungen zu „embodied cognition“ (Varela et al. 1991), „situated cognition“ (Suchman 1987), „situated learning“ (Lave und Wenger 1991) und „cognition in the wild“ (Hutchins 1996). Sie sind wissenschaftlich fundiert und werden im wissenschaftlichen Diskurs weiter auf ihre Gültigkeit überprüft (Newen et al. 2018).

Weitere empirische Befunde, die den 4E-Lernansatz unterstützen, finden sich beispielsweise in der Forschung zum digital unterstützten Lernen naturwissenschaftlicher Themen, z. B. mit 360° Videos oder in virtuellen Lernumgebungen. So zeigte ein Experiment von Lewis et al. (2019), dass beim Erlernen komplexer naturwissenschaftlicher Themen mit Videos eine körpernahe subjektive Kameraperspektive zu einem besseren Verständnis führt als ein klassisches Lehrvideo mit objektiver Kameraperspektive. Lernende verstanden neue Lerninhalte besser, wenn die Kameraführung eines Lehrvideos ihre Lerner*innen-Perspektive einnahm und mit ihren natürlichen Körperbewegungen übereinstimmte.

In einer anderen Studie wurde am Beispiel des Lernens komplexer Umweltthemen (hier: „Meeresverschmutzung“) gezeigt, dass situativ eingebettetes (Körper‑)Erleben kognitive Verarbeitungsprozesse und Lernen mit virtueller Realität unterstützt: „… the more that people explored the spatial learning environment, the more they demonstrated a change in knowledge about ocean acidification“ (Markowitz et al. 2018, S. 1). Virtuelle Lernumgebungen sind also dann besonders effektiv, wenn sie Lernenden erlauben mit räumlichen Strukturen aus unterschiedlichen Raumperspektiven zu interagieren und wenn sie Körperempfindungen ermöglichen (sensorisches Feedback), die über die real-physische Erfahrung hinaus gehen. Selbst die Illusion der Verkörperung in einem virtuellen Körper in einer VR-Umgebung – so zeigte eine Studie von Gall et al. (2021) – intensiviert und verändert reale emotionale Reaktionen bei Menschen. Dies alles spricht dafür, dass die Annahmen des 4E-Lernansatzes in der Praxis gültig sind und unterstreicht damit ihre Bedeutung für neue Lernsettings in der Hochschullehre.

Neben dem Anwendungsfeld Lernen wurde der 4E-Kognitionsansatz auf weitere Themen der Kognitionsforschung (z. B. soziale Kognition, moralische Entwicklung) bezogen und auf verschiedene andere Alltagsbereiche wie Psychopathologie, Literatur und Theater, Ästhetik und Tanz, Roboterdesign oder Rechtsprechung (Newen et al. 2018) ausgeweitet untersucht. Die Argumentationslinien sind dabei nicht immer ganz klar und es gibt durchaus berechtigte Kritik an der Theorie und ihren Geltungsansprüchen (vgl. Carney 2020). Diese wissenschaftlichen Diskurse sollen hier nicht weiter vertieft werden. Der vorliegende Beitrag interessiert sich vor allem für die Vereinbarkeit der 4E-Kognitionstheorie mit der Psychodrama-Theorie: Ziel des vorliegenden Artikels ist es, die Anschlussfähigkeit des Psychodrama an aktuelle kognitionswissenschaftliche Diskurse aufzudecken, um den Einsatz psychodramatischer Methoden an Hochschulen in verschiedenen Handlungsfeldern theoretisch zu begründen und zu fundieren.

4 Psychodrama – 4E-Kognitionstheorie: Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte

4E Kognition ist eine Kognitionstheorie – wie lässt sie sich mit den Annahmen des Psychodramas verbinden? Die folgenden Überlegungen wurden mit der Priorität einer bestmöglichen – nicht vollständigen – Passung angestellt, um zu zeigen, inwiefern Psychodrama mit aktuellen wissenschaftlichen Theorieentwicklungen übereinstimmt. Es handelt sich um ein Gedankenexperiment zur systemkonformen Legitimation des Einsatzes von Psychodrama in der Hochschullehre. Insofern ist eine gewisse Reibung zwischen den beiden Ansätzen nicht grundsätzlich negativ, sondern konstruktiv zu bewerten. Dies gilt umso mehr, wenn die folgende Analyse nicht auf den Hochschulkontext beschränkt bleibt, sondern auch auf andere Bereiche einschließlich therapeutischer Interventionen ausgedehnt wird.

4.1 4E Cognition und zentrale Psychodrama Konstrukte – Gemeinsamkeiten

Beide Theorien – 4E Cognition und Psychodrama – verstehen innere (psychische) Veränderungsprozesse als Folgen körperlichen, gedanklichen und raum-zeitlich orientierten Handelns von Menschen in komplexen Situationen. Lernen ist ein innerer Veränderungsprozess. Entsprechend sind die Theorien grundsätzlich kompatibel in Bezug auf ihre Auffassung zum Lernen.

Etwas differenzierter betrachtet zeigen sich zentrale Konstrukte im Psychodrama (etwa: Rolle, Soziometrie, kreativer Zirkel, Sharing, Surplus reality) als durchaus anschlussfähig an den 4E-Cognition Ansatz, wie folgende Argumente zeigen:

  1. 1.

    Embodied cognition – steht für die Annahme, dass körperliche Prozesse konstitutiver Bestandteil der Kognition sind, also auch des Lernens – und nicht etwa vernachlässigbar oder nur Begleiterscheinungen dessen. Die Dynamik von Gehirn-Körper-Umwelt-Rückkopplungsprozessen wird als zentral angesehen. In der Psychodrama-Praxis werden Rollen spielerisch-schöpferisch im Körper aktiviert und auf einer Bühne inszeniert. Auch hier ist die Dynamik von Gehirn-Körper-Umwelt-Rückkopplungsprozessen sowohl für die Aktivierung der Rollen (z. B. Protagonist*innen, Hilfs-Ichs, Einrollen) als auch für die Entwicklung der Spielhandlung und späteren Problemlösung (z. B. Bühne) zentral. Im klassischen kreativen Zirkel psychodramatischen Handelns (Stadler und Kern 2010) beginnt die Aktivierung der Rolle(n) mit der körperlichen Aufwärmphase – das aktive Spiel in der Aktionsphase geschieht körperlich und in der Integrationsphase (Sharing und Rollenfeedback) werden Aspekte dieser Rückkopplungsprozesse (z. B. Körperhaltungen und die Empfindungen, die sie im Hilfs-Ich auslösen) reflektiert. Auch in der Psychodrama-Theorie beinhaltet die Rollenentwicklung des Menschen eine starke psychosomatische Ebene (Stadler und Kern 2010; Schacht 2010). Insofern sind die beiden Ansätze in dieser Hinsicht sehr gut miteinander kompatibel. Das Gruppenspiel und die gruppenorientierte Soziometrie bieten ähnliche Anknüpfungspunkte: So verorten aktionssoziometrische Methoden (z. B. Aufstellungen) Individuen im Raum, um kollektive Aspekte bzw. Gruppenbeziehungen räumlich-visuell und körperlich erfahrbar zu erfassen und zu verändern (Stadler und Kern 2010).

  2. 2.

    Extended cognition impliziert, dass sich kognitive Prozesse über verschiedene sozio-kognitive und sozio-technische Systeme erstrecken, also die Interaktion mit Objekten, digitalen und intelligenten Werkzeugen und mit anderen Menschen einschließen. In der Psychodrama-Theorie ist das Konzept der Begegnung verwandt und die Psychodrama-Bühne mit der inszenierten Surplus Reality als Externalisierung der inneren Realität der Protagonist*innen durch Objekte, Symbole und Mitspieler*innen. Der Gestaltung von Bühnenbildern, Szenenvignetten und Symbolarbeit wird im Psychodrama große Aufmerksamkeit geschenkt und es gibt verschiedene Bühnenkonzepte wie das 3‑Szenen-Modell, die Tischbühne usw. als Werkzeuge (vgl. Stadler und Kern 2010). Eine Diskrepanz der Theorien zeigt sich hingegen, wenn es um digitale bzw. intelligente Werkzeuge geht, da diese in der Psychodrama-Praxis nur zögerlich eingesetzt wurden (v. Ameln und Buckel 2021) – bzw. erst während und nach dem pandemiebedingten globalen Digitalisierungsschub forciert eingesetzt werden. Insofern sind die beiden Ansätze in dieser Hinsicht weniger gut miteinander kompatibel.

  3. 3.

    Enactive cognition bedeutet im 4E-Ansatz, dass sich Kognition nicht nur auf innere Prozesse, sondern auch auf das aktive äußere Handeln in und mit der Umwelt des Individuums erstreckt. Die Kompatibilität zum Psychodrama ist hier offensichtlich – wie das von Moreno postulierte Primat des Handelns zeigt. Der kreative Zirkel ist ein wichtiger Anknüpfungspunkt mit Handlungsvorgaben für den Ablauf: Aufwärmphase und Öffnung eines individuellen Problemraumes sowie Lösungssuche in der Aktionsphase durch Handeln und Rollenübernahme sowie anschließende Integrationsphase und Transfer neuer Handlungsoptionen (Stadler und Kern 2010). Insofern sind die beiden Ansätze diesbezüglich äußerst gut miteinander kompatibel.

  4. 4.

    Embedded cognition bezieht sich darauf, dass Kognition einen engen Bezug zu Umgebungsvariablen außerhalb des handelnden Individuums – zur Situation – beinhaltet. Hier sind die von Moreno vorgestellten Konstrukte Spontaneität und Kreativität wichtige Anknüpfungspunkte. Die spontane und kreative Ausgestaltung einer Rolle in ganz konkreten und komplexen (Bühnen‑)Situationen der Psychodrama-Praxis, die sehr umfassende Inszenierungen sein können, oder die Vignette, das Gruppenspiel mit vorgegebener Situation (Zauberladen, Insel, Märchenwald) sind per definitionem stark situationsgebunden. Insofern sind die beiden Ansätze diesbezüglich sehr gut miteinander kompatibel.

Es kann also gezeigt werden, inwiefern zentrale Konstrukte des Psychodrama mit den Annahmen des 4E-Kognitionsansatzes übereinstimmen. Noch spezifischer können die 4E’s den Psychodrama-Konstrukten Rolle und Soziometrie detaillierter zugeordnet werden.

Tab. 2 zeigt beispielhaft Anknüpfungspunkte für die Rolle und Soziometrie.

Tab. 2 Bezüge einzelner Konstrukte aus dem Psychodrama und den 4Es

4.2 4E-Cognition und Psychodrama – Unterschiede

In den vorigen Abschnitten konnte erklärt werden, wie 4E-Kognition und Psychodrama hinsichtlich zentraler theoretischer Annahmen und Konstrukte vereinbar sind. Doch es gibt Unterschiede: Erstens: 4E-Cognition/4E-Learning liefert einen wissenschaftlich fundierten Erklärungsrahmen für die Effektivität von Psychodrama für das Lernen und in Bildungskontexten, aber keine konkreten Lehr-Lern-Methoden. Dagegen ist das Psychodrama theoretisch komplex und weniger gut wissenschaftlich-empirisch belegt, aber praxisorientiert mit direkten Vorgaben für die Realisierung konkreter Arrangements, Abläufe, Techniken insbesondere für Gruppen (z. B. Stadler und Kern 2010, v. Ameln 2014). Zweitens: Während 4E-Cognition/4E-Learning die Nutzung von Werkzeugen, und zwar von digitalen und intelligenten Werkzeugen als zentralen Bestandteil kognitiver Prozesse im Sinn sozio-technischer Systeme thematisiert, bleibt das Psychodrama hier zurückhaltend. Mit diesen Unterschieden muss man umgehen. Eventuell kann eine konstruktive Reibung zur Weiterentwicklung genutzt werden.

Trotzdem bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass die Veränderungen, die durch psychodramatisches Arbeiten ausgelöst werden, mit Hilfe des 4E-Kognitionsansatzes sehr gut erklärbar sind – insbesondere im Hinblick auf die Eignung psychodramatischer Methoden für das Verstehen komplexer Sachverhalte und das Lösen komplexer Probleme sowie für den Aufbau von Fähigkeiten.

4.3 Praxisbeispiel zum Umsetzen psychodramatischer Interventionen innerhalb der Hochschullehre

Nachdem die Wirksamkeit psychodramatischer Methoden für komplexes Lernen auf kognitionswissenschaftlicher Basis gut erklärbar ist, scheint deren Einsatz für akademisches Lernen im Hochschulkontext legitimiert. Eine wichtige Hürde ist genommen, die die systematische Entwicklung psychodramatischer Methoden für die innovative Hochschullehre bislang behindert hat. In diesem Abschnitt soll nun ein konkretes Praxisbeispiel gegeben werden: Eine psychodramatische Intervention, die entsprechend Tab. 2 systematisch entwickelt wurde.

In einem Modul mit dem Titel „Digitale Gesellschaft – Psychologische Perspektiven“ an der FHNW-Hochschule für Angewandte Psychologie bestand eine wichtige Aufgabe und Zielsetzung für die Studierenden zu Beginn des Semesters darin, Zukunftsszenarien für eine digital transformierte Arbeitswelt zu entwickeln. Zum Beispiel: Wie könnte die Zusammenarbeit mit Robotern in der Altenpflege aussehen und worauf müsste man achten? Oder: Wie werden in Zukunft mithilfe von virtueller Realität (VR) Bewerbungsgespräche geführt und welche Probleme stellen sich dabei? Als Einstieg ins Semester sollten die Studierenden einen Zukunftsblickwinkel einnehmen können, der es ihnen erlauben würde, arbeitsbezogene und organisationale Herausforderungen der Zukunft zu imaginieren und dafür psychologische Lösungsansätze zu entwickeln. Hierfür wurde die thematische Aufstellung gewählt: Die Studierenden begaben sich pro Thema jeweils zu zweit oder dritt auf eine „Zeitreise“ durch den Seminarraum und besuchten dort verteilte Bodenmarkierungen, die unterschiedliche Zeithorizonte repräsentierten („heute“, „nächstes Jahr“, „in 2 Jahren“ usw. bis „in 10 Jahren“). Sie sollten dort innehalten, wo das Maximum ihrer Vorstellungskraft erreicht war und erarbeiteten an diesem Punkt eine Zukunftsszene mit verteilten Rollen, die sie nach Möglichkeit auch verkörpern und ausspielen sollten. Durch die Aufstellung wurde der Seminargruppe und der Dozentin bewusst, wie schwierig es den Studierenden fiel, sich mental die Zukunft vorzustellen (die meisten blieben bei „in 2 Jahren“ und keine Gruppe wagte sich zum Maximalpunkt in „10 Jahren“ vor). Im weiteren Verlauf des Semesters wurde die in dieser Szene entwickelte Problematik daher vorsichtig weiter „inszeniert“, und zwar digital unterstützt, indem die Studierenden Schlüsselszenen spielten, auf Video aufzeichneten und psychologisch fundierte Lösungen entwickelten, die wiederum als Videoclips gedreht wurden. Am Ende des Semesters präsentierten die Studierendengruppen stolz ihre Ergebnisse und Videos zusammenfassend und vertieften sie durch interaktives spontanes Handeln, z. B. indem sie als Präsentation eine virtuelle Realität (VR) auf einer Bühne nachbildeten und als Theaterszene mit verkörperten Avataren in Szene setzten.

5 Zusammenfassung und Diskussion

Der vorliegende Beitrag beschäftigte sich mit Möglichkeiten für die Entwicklung innovativer Hochschullehre vor dem Hintergrund der Erfordernisse einer digitalisierten Gesellschaft, um insbesondere Ziele der Kreativität und „Future Skills“ nach Ehlers (2021) besser in den Blick zu nehmen. Es wurde exemplarisch gezeigt, welche Querbezüge und Übereinstimmungen zwischen der 4E-Kognitionstheorie und Psychodrama bestehen. Dies bleibt im Rahmen der hier adressierten Zielsetzung zunächst ein erster Schritt. Zukünftig könnten auf dieser Grundlage weitere Schritte folgen, wie z. B. eine umfassendere Ausarbeitung weiterer Querbezüge zu weiteren Konstrukten des Psychodrama und darstellender Methoden, um ihre Potenziale für die Hochschullehre auszuloten.

Bereits jetzt kann der 4E-Kognitionsansatz jedoch für eine systematische Entwicklung von Psychodrama-inspirierten Methoden in der Hochschullehre genutzt werden. Ein Praxisbeispiel wurde gegeben. Einzelne Techniken und Arrangements können entlang der 4E systematisiert und damit in ihrem Einsatz in der Hochschullehre wissenschaftlich fundiert werden. Damit gibt es einen Ansatz, um bestehende Kulturkonflikte zwischen dem Psychodrama (mit seiner eher therapeutischen Ausrichtung) und dem System Hochschule/akademische Lehre (mit ihren wissenschaftlichen Qualitätsansprüchen) abzubauen, so dass Hochschullehrer*innen entsprechend ihrer wissenschaftlichen Sozialisation ihre psychodramatisch inspirierte Lehre erklären, begründen und gestalten können und den berechtigten Erwartungen ihrer Institution und der Studierenden gerecht zu werden.

Damit sich die praktische Implementierung nicht in punktuellen Interventionen oder Lehrexperimenten erschöpft, sondern wirksam als Perspektive (und Grundhaltung) verankert werden kann, bedarf es weiterhin der fundierten Reflexion der psychodramatischen Handlungsoptionen (Wildt und Wildt 2014) im Licht der Erfordernisse einer adäquaten Hochschulentwicklung für eine digitalisierte Gesellschaft.