1 Einleitung

In Deutschland wechseln jährlich ca. 20.000 Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) von allgemeinen Grundschulen an weiterführende Schulen. Den Großteil machen dabei Kinder mit den Förderschwerpunkten emotional-soziale Entwicklung (ESE) sowie Lernen (LE) aus (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [KMK] 2022).

Kinder bzw. Eltern haben die Wahl zwischen einer weiteren inklusiven Beschulung oder einer Förderschule (Steinmetz et al. 2021). Diese Wahl ist bedeutsam, da Schulabgänger/innen der Förderschule mehrheitlich ohne Hauptschulabschluss die Schule verlassen (Klemm 2010) und somit andere Berufschancen haben als nach einer inklusiven Beschulung. Dies könnte daraus resultieren, dass die Lern- und Leistungsentwicklung in inklusiven Settings günstiger verläuft (z. B. Kocaj et al. 2014; Stein und Ellinger 2018; Wild et al. 2015). Für motivational-emotionale Merkmale sind die Befunde jedoch weniger eindeutig. Zwar belegen einzelne Studien Nachteile hinsichtlich der Entwicklung des Fähigkeitsselbstkonzepts (z. B. Stelling 2017) und der sozialen Partizipation (z. B. Kohrt et al. 2021) in inklusiven Settings, jedoch scheint die Qualität der Einzelschule sowie der Lehrkraft entscheidender zu sein als eine exklusive oder inklusive Beschulung (Schwinger et al. 2020). Demnach steht eine Wahl an, in die wohlüberlegte Kriterien einfließen sollten.

Bei der Entscheidung über die weitere Beschulung haben die Eltern in fast allen deutschen Bundesländern ein schulgesetzlich verankertes Recht zur Wahl der Schulform (Regel- vs. Förderschule), wenn auch nicht der Einzelschule (Steinmetz et al. 2021). In einigen Ländern, z. B. in Nordrhein-Westfalen (NRW), ist es Aufgabe der Lehrkräfte, die Eltern bei der Schulformwahl zu beraten (SchulG NRW 2022 § 11; AO-GS NRW 2022 § 8) und ihnen entweder die Regel- oder die Förderschule zu empfehlen. Befunde zur elterlichen Schulformwahl bei Schüler/innen ohne SPF (z. B. Ditton und Krüsken 2010) oder zur Entscheidung über den (Grundschul‑)Förderort bei Schüler/innen mit SPF (Klicpera und Gasteiger-Klicpera 2003a, 2004) lassen vermuten, dass sich Eltern auch bei der Wahl zwischen Regel- und Förderschule am Grundschulübergang an dieser Empfehlung orientieren. Denn ein Großteil der Eltern fühlt sich bei der Entscheidung unsicher und nimmt das Beratungsangebot gerne an (Klicpera und Gasteiger-Klicpera 2003a).

Angesichts der Bedeutsamkeit der Schulformempfehlung sollte sich diese auf objektive, für alle Schüler/innen verbindliche Kriterien stützen. Bei Schüler/innen ohne SPF sind allerdings nicht nur Schulleistungen und leistungsnahe Merkmale der Schüler/innen für die Empfehlung prädiktiv. Entgegen den rechtlichen Vorgaben haben auch leistungsferne Merkmale eine nicht zu vernachlässigende Vorhersagekraft, was auf soziale Ungleichheit hinweist (zsf. Glock et al. 2013). Auch steht die Empfehlung in einem Zusammenhang mit dem regionalen Schulangebot und spiegelt somit regionale Ungleichheit wider (Ditton 1992, 2007).

Unbekannt ist, ob auch die Schulformempfehlung für Schüler/innen mit SPF zu solchen Ungleichheiten führt. Dies erscheint jedoch aus zwei Gründen plausibel: (1) Die zunehmende Schließung von Förderschulen (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSB NRW] 2021) dürfte zu einer regionsabhängigen Angebotseinschränkung an Schulen für Kinder mit bestimmten Förderschwerpunkten (FSPen) führen. (2) Je nach FSP sind Kinder auf spezifische Unterstützung angewiesen (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSW NRW] 2016; Heimlich und Kiel 2020). Viele Regelschulen sind aber noch nicht hinreichend auf die Förderung von Kindern mit SPF vorbereitet. Es finden sich Unterschiede in der personellen und räumlichen Ausstattung sowie der konzeptuellen Vorbereitung der Schulen (MSB NRW 2019). Hier könnten vor allem bildungsnahe, unterstützende Eltern eine vergleichsweise schlechte Ausstattung von Schulen kompensieren.

In diesem Beitrag untersuchen wir, inwiefern Kinder mit SPF am Übergang zur weiterführenden Schule von sozialen und regionalen Disparitäten betroffen sind.

2 Soziale und regionale Ungleichheit am Grundschulübergang

Übergänge gelten als Gelenkstellen in der Bildungsbiographie, da sie entscheidend zur Entstehung bzw. Vergrößerung von Ungleichheit beitragen (Arnold et al. 2007). Entsprechend widmet sich ein Großteil der Forschung zur Schulformempfehlung der Frage nach sozialer Ungleichheit am Übergang. Grundlage hierfür ist die auf Rational Choice-Theorien fußende Unterscheidung von Boudon (1974) in primäre und sekundäre Effekte bei der herkunftsbedingten Wahl von Bildungswegen: Primäre Herkunftseffekte bestehen, wenn durch eine unterschiedliche Ausstattung von Familien mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital sozialschichtspezifische Leistungsunterschiede entstehen, die zu Unterschieden im Schulwahlverhalten führen. Die von Leistungen unabhängigen sekundären Effekte dagegen sind Resultat herkunftsspezifischer, elterlicher Bewertungsunterschiede in Bezug auf Kosten, Nutzen und Erfolgschancen bei der Wahl eines bestimmten Bildungsweges. So können Eltern trotz vergleichbarer Leistungen ihrer Kinder in Abhängigkeit von ihrer Sozialschichtzugehörigkeit z. B. die Erfolgswahrscheinlichkeiten ihres Kindes oder die Kosten einer möglicherweise erforderlichen außerschulischen Lernunterstützung unterschiedlich bewerten.

Theoretische Erweiterungen der Unterscheidung von Boudon (1974) berücksichtigen abgesehen von den Eltern auch weitere, an Bildungsentscheidungen beteiligte Personen (z. B. Maaz und Nagy 2010). Beispielsweise tragen Lehrkräfte zu sekundären Herkunftseffekten bei, wenn sie bei der Empfehlung den sozialen Hintergrund eines Kindes berücksichtigen.

Neben sozialer Ungleichheit betrachtet die Übergangsforschung auch regionale Ungleichheit. Sie entsteht, wenn strukturelle Restriktionen den Entscheidungsspielraum regionalspezifisch limitieren (Maaz et al. 2018): Einerseits können angebotsbedingte Restriktionen bestehen, wenn die Qualität (z. B. Schulprofile) und Quantität (z. B. Anzahl an Gymnasien) der erreichbaren Schulen in einer Region eingeschränkt ist, z. B. ist auf dem Land nach wie vor die Entfernung zu Schulen mit einer Sekundarstufe II höher als in der Stadt (Neumeier 2018). Andererseits können kapazitätsbedingte Restriktionen bestehen, wenn Schulen zu wenige Plätze gemessen an der Gesamtzahl der Bewerber/innen haben, wie dies häufig in Großstädten der Fall ist.

3 Übergangsempfehlungen: Soziale und regionale Ungleichheit

3.1 Soziale Ungleichheit

Soziale Ungleichheiten im Kontext der Grundschulempfehlung sind bislang nicht für Kinder mit SPF, sondern nur für Kinder ohne SPF untersucht. Für die Schulformempfehlung weist hier die Befundlage konsistent Schulnoten und Leistungstests als stärkste Prädiktoren der Empfehlung aus (zsf. Glock et al. 2013). Aber auch mehr oder weniger leistungsnahe Merkmale wie Arbeits- und Sozialverhalten, Persönlichkeitsmerkmale oder die körperliche Verfassung leisten einen Vorhersagebeitrag (Arnold et al. 2007; Diebig 2016; Klapproth et al. 2013; Pohlmann 2009). Entgegen rechtlichen Vorgaben (z. B. KMK 2015) begünstigen jedoch zudem schulferne Prädiktoren die Empfehlung für eine höhere Schulform, darunter u. a. eine gute soziale Lage. Ein großer Teil der Studien operationalisierte die soziale Lage in den Elternhäusern über Strukturmerkmale (Baeriswyl et al. 2006; Caro et al. 2009; Gröhlich und Guill 2009; Lintorf et al. 2008; Neumann et al. 2010; Schneider 2011). Dabei scheint dem Bildungshintergrund eine höhere Bedeutung zuzukommen als anderen Merkmalen der sozialen Lage, wie z. B. dem sozioökonomischen Status (Neumann et al. 2010; Schmitt 2008; Stahl 2007). Die mit Strukturmerkmalen zusammenhängenden Prozessmerkmale wurden bislang höchstens in Form des kulturellen Kapitals (Braun und Mehringer 2010; Wagner et al. 2010), der elterlichen Unterstützung (Schmitt 2008; Schneider 2011) oder der elterlichen Aspirationen (Dumont et al. 2019; Schneider 2011) in die Analysen aufgenommen. Wurden sie gemeinsam mit Strukturmerkmalen berücksichtigt, konnten sie deren Vorhersagekraft, ausgenommen bei den elterlichen Aspirationen, nicht kompensieren (Schmitt 2008; Schneider 2011). Gleichzeitig unterstreichen die wenigen qualitativen Studien in diesem Forschungsfeld aber die Bedeutung der Prozessmerkmale, insbesondere im Falle der elterlichen Unterstützung (Diebig 2016; Hollstein 2008). Diese scheint aber je nach Schüler/innenfall unterschiedlich stark in die Empfehlungsfindung einzufließen, da sie in Interviews mal vordergründig und mal randständig thematisiert wird (Diebig 2016). In einer weiteren Interviewstudie berichten Lehrkräfte zudem sehr eindrücklich von elterlichen Versuchen, eine ihren Aspirationen entsprechende Schulformempfehlung regelrecht auszuhandeln (Pohlmann 2009).

Wenn auch entsprechende Studien zur Übergangsempfehlung für Kinder mit SPF fehlen, so lassen Befunde aus der Forschung zur Feststellung des SPFs und zur Überweisung zur Förderschule vermuten, dass auch bei Kindern mit SPF der soziale Hintergrund in Lehrkrafturteile einfließt. Beispielsweise begründen Lehrkräfte die Eröffnung eines Verfahrens zur Überprüfung des SPFs an erster Stelle mit (mangelnden) Leistungen. Zudem werden aber auch das Arbeits- und Sozialverhalten sowie der familiäre Hintergrund berücksichtigt und können ausschlaggebende Gründe für die (Nicht‑)Eröffnung des Verfahrens sein (Kottmann und Miller 2014, 2016). Auch in Gutachten anlässlich eines Sonderschulaufnahmeverfahrens für Kinder mit Migrationshintergrund fließen nicht nur kindbezogene, sondern auch familiäre Merkmale wie z. B. die Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern ein (Gomolla und Radtke 2009). Familiäre Merkmale scheinen zudem den Zugang zur Förder- vs. Regelschule zu bestimmen. So unterscheidet sich die Zusammensetzung der Schüler/innen in inklusiven vs. exklusiven Settings beispielsweise in Bezug auf den sozioökonomischen Hintergrund (Kölm et al. 2019; Preuss-Lausitz 2013; Wocken 2007). Hieran könnten auch die Lehrkräfte Anteil haben, wie Studien zur Beratung von Eltern bezüglich der Wahl einer inklusiven oder exklusiven Beschulung für ihre Kinder nahelegen (Klicpera und Gasteiger-Klicpera 2003a, 2004).

3.2 Regionale Ungleichheit

Ebenso wie soziale Ungleichheiten sind auch regionale Ungleichheiten im Zusammenhang mit der Grundschulempfehlung für Kinder mit SPF bisher nicht untersucht. Die Forschung konzentriert sich sowohl bei Kindern mit als auch ohne SPF auf die Schulwahlmotive und Präferenzen der Eltern. Thematisiert werden dabei meist schulstrukturelle Kriterien, die mit angebotsbedingten Restriktionen (s. Abschn. 2) im Zusammenhang stehen: Auf der einen Seite ist die Wohnortnähe als pragmatisches Kriterium der Schulwahl zu nennen (zsf. Sixt 2013; für Kinder mit SPF s. Klicpera und Gasteiger-Klicpera 2003b; Kölm und Gresch 2021). Auf der anderen Seite thematisieren Eltern auch die Schulqualität, die sie jedoch nicht an harten, sondern an weichen Qualitätskriterien festmachen (Maaz et al. 2018): Dazu zählen z. B. die soziale und leistungsbezogene Zusammensetzung der Schüler/innen oder Merkmale des Schulprofils wie etwa fachliche Schwerpunkte (Klinge 2016), aber auch die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten an der betreffenden Schule bzw. Schulart (Kölm und Gresch 2021).

Vergleichbare Befunde zur Empfehlung der Lehrkräfte fehlen weitgehend. Dennoch finden sich auch hier vereinzelte Hinweise für einen Zusammenhang mit schulstrukturellen Kriterien. Ähnlich wie bei den Eltern betrifft dies die Wohnortnähe (Ditton 1992), aber auch das Platzangebot und die Schulqualität (Gomolla und Radtke 2009). Darüber hinaus besteht auch ein Zusammenhang mit der Schulformdichte. So haben gemäß einer Untersuchung im Bundesland Bayern Kinder eine höhere Chance auf eine Hauptschulempfehlung, wenn sie in einer Region mit hoher Volksschuldichte leben, d. h. also bei einer hohen Anzahl an Grundschulen mit angegliederter Teilhauptschule (Ditton 2007).

Noch weniger belastbar ist die Forschungslage für Kinder mit SPF. Regionale Ungleichheiten bei der Schulwahl und Schulformempfehlung für diese Kinder erscheinen aber angesichts von Förderschulschließungen (Dietze 2019, z. B. in NRW ca. 33 % über die letzten 10 Jahre, MSB NRW 2021), eines je nach Landkreis variierenden Angebots an Schulen für verschiedene Förderschwerpunkte (Dietze 2011) und eingeschränkter Wahlmöglichkeiten der Einzelschule (Steinmetz et al. 2021) hoch plausibel. Dazu passend verweist Dietze (2011) auf regionalspezifische Unterschiede in den Förderschulbesuchsquoten und schlussfolgert, „dass das Risiko einer Förderschulüberweisung vom Wohnort der Eltern determiniert wird“ (S. 18). Auch steht die regionale Angebotsdichte an Förderschulen mit dem Anteil von Kindern mit festgestelltem SPF in Zusammenhang. Goldan und Grosche (2021) sehen darin das Bestreben nach einem Selbsterhalt von Systemen.

4 Fragestellung

Auch wenn Schulformempfehlungen für Kinder ohne SPF in erster Linie von Leistungen und leistungsnahen Merkmalen abhängen, finden sich auch Zusammenhänge mit sozialen Kriterien wie z. B. mit der elterlichen Unterstützung (Diebig 2016; Hollstein 2008) und mit regionalspezifischen Faktoren wie z. B. mit der Wohnortnähe einer Schule (Ditton 1992). Entsprechende Studien für Kinder mit SPF stehen noch aus. Hier könnten soziale Kriterien und regionalspezifische Faktoren noch stärker ins Gewicht fallen, denn ähnliche Befunde finden sich für andere pädagogische Entscheidungen (Gomolla und Radtke 2009; Kottmann und Miller 2014, 2016). Hinzu kommt zum einen, dass Schulwahlmöglichkeiten für Kinder mit SPF deutlich eingeschränkter als für Kinder ohne SPF sind (Steinmetz et al. 2021), was auch die Empfehlung für/gegen eine weitere inklusive Beschulung beeinflussen könnte. Zum anderen bedürfen Kinder mit SPF je nach Förderschwerpunkt einer besonderen Unterstützung (Heimlich und Kiel 2020; MSW NRW 2016), die nicht zuletzt die Eltern leisten könnten. Beides dürften auch Lehrkräfte in ihrer Empfehlung berücksichtigen. Daraus ergibt sich unsere erste Forschungsfrage:

  1. 1.

    Fließen neben kindbezogenen auch familiäre und schulstrukturelle Kriterien in die Empfehlung ein?

Unerforscht ist, ob die verschiedenen Kriterien in allen Schüler/innenfällen gleichermaßen zur Empfehlung beitragen. Wir vermuten, dass sich die Bedeutung der Kriterien, wie bei der qualitativen Erforschung der Empfehlung für Kindern ohne SPF (Diebig 2016), je nach Fall unterscheiden könnte. Da bislang unklar ist, wodurch sich verschiedene Fälle definieren, gehen wir dieser Frage explorativ nach und untersuchen Unterschiede in den Begründungsmustern bei Fällen mit einer Empfehlung für die Regelschule vs. bei Fällen mit einer Empfehlung für die Förderschule. Daraus ergibt sich unsere zweite Forschungsfrage:

  1. 2.

    In welchem Ausmaß fließen kindbezogene, familiäre und schulstrukturelle Kriterien in die Begründung einer inklusiven vs. exklusiven Empfehlung ein?

5 Methode

5.1 Durchführung

Die vorliegenden Daten stammen aus einem Projekt zur Erforschung des Übergangs von der Grund- zur weiterführenden Schule bei Kindern mit SPF. Die Kontaktaufnahme zu den Teilnehmenden fand zwischen Mai und September 2020 erst per E‑Mail und anschließend telefonisch statt. Die Teilnahme an den Interviews erfolgte freiwillig, unter informierter Einwilligung und ohne Vergütung. Geschulte Interviewer/innenFootnote 1 führten die durchschnittlich 54-minütigen (min: 31 min, max: 120 min) Interviews am Ende des Schuljahres 2019/2020 oder zu Beginn des Schuljahres 2020/2021.

Pandemiebedingt fanden die Interviews ausschließlich über die Video-Telefonie-Software Zoom statt. Zur Sicherung des Datenschutzes dienten geeignete Maßnahmen sowohl bei der Durchführung (z. B. Zugangspasswort, Warteraumfunktion) als auch der Speicherung (z. B. Aufzeichnung mit externem Aufnahmegerät, Anonymisierung in den Transkripten) der Interviews. Die Lehrkräfte wurden zu Beginn der Interviews auf diese Maßnahmen hingewiesen und zur Verwendung von Klarnamen ermutigt. Dies sicherte eine möglichst freie Erzählung.

5.2 Stichprobe

Insgesamt wurden zwölf Interviews geführt. Interviewpartner/innen waren sieben Regelschullehrkräfte (RLK) und fünf Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung (SLK) im Gemeinsamen Lernen aus neun nordrhein-westfälischen Grundschulen in verschiedenen Großstädten und drei kleinen Gemeinden. Die Befragten waren in ihrer Funktion als Klassenlehrkräfte oder Sonderpädagog/innen für die Begleitung des Übergangs und die Schulformempfehlung verantwortlich. Das Sampling berücksichtigte unterschiedliche Professionen (SLK vs. RLK) sowie Schulstandorte und -größen (zwei- bis vierzügig), um den explorativen Anteilen der Studie Rechnung zu tragen. Entsprechend dem Prinzip der Varianzmaximierung (Patton 2015) war das Stichprobensampling somit heterogen deduktiv angelegt. Voraussetzung zur Teilnahme war die zumindest einmalige Begleitung von Schüler/innen mit SPF im Übergang von Klasse 4 in Klasse 5. Die Interviewten waren im Durchschnitt 49,67 Jahre (SD = 8,81) alt, hatten durchschnittlich 22,37 Jahre (SD = 7,44) Berufserfahrung (eine fehlende Angabe) und waren mehrheitlich weiblich (n = 11).

In den Interviews wurden die Lehrkräfte gebeten sich auf einzelne, ausgewählte Kinder zu beziehen. Dabei sollte es sich um Kinder mit den FSPen ESE und/oder LE handeln, denn diese FSPe sind in inklusiven Settings am häufigsten vertreten (MSB NRW 2020). Die Lehrkräfte wählten Kinder aus, die sie in den Schuljahren 2017/18, 2018/19 oder 2019/20 im Übergang begleitet hatten. Damit ergibt sich ein maximaler zeitlicher Abstand von bis zu zwei Jahren zum Zeitpunkt des Übergangs. Unter den Kindern waren drei mit dem FSP LE, zwei Kinder mit den FSPen LE und Sprache, sechs Kinder mit dem FSP ESE (davon ein Kind mit Autismus-Spektrum-Störung) sowie ein Kind mit den FSPen ESE und LE. Von diesen Kindern hatten fünf eine Förderschulempfehlung und sieben eine Regelschulempfehlung erhalten.

5.3 Erhebungsinstrument

Die Datenerhebung erfolgte durch leitfadengestützte Interviews. Der Interviewleitfaden besteht aus zwei Teilen. Für die hier thematisierten Forschungsfragen ist in erster Linie der erste, episodisch angelegte Teil des Leitfadens relevant. Dieser beinhaltet im Kern zwei Fragen, die Narrationen über die für die Lehrkräfte empfehlungsrelevanten Kriterien bei einem einzelnen, ausgewählten Kind anstoßen (1. Wann haben Sie das erste Mal über den weiteren Bildungsweg nachgedacht? 2. Was ist Ihnen mit Blick auf den Übergang bei diesem Kind besonders in Erinnerung geblieben?). In den Narrationen können die Interviewten eigene Themen sowie konkrete Erfahrungen und Erlebnisse einbringen. Gleichzeitig erlauben die leitfadengestützten Nachfragen der interviewenden Person eine relativ starke, explorierende Mitgestaltung. So kann sie theoretisch oder empirisch inspirierte Themen ansprechen, die von den Interviewten nicht oder nur randständig benannt wurden (z. B. Sie haben gerade … angesprochen. Vielleicht können Sie das anhand einer konkreten Situation illustrieren? Sie haben jetzt schon über … berichtet. Gibt es noch andere Aspekte, die Sie mit Blick auf den Übergang für dieses Kind wichtig finden?). Wie andere Arbeiten zeigen, begünstigt diese Interviewform zudem, dass auch sozial unerwünschte Kriterien (z. B. soziale Herkunft) thematisiert werden (Diebig 2016). Der zweite Teil des Interviews geht über die fallspezifischen Auskünfte hinaus und thematisiert fallübergreifend Aspekte zum diagnostischen Prozess bei der Formation der Übergangsempfehlung, die für die hier im Fokus stehenden Fragestellung nicht relevant sind.

5.4 Auswertung

Alle Interviews wurden mit einem vereinfachten Transkriptionssystem transkribiert (Dresing und Pehl 2018), das vor allem eine gute Lesbarkeit sicherstellen sollte. Es folgte eine inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse (Kuckartz 2018) in MAXQDA (VERBI Software 2019). Diese Art der Auswertung erscheint für unsere Fragestellungen besonders geeignet, da sie einerseits ein deduktives Kategoriensystem beinhaltet, welches sich an den Interviewfragen orientiert und somit theoriebasiert ist, und andererseits auch die induktive Generierung von Kategorien erlaubt. Relevant für die hier aufgeworfenen Fragestellungen waren Daten der drei Hauptkategorien kindbezogene, familiäre und schulstrukturelle Kriterien. Diese wurden über weitere, deduktiv und induktiv gebildete, Subkategorien ausdifferenziert (s. Abb. 1). Um die Güte der Kodierungen sicherzustellen, kodierten wir die Interviews zu Beginn wie auch bei später auftretenden Unsicherheiten konsensuell.

Abb. 1
figure 1

Kategoriensystem und Nennungshäufigkeiten pro Haupt- bzw. Subkategorie (deduktiv gebildete Kategorien mit * versehen) für alle Schüler/innenfälle vs. aufgeschlüsselt nach ausgesprochener Schulformempfehlung (Regelschule (RS)/Förderschule (FS))

Die Daten wurden quantitativ und qualitativ ausgewertet. Im Folgenden berichten wir zum einen die Häufigkeiten bezogen auf die (Haupt)Kategorien (getrennt für eine inklusive vs. exklusive Empfehlung) und zum anderen dienen Zitate aus den einzelnen Subkategorien zur Veranschaulichung der häufigsten Argumente bzw. Argumentationsmuster. Über die Verteilung der Häufigkeiten auf die unterschiedlichen (Haupt)Kategorien schließen wir auf die Relevanz der Kriterien (Mayring 2015).

6 Ergebnisse

6.1 Berücksichtigung kindbezogener, familiärer und schulstruktureller Kriterien bei der Formation der Empfehlung (Fragestellung 1)

Entsprechend der ersten Forschungsfrage betrachten die folgenden Analysen zunächst die Verteilung der Nennungen auf die drei Hauptkategorien. Insgesamt 152 Kodiereinheiten lassen sich den drei Hauptkategorien zuordnen (s. Abb. 1). Dabei verteilt sich der Großteil der Kodiereinheiten auf die Kategorien schulstrukturelle (67) sowie kindbezogene Kriterien (63). Deutlich geringer ist die Anzahl der Kodiereinheiten in der Kategorie familiäre Kriterien (22).

Insgesamt 80 Kodiereinheiten entfallen auf die fünf Fälle, in denen die Lehrkraft eine Empfehlung für die Förderschule ausgesprochen hat (s. Tab. 1). Dies entspricht im Durchschnitt 16,00 kodierten Segmenten pro Fall (min = 8, max = 23). 72 Kodiereinheiten entfallen auf die sieben Fälle mit einer Empfehlung für das inklusive Lernen. Hier wurden durchschnittlich 10,29 Segmente kodiert (min: 4, max: 18).

Tab. 1 (Durchschnittliche) Anzahl der genannten Kriterien pro Interview, aufgeschlüsselt nach Kriteriengruppe und ausgesprochener Schulformempfehlung

Werden die genannten Kriterien getrennt nach der Empfehlung (Regel- vs. Förderschule) betrachtet, so ergibt sich folgendes Bild (s. Tab. 1): Die 72 Kodiereinheiten bei einer inklusiven Empfehlung verteilen sich fast gleichermaßen auf kindbezogene (38) sowie schulstrukturelle (31) Kriterien. Lediglich drei Kodiereinheiten entfallen auf die Kategorie familiäre Kriterien. Werden die 80 Kodiereinheiten bei einer exklusiven Empfehlung betrachtet, so überwiegen hier deutlich die schulstrukturellen Kriterien (36). Mit 25 Kodiereinheiten werden etwas mehr kindbezogene als familiäre Kriterien (19) genannt. Bei einem Vergleich der durchschnittlichen Nennungen pro Interview fällt auf, dass schulstrukturelle Kriterien bei einer Förderschulempfehlung gut doppelt so häufig und familiäre Kriterien sogar 8,8-mal häufiger genannt werden als bei einer Regelschulempfehlung.

6.2 Argumentationsmuster bei einer inklusiven vs. exklusiven Empfehlung (Fragestellung 2)

Die Analysen im vorangegangenen Abschnitt verdeutlichen bereits, dass sich die genannten Kriterien für eine Förderschul- vs. Regelschulempfehlung unterschiedlich auf die Kriteriengruppen verteilen. Entsprechend der zweiten Forschungsfrage differenzieren die folgenden Analysen die Argumentationsmuster je nach Art der Empfehlung.

6.2.1 Schulstrukturelle Kriterien

Für alle interviewten Lehrkräfte waren schulstrukturelle Kriterien bei ihrer Übergangsempfehlung relevant. Dabei zeigen sich Unterschiede in Abhängigkeit von der Empfehlung für oder gegen das weitere gemeinsame Lernen.

Bei der Empfehlung einer Förderschule nennen die Lehrkräfte am häufigsten die speziellen Fördermöglichkeiten. Für ein Kind mit dem FSP ESE (mit Autismus-Spektrum-Störung) beispielsweise empfiehlt die Lehrkraft eine Förderschule mit einer Klasse „speziell für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung“ (Interview 1, SLK). Vor allem aber werden die Inklusionsmöglichkeiten an der Regelschule in unseren Interviews in Frage gestellt, denn ein großer Teil der Kodiereinheiten entfällt auf die Subkategorie „problematisch an der Regelschule“. Hier verbinden die befragten Lehrkräfte ihre Zweifel über eine angemessene individuelle Förderung häufig mit ihrer Einschätzung über mangelnde personelle Ressourcen:

„Wo einfach nicht so individuell auf ihn eingegangen werden kann […] Man kann einfach, man hat die Ressourcen gar nicht, um sich so um so ein Kind zu kümmern in der weiterführenden Schule.“ (Interview 5, SLK)

Einen spezifischen Personalmangel sehen die interviewten Lehrkräfte vor allem in der Ausstattung der weiterführenden Regelschulen mit Stellen für sonderpädagogische Lehrkräfte:

„Weil die Sonderschullehrer immer wechseln, die werden ja an den weiterführenden Schulen, die haben ja auch immer Probleme Sonderschullehrer zu kriegen, die werden immer abgeordnet und sind dann meistens nur ein Jahr oder zwei Jahre da.“ (Interview 12, SLK)

Dieselbe Lehrkraft mutmaßt zudem, dass die Kolleg/innen an der weiterführenden Schule „den Gesamtunterricht planen“, ihn jedoch nur unzureichend differenzieren, sodass nicht jedes Kind „wirklich an der Stelle abgeholt“ wird, wo es steht: „Und dann sind da die eins, zwei, drei Kinder, die etwas anderes brauchen. Die fallen leider, so ist es, immer mal wieder hinten über.“ (Interview 12, SLK).

Nicht immer handelt es sich um Mutmaßungen. Die Interviews zeigen auch, dass Kooperationen zwischen Grund- und weiterführenden Schulen bestehen. Eine enge Kooperation mit einer umliegenden Förderschule wird im Kontext einer Empfehlung für die Förderschule in zwei von fünf Interviews angeführt.

Als ein weiteres schulstrukturelles Kriterium führen die Lehrkräfte unserer Stichprobe die Systemgröße an. Insbesondere bei Kindern mit dem FSP ESE scheint die typischerweise geringe Größe der Förderschule ausschlaggebend für eine Förderschulempfehlung. Eine der interviewten Lehrkräfte befürchtet z. B., dass „ein System von vielen Kindern für gerade diese Kinder ja oft tödlich ist.“ (Interview 06, RLK).

Die Vermutung, dass insbesondere die Wohnortnähe Einfluss auf die Empfehlung hat (s. Abschn. 3.2), ist schwierig zu eruieren, da sie nur in zwei Interviews mit einer Förderschulempfehlung zur Sprache kommt. In einem Fall stellt die Nähe ein positives Kriterium dar, da z. B. die Schule dann „schneller zugreifen kann, wenn die Mutter mal wieder den Wecker nicht stellt.“ (Interview 06, RLK). Eine andere Lehrkraft empfiehlt hingegen eine Schule, gerade weil sie mit dem Bus zu erreichen ist. Hintergrund ist die Förderung der Selbstständigkeit des Kindes und die Loslösung von der überbehütenden Mutter:

„Und für die war ganz klar, dieses Kind geht auf jeden Fall in die Orts- also in die benachbarte Sekundarschule, die von uns 300 Meter entfernt ist, ja, damit sie alles so im Überblick hat und damit sie weiter ihn so ein bisschen, ja, nah bei sich hat, sage ich mal. […] Aber auch um dieser Mutter die Bedeutung klar zu machen, sie muss ihn auch mal loslassen und kann nicht immer vor Ort mit ihm, ja, händchenhaltend in die Schule kommen mehr oder weniger. Das ist eine erzieherische Sache, die da auch mit eine Rolle spielte, um dem Jungen mehr Selbstständigkeit zu ermöglichen.“ (Interview 05, SLK)

Bei der Empfehlung einer Regelschule wird deutlich, dass die Lehrkräfte insbesondere den Gesamtschulen Inklusion und somit individuelle Fördermöglichkeiten von Kindern mit SPF zutrauen, weil „die einfach deutlich erfahrener sind mit GL und ja auch oft Sonderpädagogen an ihren Schulen haben“ (Interview 04, RLK). Dabei bezieht sich die Empfehlung jedoch häufig auf eine spezielle Einzelschule, in einem Fall auch auf eine Realschule:

„Aber eigentlich war -‑ also bei Max war es einem wirklich klar, dass er auf diese Realschule gehen wird, weil die halt auch eine Sozialpädagogin in einer Klasse haben, so dass da auch inklusiv gearbeitet werden kann. Also die sind da doppelt besetzt und mit Sozialarbeiterin und das, und ich glaube sogar mit einer Therapeutin auch. Also die sind da sehr gut besetzt und ganz nah an den Kindern.“ (Interview 09, RLK)

Dabei vergleichen die Lehrkräfte die unterschiedlichen Einzelschulen sehr genau miteinander:

„Aber das ist auch eine Gesamtschule, die ist aus der Hauptschule entstanden. Viele Sonderpädagogen sind rüber gewechselt zur Gesamtschule. […] Ich hatte oft den Eindruck die Hauptschule interessiert sich für die Schüler. […] Hauptschule hat ja noch so Klassenlehrerprinzip. Und die brauchen auch die Anbindung an den Klassenlehrer. […] Wobei ich, ich sage mal so, zu der anderen Gesamtschule, die wir haben, die war schon immer sehr leistungsorientiert. […] Wir haben bewusst diese Gesamtschule auch genommen, weil wir den Eindruck haben, dass die auch mit schwierigen Kindern besser klarkommen.“ (Interview 03, SLK)

Ein Großteil dieses Wissens scheint auch hier auf Grundlage enger Kontakte bzw. Kooperationen mit den weiterführenden Schulen zu beruhen. Dieser gestaltet sich einerseits in Form organisationaler Maßnahmen wie z. B. Schnupperstunden für Schulklassen oder auch als persönlicher Kontakt zwischen den Lehrkräften. Beispielsweise spricht eine Lehrkraft von „einem guten Draht“ zu den Lehrkräften der weiterführenden Schule und einer Offenheit „in der Kommunikation“. Zudem betont sie die enge Zusammenarbeit der Sonderpädagog/innen beider Schulformen (Interview 03, SLK).

Auch bei einer Regelschulempfehlung kann die Systemgröße ausschlaggebend sein. So vernachlässigt eine Lehrkraft die Nachteile eines großen Gesamtsystems, da die Schule ein separates, kleineres Subsystem für Kinder der Erprobungsstufe hat:

„Die sind da auch so sehr schön ausgelagert, also auch räumlich ausgelagert, dass die da in dem großen System, die haben 1200 Kinder, so eine Art Welpenschutz auch haben. Also die haben einen eigenen Schulhof, einen Stall mit Tieren.“ (Interview 02, RLK)

Das Kriterium der Wohnortnähe thematisieren Lehrkräfte, die sich für das weitere gemeinsame Lernen ausgesprochen haben, ebenso selten wie die Lehrkräfte, die die Förderschule empfohlen haben. Mit Blick auf die Entscheidung für eine Regelschule erklärt eine Lehrkraft, dass die Wahl einer wohnortnahen Förderschule problematisch sein kann:

„Und die Schule ist direkt im gleichen Ort. Sage ich mal eine Straße weiter. Das ist für viele dann auch ein Handicap. […] Oft sind ja diese Förderschulen ein bisschen verschrien. Da kommen dann die ganz Schwierigen hin. Und wenn man in diesem Dorf, das ist ja ein Dorf, keine Ahnung, 700-, 800-Seelendorf […]. Das macht was, wenn das Kind dann dahinkommt.“ (Interview 03, SLK)

Andererseits wird eine wohnortnahe Schule aus Gründen der Erreichbarkeit empfohlen:

„Aber ansonsten war sie da jetzt auch mit der Gesamtschule ganz zufrieden gewesen, weil das auch vom Schulweg das nächste ist, ne? Das war uns auch noch so ein bisschen wichtig. Die Sekundarschule wäre dann auch weiter weg gewesen und da hätte sie alleine mit dem Bus hinfahren müssen. Das wäre für sie auch schon wieder, ja so ein Punkt gewesen, der für sie unangenehm gewesen wäre.“ (Interview 11, RLK)

6.2.2 Kindbezogene Kriterien

In jedem Interview werden kindbezogene Kriterien angeführt, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Dabei stehen kindbezogene Kriterien immer in einem Zusammenhang mit schulstrukturellen Kriterien, wie die Möglichkeiten der individuellen Förderung an der Schule oder vorhandene sonderpädagogische Unterstützung/Expertise. Entsprechend finden sich auch hier Unterschiede in den Argumentationsmustern in Abhängigkeit von der empfohlenen Schulart.

Im Kontext einer Förderschulempfehlung kommen am häufigsten Persönlichkeitsmerkmale zur Sprache. Eine Lehrkraft beschreibt beispielsweise ein Kind mit geringer Frustrationstoleranz. Dieses verlässt während der Schulzeit regelmäßig das Schulgelände, sodass eine Lehrkraft sich teilweise in Einzelbetreuung nur um dieses Kind kümmern muss. Die hierzu benötigten personellen Ressourcen werden an weiterführenden Schulen in Frage gestellt.

Darüber hinaus kritisiert die Lehrkraft in diesem Zusammenhang auch das Fachlehrerprinzip, da sie damit Schwierigkeiten für einen angemessenen Beziehungsaufbau bzw. das Eingehen auf die sozial-emotionalen Bedürfnisse der Kinder an Regelschulen verbindet:

„Ja, es ist ein Kind, was einen sehr herausfordert, und was einen sehr engen, persönlichen Bezug zur Lehrkraft gesucht hat und auch benötigt und ja. Das ist jetzt der Knackpunkt, ob das an der weiterführenden Schule auch so passiert, dass man da Beziehungsarbeit leisten kann und inwiefern die dann sehr intensiv verlaufen wird. Das ist in der Grundschule sehr eng gelaufen und da weiß ich eben nicht, wie es in der Sekundarschule läuft.“ (Interview 08, SLK)

Als weitere kindbezogene Kriterien führen Lehrkräfte in unseren Interviews Defizite in der Lern- und Leistungsentwicklung an:

„Ein Kind, was so schwach ist, dem tut es nicht gut in so einem System wie Sekundarschule oder Gesamtschule oder was auch immer zu gehen, wo einfach nicht so individuell auf ihn eingegangen werden kann, weil viele Fächer, wirklich, das ist erfahrungsgemäß so, an ihm doch sehr vorbei gehen.“ (Interview 05, SLK)

Diese Schwierigkeiten im Lernen und Leisten werden ebenso wie die Persönlichkeitsmerkmale auch in Kombination mit der systemspezifischen Schüler/innenzusammensetzung betrachtet. Zwei Lehrkräfte beschreiben den Besuch einer Förderschule für Kinder als entlastend, weil der Vergleich mit den leistungsmäßig besseren Mitschüler/innen wegfällt:

„[…] und weil ein Kind da mehr aufgebaut werden kann und sieht, es lernt mit anderen Kindern, die GENAUSO viele Probleme haben. Wir wissen von vielen Kindern, die da aufblühen, weil die endlich mal merken, ‚Boah ich kann ja fast noch mehr, als der ein oder andere.‘ Dieses Gefühl haben sie, ja, in der Regelschule, in der Grundschule manchmal nicht so haben können.“ (Interview 05, SLK)

Während bei einer Empfehlung für die Förderschule Persönlichkeitsmerkmale im Vordergrund stehen, gilt dies nicht bei einer Empfehlung für die Regelschule. Hier sind v. a. positive Ausprägungen des Leistungsstandes („Also der Max hätte sicherlich noch mehr Möglichkeiten als die Realschule.“ Interview 09, KLK) und ein positives Arbeitsverhalten empfehlungsrelevant:

„Er fiel nicht auf in der Klasse. Also wenn man reinkam, es war wirklich, der lernte mit allen, der machte da irgendwie alles, nur halt ein bisschen langsamer. […] Also er hatte andere Bücher zum Beispiel. Also inklusive Bücher und darin hat er auch gearbeitet und das konnte er ziemlich gut alleine. […] Die Motivation, er wollte das auch. Er wollte lernen und er wollte, also das sind ganz wichtige Kriterien.“ (Interview 07, KLK)

Ähnliches gilt für die Einbindung in die Peergroup. Bei Förderschulempfehlungen wird sie nur einmal angeführt, hingegen ist dieser Aspekt für vier Lehrkräfte bei der Empfehlung einer Regelschule relevant, wie auch in diesem Fall:

„Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen, wenn wir die haben, dann sind das ja auch unterschiedliche Kinder. Manche können vom Typ her einfach auch, die schaffen das mehr, sich zu integrieren oder sie gehen in einer Gruppe mit, die sie stabil macht, wo man weiß, ‚Ah, die können es schaffen in eine Regelschule zu gehen und dort weiter im GL unterstützt zu werden.‘ Ähm, da traut man sich das auch, diesen Weg zu gehen.“ (Interview 05, SLK)

6.2.3 Familiäre Kriterien

Auf die Kategorie familiäre Kriterien entfallen insgesamt deutlich weniger Kodiereinheiten. Von 22 Kodiereinheiten entfallen dabei lediglich 3 auf eine inklusive Empfehlung.

Familiäre Kriterien werden als explizite Entscheidungsgrundlage für die Empfehlung des weiteren Gemeinsamen Lernens lediglich in einem Fall angesprochen. Im Rahmen der Gesamtinterviews beschreiben die Lehrkräfte jedoch meist auch die familiäre Situation. In drei Fällen mit einer inklusiven Empfehlung stellt sich diese sehr positiv dar (z. B. „ganz tolle Eltern“, Interview 03, SLK). Wird die familiäre Situation im Zusammenhang mit der Schulformentscheidung thematisiert, zeigt sich auch die Bedeutsamkeit der familiären Unterstützung: „Von daher waren da schon besonders gute Bedingungen, von häuslicher Seite.“ (Interview 09, KLK).

Bei der Empfehlung einer Förderschule bringen die Lehrkräfte die (nicht vorhandene) elterliche Unterstützung hingegen explizit mit der Empfehlungsformation in Verbindung. Eine Lehrkraft zählt verschiedene, notwendige Unterstützungsaspekte auf, die für den Besuch der Regelschule unerlässlich sind. Dazu gehört die „tägliche, stetige, regelmäßige Hilfe in allen Bereichen. Das fängt beim Tasche packen an, beim Ordnung halten, bei der Rückmeldung ‚Wie sieht denn diese Seite aus? Das musst du anders machen.‘ und Begleitung bei den Hausaufgaben.“ (Interview 12, SLK). Ist dies gegeben, so „sind das Kinder, die so einen Weg vielleicht auch mal schaffen können, wenn die so intensiv begleitet werden. Und das war bei den Eltern nicht der Fall.“ (Interview 12, SLK). Die Argumentation einer anderen Lehrkraft geht in dieselbe Richtung:

„Oder wenn wirklich vom häuslichen Umfeld her eine richtige, stabile Unterstützung auch beim Lernen da ist, ja, sodass Eltern auch richtig mitmachen und wissen, ‚Da muss ich auch dahinter sein‘ oder ‚Da helfe ich meinem Kind.‘ Wenn die das können, wenn die dazu in der Lage sind, dann empfehlen wir gerne eine Regelschule und haben da auch ein gutes Gefühl bei. […] Aber wirklich um die Lerninhalte, da finde ich ist dann bei diesen ganz schwachen Kindern echt eine Förderschule sinnvoll, wenn auch im Elternhaus nicht richtig mitgemacht wird.“ (Interview 05, SLK)

Weiterhin sprechen die interviewten Lehrkräfte sozial-emotionale Probleme der Eltern oder prekäre häusliche Situationen an, die zu einer mangelnden Unterstützung führen. Dies bezieht sich beispielsweise auf fehlende Routinen im Alltag sowie unregelmäßigen oder verspäteten Schulbesuch:

„Also wenn man mal verschlafen hat, dann kommt man erst um elf. […] So wie natürlich Hausaufgabenerledigungen, Bereitstellung von Materialien, das ist natürlich nicht eine Leistung, die immer nur das Kind erbringen kann oder es ist nicht die Aufgabe vom Kind.“ (Interview 06, KLK)

Diese familiären Kriterien werden ebenfalls mit schulstrukturellen Kriterien in Verbindung gebracht. So kann die Grundschule eine entsprechende familiäre Situation auffangen, indem dem Kind „Ankommenszeit“ gegeben wird, „um das, was im Vorfeld schon zuhause abgelaufen ist, erstmal zu verarbeiten.“ (Interview 08, SLK). Der weiterführenden Schule wird eine solche Toleranz hingegen nicht zugetraut:

„Ich kann mir vorstellen -‑ oder ich habe die Erfahrungen gemacht -‑, dass es an der weiterführenden Schule kein Netzwerk dafür gibt, diesen Schüler dann aufzufangen und mit seinen emotionalen Befindlichkeiten erstmal ankommen zu lassen. Sondern, dass da durch den Fachunterricht einfach, ja direkt Unterricht gemacht wird und für die sozial-emotionalen Probleme kein Platz ist.“ (Interview 08, SLK)

7 Diskussion

7.1 Zusammenfassung und praktische Implikationen

Ziel des vorliegenden Beitrags war ein Vergleich der Relevanz verschiedener Kriterien für die Grundschulempfehlung von Kindern mit SPF. Dabei betrachteten wir kindbezogene, familiäre und schulstrukturelle Kriterien im Zusammenhang mit einer Empfehlung für die Förder- vs. Regelschule.

In den Analysen erwiesen sich alle drei Kategorien von Kriterien als empfehlungsrelevant, dies jedoch in unterschiedlicher Gewichtung und in Abhängigkeit von der empfohlenen Schulart. Bei beiden Empfehlungen nannten die Lehrkräfte am häufigsten kindbezogene und schulstrukturelle Kriterien. Bei der Empfehlung für die Förderschule standen aber vor allem schulstrukturelle Kriterien im Vordergrund, die den Ressourcenvorteil und die Fördermöglichkeiten der Förderschule betrafen. Kapazitätsbedingte Restriktionen (Maaz et al. 2018) wie Aufnahmebegrenzungen fanden in unserem Material nur am Rande Erwähnung. Unter den angebotsbedingten Restriktionen gilt dies ebenso für das pragmatische Kriterium der Wohnortnähe (Sixt 2013) und die Schüler/innenzusammensetzung als „weiches“ Merkmal der Schulqualität (Klinge 2016). Auffällig war jedoch, dass die Wohnortnähe für die von uns befragten Lehrkräfte ein positives wie negatives Kriterium sein konnte.

Unter den kindbezogenen Kriterien fanden die Kriterien Erwähnung, die typischerweise auch beim Übergang von Kindern ohne SPF maßgeblich sind (Abschn. 3.1): Leistungen standen bei allen Schüler/innenfällen im Vordergrund, bei Regelschulempfehlungen ebenso auch ein günstiges Arbeitsverhalten. Zudem thematisierten die Lehrkräfte leistungsferne Kriterien. Deren Gewichtung variierte aber in Abhängigkeit von der ausgesprochenen Empfehlung. Während soziale Ressourcen, konkret die Einbindung in eine Peergroup, eine Regelschulempfehlung begünstigten, waren Schwierigkeiten im emotional-sozialen Bereich bei Förderschulempfehlungen empfehlungsrelevant. Dies deckt sich mit dem von Hennemann et al. (2018) postulierten Konsens, dass die Inklusion von Schüler/innen mit Verhaltensauffälligkeiten noch vor großen Herausforderungen steht.

Ähnlich wie bei Kindern ohne SPF (Abschn. 3.1) waren familiäre Kriterien im Vergleich zu kindbezogenen Kriterien von untergeordneter Bedeutung. Im Vergleich zwischen den beiden Empfehlungen wurden familiäre Kriterien bei einer Förderschulempfehlung aber deutlich häufiger thematisiert als bei einer Regelschulempfehlung. Übereinstimmend mit qualitativen Studien zur Empfehlung für Kinder ohne SPF (Diebig 2016; Hollstein 2008) hoben die Lehrkräfte in erster Linie die (mangelnden) Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern hervor.

Hinsichtlich der Frage nach der (Un)gleichheit am Übergang von Kindern mit SPF ergeben sich somit ähnliche aber auch unähnliche Ergebnisse verglichen mit der Situation von Kindern ohne SPF. Ähnlich wie bei Kindern mit SPF kommt den leistungsnahen kindbezogenen Kriterien eine hohe Bedeutsamkeit zu. Ebenso bedeutsam erscheinen aber die Fördermöglichkeiten der weiterführenden Schule. Damit tritt regionale Ungleichheit im Vergleich zu kindbezogenen, leistungsnahen Kriterien besonders in den Vordergrund. Bei Kindern ohne SPF ist dagegen eher eine soziale Ungleichheit belegt, die überdies hinter kindbezogenen, leistungsnahen Kriterien zurücksteht (s. Abschn. 3.1). Dennoch spiegeln unsere Ergebnisse aber auch soziale Ungleichheit am Übergang von Kindern mit SPF wider. Aufgrund der geringen Nennungshäufigkeit familiärer Kriterien scheint ihre Relevanz insgesamt geringer. Bei einer Förderschulempfehlung kommt sie aber besonders zum Tragen. Geht man davon aus, dass Inklusion ein gesellschaftlich gewünschtes Ziel ist, bedeuten unsere Befunde, dass Kinder mit SPF doppelt benachteiligt sind, wenn (1) Lehrkräfte bei keiner Regelschule im Umkreis angemessene Fördermöglichkeiten wahrnehmen und (2) sie mangelnde elterliche Unterstützung vermuten. In dem Fall gehen sie davon aus, dass die Eltern die unzureichenden schulischen Voraussetzungen nicht ausgleichen können und favorisieren daher die Förderschule.

Daraus ergeben sich Implikationen für Bildungspolitik und -administration. Damit Lehrkräfte Regelschulen die inklusive Beschulung von Kindern mit SPF zutrauen, müssen regionale Ungleichheiten durch eine regionsunspezifische, verbesserte Ausstattung von Regelschulen beseitigt werden. Orientiert an den häufigsten Nennungen betrifft dies in erster Linie einen hinreichenden Personalschlüssel, wie auch eine personelle Konstanz in Bezug auf Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung. Beides scheitert nicht zuletzt auch an einem Nachwuchsmangel relativ zu einem gestiegenen Bedarf an Lehrkräften für sonderpädagogische Förderung. Neue Studienplätze sind zwar bereits geschaffen, werden aber erst mittelfristig zu genügend Absolvent/innen führen (MSB NRW 2019). An zweiter Stelle betrifft dies die Systemgröße. Die von uns interviewten Lehrkräfte kommen immer wieder zu der Einschätzung, dass Regelschulen für Kinder mit SPF unangemessen groß sind. Entsprechend könnten im Zuge ohnehin geplanter Umgestaltungsmaßnahmen an Regelschulen kleinere Subsysteme geschaffen werden.

Wenn aus Sicht der Lehrkräfte Regelschulen den Ansprüchen einer inklusiven Beschulung nicht gerecht werden, stellen Förderschulen für sie also die einzig richtige Wahl dar. Folgt man dieser Sichtweise, steigt mit dem Abbau von Förderschulen Ungleichheit. Entsprechend argumentiert auch Müller (2013, S. 43), dass bspw. Schüler/innen mit dem FSP ESE in Förderschulen „Teilhabe und Anerkennung [erfahren], indem sie aufgenommen, beschult und begleitet werden. Sie gewinnen somit wieder Anteil an Bildung und Erziehung, an Wertschätzung und persönlicher Anerkennung, was im Regelschulsystem häufig nicht möglich ist.“ Hennemann et al. (2018, S. 121) erachten jedoch die Entwicklung in Richtung eines stärker inklusiven Schulsystems als unumkehrbar und warnen „vor einem vorschnellen Rückschluss auf die generelle Machbarkeit bzw. auf eine generelle Unmöglichkeit einer erfolgreichen Inklusion […].“ Die Schaffung der bildungspolitisch-institutionellen Rahmenbedingungen für den Aufbau inklusiver Strukturen muss jedoch deutlich vorangetrieben werden.

7.2 Grenzen und Ausblick

Bei der Interpretation unserer Befunde sind auch Limitationen zu berücksichtigen. Dies betrifft die Reichweite unserer Ergebnisse. Mit der bewussten Wahl einer sehr heterogenen Stichprobe konnten wir eine große Bandbreite an empfehlungsrelevanten Kriterien herausarbeiten. Auch fließen diese in unserer Stichprobe in unterschiedlichem Maße in die Begründung der Empfehlung ein. Damit bleibt aber offen, ob eine Erweiterung der Stichprobe (z. B. um Lehrkräfte aus anderen Bundesländern) zu weiteren Kriterien führt und ob oder in welchem Ausmaß die herausgearbeiteten Argumentationsmuster für alle Lehrkräfte Geltung haben. In dem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass es sich ggf. um eine Positivselektion bei unserer Stichprobe handelt. Wie üblich bei einer freiwilligen Teilnahme ist von besonders engagierten Lehrkräften auszugehen. Dies gilt umso mehr, da sich die Interviewten trotz der Mehrbelastung während der Coronapandemie in relativ langen Interviews als Gesprächspartner/innen zur Verfügung gestellt haben. Eine Stichprobe mit weniger engagierten Lehrkräften hätte möglicherweise schulstrukturelle Merkmale seltener benannt als die hier Befragten, denn dies setzt Wissen über die umliegenden Einzelschulen voraus, dessen Beschaffung mit einem gewissen zeitlichen und persönlichen Aufwand verbunden ist, wie aus den Interviews deutlich hervorgeht.

Unklar für unsere Stichprobe ist aber auch die Heterogenität bezogen auf das Angebot der weiterführenden Schulen. Folgeuntersuchungen sollten daher Informationen zu den Wahlmöglichkeiten (vorhandene Förderschulen mit ihren Förderschwerpunkten, Anzahl allgemeiner weiterführender Schulen usw.) erheben, um die Ergebnisse besser kontextualisieren zu können.

Grenzen zeigen sich zudem bezogen auf die Auswertung. In den bisherigen Analysen haben wir durch Fallkontrastierungen je nach Empfehlung (Förder‑/Regelschule) unterschiedliche Argumentationsmuster herausgearbeitet. Die Möglichkeit weiterer Fallkontrastierungen ist bisher noch unausgeschöpft. Dazu gehört z. B. eine Fallkontrastierung auf Basis des oben angesprochenen Angebots der weiterführenden Schulen pro Fall vor Ort, aber auch auf Basis der Förderschwerpunkte wie etwa die Unterscheidung der von uns bereits betrachteten FSPe (ESE vs. LE). So sprechen die von uns befragten Lehrkräfte die Notwendigkeit eines kleinen Systems vorrangig bei Kindern mit einem FSP ESE an. Systematische Analysen zu FSP-spezifischen Argumentationsmustern stehen aber noch aus, da sie eine Erweiterung der Stichprobe erfordern. Zum einen deckt unsere Stichprobe nur Kinder mit zwei FSPen ab und zum anderen ist allein die Gruppe der Kinder mit dem FSP ESE so heterogen, dass unsere Stichprobe dieser Vielfalt nicht gerecht wird. Auch die Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen dem Förderschwerpunkt des Kindes, dem zur Verfügung stehenden Schulangebot, dem familiärem Hintergrund und ggf. auch lehrkraftseitigen Merkmalen ist noch offen.

Darüber hinaus ergeben sich aus unseren Ergebnissen Fragen jenseits der Relevanz verschiedener Empfehlungskriterien. Bei einem Vergleich der durchschnittlichen Anzahl an Kodiereinheiten bei Empfehlungen für vs. gegen das weitere gemeinsame Lernen fällt auf, dass Lehrkräfte deutlich mehr Aspekte benennen, wenn sie eine Empfehlung für die Förderschule aussprechen. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte ein „Rechtfertigungsdruck“ sein – Lehrkräfte von Kindern ohne SPF erleben häufig Stress oder Druck, wenn ihre Empfehlung nicht dem elterlichen Schulformwunsch entspricht (Pohlmann 2009). Ähnlich könnte es sich mit der Empfehlung für die Förder- vs. Regelschule verhalten. Einerseits wird der Besuch der Förderschule mit einem Stigma verbunden, nicht zuletzt von den Eltern (Schumann 2007). Andererseits besteht mit der Verpflichtung Deutschlands auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK 2008) in fast allen Bundesländern ein Rechtsanspruch auf eine inklusive Bildung (Steinmetz et al. 2021). Entsprechend nachdrücklich könnten Eltern für ihre Kinder die Regelschulempfehlung fordern. Empfehlen Lehrkräfte im Widerspruch (a) zum elterlichen Wunsch und (b) zur normativen Forderung nach inklusiver Beschulung eine Förderschule, könnten sie dies als besonders begründungsbedürftig erleben. Mit einer Empfehlung für ein exklusives Setting könnte somit auch ein höheres Belastungserleben einhergehen. Unsere Ergebnisse lassen dies nur vermuten, werden aber gestützt durch Berichte von Lehrkräften, die bei Kindern ohne SPF eine von den elterlichen Aspirationen abweichende Schulformempfehlung erteilt haben (Pohlmann 2009). Genaueren Aufschluss darüber könnten Studien geben, die zunächst das Belastungserleben von Lehrkräften nach der Empfehlung für eine inklusive vs. exklusive Beschulung vergleichen und daran Analysen zum Zusammenspiel mit elterlichen Einflussnahmen, aber auch mit Lehrkraftmerkmalen anschließen. Denkbar wäre, dass Lehrkräfte, die bei ihren Empfehlungen besonders gewissenhaft sind oder die selbst eine ausgeprägte positive Einstellung zu Inklusion haben, im Falle einer Förderschulempfehlung einen besonders hohen Rechtfertigungsdruck erleben – anderen, aber möglicherweise auch sich selbst gegenüber.

Die Erforschung sozialer und regionaler Ungleichheiten am Grundschulübergang bei Kindern mit SPF befindet sich noch weitgehend am Anfang. Unsere Ergebnisse sind ein erster Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke. Die unerwartet hohe Bedeutsamkeit schulstruktureller Merkmale in allen Fällen und die fallabhängige Berücksichtigung des familiären Hintergrundes weisen auf ein lohnenswertes Forschungsfeld hin.