1 Eröffnung: Zur Relevanz von Politikvertrauen

Die Funktionalität der repräsentativen Demokratie setzt ein grundsätzliches Vertrauen der Bürger:innen in ihre politischen Institutionen voraus. Empirische Studien bestätigen die multiple Bedeutung des Politikvertrauens. Politikvertrauen motiviert die Wahlbeteiligung und sichert die Akzeptanz von Wahlniederlagen. Die Nichtteilnahme an Wahlen bringt ein geschwundenes Politikvertrauen zum Ausdruck. Ein grundsätzliches politisches Misstrauen ist assoziiert mit der Wahl populistischer Parteien und kann als eine Dimension von Populismus verstanden werden (Hooghe 2018). Eine Polarisierung von Misstrauen und Vertrauen erschwert die politische Konsensfindung und lähmt politische Entscheidungsprozesse (Hetherington und Rudolph 2018). Die Frage nach dem Politikvertrauen in Deutschland gewinnt ihre aktuelle Relevanz nicht zuletzt daher, dass ein klarer Zusammenhang mit der Wahl der AfD (Pickel 2019), der Teilnahme an corona-skeptischen Protesten (Brunner et al. 2021) und corona-bezogenem Verschwörungsglaube (Schließler et al. 2020) besteht. Zugleich gilt es, die empirische Ambivalenz von Politikvertrauen, die auch in demokratischen Systemen besteht, nicht zu übersehen. So befördert das Politikvertrauen etwa die Bereitschaft der Bürger:innen, Freiheitsrechte für ein versprochenes Mehr an Sicherheit aufzugeben (Davis und Silver 2004). Es grundierte etwa auch die Unterstützung für militärische Interventionen der USA im sogenannten „Krieg gegen den Terrorismus“ (Brewer et al. 2004).

Die Bedeutung des Politikvertrauens ist demokratietheoretisch zu präzisieren und zu differenzieren (Warren 2004, 2018). Im parteipolitischen Bereich ist von einem paradoxen Verhältnis von Misstrauen und Vertrauen auszugehen. Einerseits bedeutet die politische Delegation an gewählte Repräsentant:innen durch die Bürger:innen einen Vertrauensakt. Andererseits kommen den Bürger:innen die Funktion und die Aufgabe der Kontrolle der Repräsentant:innen zu (engaged distrust). Im politischen Streit der Interessen sind das selektive Vertrauen und Misstrauen der Bürger:innen zu und gegen bestimmte Akteur:innen (selective trust judgments) als funktional adäquat anzusehen. Entsprechend liegen die empirischen Vertrauenswerte parteiischer politischer Institutionen (Parteien, Regierungen) in der Regel niedriger als die Werte unparteiischer Institutionen (Behörden, Justiz). Davon zu unterscheiden ist jedoch ein allgemeines und grundsätzliches Misstrauen gegenüber den politischen Institutionen und ihren Repräsentant:innen (generalized distrust), das als dysfunktional gelten kann. Es grundiert entfremdete Haltungen gegenüber der repräsentativen Demokratie.

2 Anliegen der Studie

Während die Bedeutung von Religion für die Konstitution von Sozialvertrauen wiederholt Aufmerksamkeit erfahren hat (Traunmüller 2012; Roleder 2020), wurde der Zusammenhang von Religion und Politikvertrauen in modernen Gesellschaften bislang selten in systematischer Art und Weise thematisiert (Hsiung und Djupe 2019). Die folgende Untersuchung nimmt sich dieses Forschungsdesiderates an und möchte dabei in mehreren Hinsichten den politik- und religionswissenschaftlichen Diskurs fortentwickeln. In jüngerer Zeit wurde mehrfach auf den Beitrag christlicher Religiosität für die Demokratieunterstützung (Pickel 2022) und für die Prävention populistischer Wahlentscheidungen in Deutschland (Pickel 2019) hingewiesen. Wir schlagen ein religiös grundiertes Politikvertrauen als einen bislang kaum beachteten Erklärungsfaktor für diesen Zusammenhang vor. Jüngere Erhebungen zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen einer ausgeprägten christlichen Religiosität und dem Politikvertrauen, ohne jedoch dass die Hintergründe des Zusammenhangs systematisch aufgeklärt werden (Pickel 2018a, S. 289).

Die folgende Studie untersucht die Bedeutung der mehrdimensional konzeptualisierten Religiosität für die Konstitution von Politikvertrauen im Zusammenspiel von religiöser Emotionalität, Weltdeutung und Vergemeinschaftung. Insbesondere für den Zusammenhang von religiöser Kontingenzbewältigung und Politikvertrauen besteht bislang eine Forschungslücke. Wir untersuchen, inwieweit eine religiöse emotionsbezogene Kontingenzbewältigung die subjektive Leistungsevaluation, die Individuen an politische Akteur:innen anlegen, verbessert und so das Politikvertrauen unterstützt. Damit arbeitet die Studie an der Schnittstelle von Religion, Emotion und Politik. Darüber hinaus führt die Studie die Unterscheidung einer inklusiv und einer exklusiv orientierten evangelischen Religiosität ein. Während die mehrheitlich inklusiv orientierte evangelische Religiosität eine politikaffirmative Haltung unterstützt, zeigt eine exklusiv orientierte, biblizistische und evangelikal-freikirchliche Frömmigkeit in Teilen eine charakteristische Vertrauenszurückhaltung. Die Studie untersucht zudem die Konzepte der religiösen Geborgenheit, des generalisierten Sozialvertrauens und der Einstellung politisch-gesellschaftlicher Mitgestaltung, die dem Politikvertrauen vorgelagert sind. Spezifische Gottesbilder, religiöse Rituale und Praktiken, religiöse Sozialisation und Vergemeinschaftung zeigen indirekte Zusammenhänge mit dem Politikvertrauen. Am Exempel der evangelischen Religiosität in Deutschland entwickelt die Studie aus unserer Sicht verallgemeinerbare Perspektiven zum Zusammenhang von religiöser Kontingenzbewältigung und politischen Einstellungen sowie zum mehrdimensionalen und ambivalenten Verhältnis von Religiosität und Politikvertrauen.

3 Theorieentwicklung und Hypothesenbildung

Politikvertrauen lässt sich verstehen als ein positives Vertrauensurteil gegenüber einer politischen Institution bzw. einer konkreten politischen Akteur:in, das die Erwartung impliziert, dass die Institution sowohl gemäß des eigenen Interesses als auch kompetent handelt. Ein solcher Vertrauensakt verzichtet, zumindest partiell, auf Kontrolle und Autonomie und birgt das Risiko der Enttäuschung und der eigenen Verletzlichkeit in sich (Warren 2018). Vertrauensurteile resultieren aus kognitiven Prozessen der Erlangung und Verarbeitung von Informationen, der Passung von politischen Interessen und der Evaluation der bisherigen Leistung der politischen Institution. Diese Prozesse vollziehen sich in Auseinandersetzung mit medialen Öffentlichkeiten und vor dem Hintergrund der institutionellen Rahmenbedingungen des politischen Systems. In jüngerer Zeit wird auf die emotionale Dimension von politischen Vertrauensurteilen hingewiesen (Theiss-Morse und Barton 2017).

Im Folgenden wird ein Mikromodell der religiösen Konstitution von Politikvertrauen entworfen, das die Mehrdimensionalität und die spezifischen Ausprägungen individueller evangelischer Religiosität berücksichtigt. Die entwickelten Hypothesen werden im Anschluss einem empirischen Test unterzogen. Die bekannten nicht-religiösen Mikro‑, Meso- und Makro-Faktoren, die in einem Zusammenhang mit dem politischem Vertrauen stehen, werden an dieser Stelle nicht referiert (Listhaug und Jakobsen 2018). Doch sollen sie, so weit wie möglich, als Kontrollvariablen in der Analyse berücksichtigt werden.

3.1 Die objektvermittelte Wirkung religiöser Emotionalität auf das Politikvertrauen

Kognitivistische Emotionstheorien verstehen Emotionen als leiblichen Ausdruck der Evaluation von Objekten durch das Individuum (Döring 2006; Petri 2018). Die Appraisal-Theory-of-Emotion betont dabei die subjektive Dimension der emotionalen Beurteilung von Situationen, Tätigkeiten oder Personen. Emotionen repräsentieren, wie das Objekt für das Individuum subjektiv erscheint. Verschiedene Individuen können in denselben Situationen, gegenüber denselben Stimuli, unterschiedlich geartete und unterschiedlich intensive Emotionen empfinden. Die Unterschiede bei den emotionalen Reaktionen können auf verschiedene sogenannte Appraisal-Faktoren zurückgeführt werden (Moors 2017), insbesondere auf Einschätzungen dazu, wie relevant eine Situation wahrgenommen wird (goal relevance), wie das Individuum seine Möglichkeiten zur Bewältigung der Situation einschätzt (control) und wem die Verantwortlichkeit für die Situation zugeschrieben wird (agency).

Emotionen als Ausdruck der kognitiven Bewertung von Situationen können von Affekten unterschieden werden, denen der Objektbezug fehlt oder deren unpassende Intensität auf einen gestörten Objektbezug hinweist (Petri 2018, S. 48f).

Die Religionspsychologie weist darauf hin, dass Religiosität insbesondere in Belastungssituationen als Appraisal-Faktor fungiert. Vorstellungen von göttlicher Hilfe beeinflussen die Kontrolldimension (Newton und McIntosh 2010); religiöse Sinnstiftung beeinflusst die Relevanz und Akzeptanz von Situationen (Ramsay et al. 2019). Vorstellungen eines göttlichen Gerichts wirken auf die Verantwortlichkeitsdimension und können dabei Gefühle von Ärger mindern (Tong und Teo 2018). Insgesamt ist davon auszugehen, dass religiöse Kontingenzbewältigung im Entstehungszusammenhang von Emotionen wirksam ist.

Darüber hinaus beeinflusst die Religiosität, wie Individuen mit vorhandenen Emotionen umgehen. Individuen mit einer ausgeprägteren Religiosität zeigen im Durchschnitt adaptivere Strategien bei der Emotionsregulation, die insbesondere die emotionale Akzeptanz und die Umdeutung von Situationen umfassen (Vishkin et al. 2019). Individuelle spirituell-religiöse Rituale wie das Beten fungieren ebenso zur Emotionsregulation (Demmrich und Wolfradt 2018).

Diese religiösen Faktoren bei der Entstehung und Regulation von Emotionen führen in der Konsequenz dazu, dass das typische emotionale Erleben in Abhängigkeit von der Religiosität bzw. Spiritualität variiert. Die Emotionspsychologie weist auf Zusammenhänge zwischen Religiosität und Optimismus (Whittington und Scher 2010), Hoffnung (Ai et al. 2007), positiven Emotionen wie Ehrfurcht, Dankbarkeit, Liebe und Frieden (van Cappellen et al. 2016) sowie verminderte Angst (Koenig 2012) hin.

Begreift man die Religiosität des Individuums und ihre emotionalen Wirkungen als ein mittelstabiles Muster, das sich situationsübergreifend fortsetzt, lässt sich von einer charakteristischen und graduell verfestigten religiösen Emotionalität sprechen.

Es kann angenommen werden, dass diese religiöse Emotionalität auch hinsichtlich politischer Objekte, Situationen und Themen, zum Tragen kommt. Angesichts von politischen Unsicherheits‑, Bedrohungs- oder Wutsituationen verfügen religiöse Individuen über die Möglichkeiten religiöser Kontingenz- und Emotionsbewältigung. In der Folge sollten religiöse Individuen politische Stressoren im Durchschnitt als weniger bedrohlich und aufreibend erleben und emotional nachhaltiger bewältigen können.

Die Vertrauensurteile von Individuen gegenüber politischen Institutionen und Akteur:innen basieren, neben anderen Faktoren, auf einer subjektiven Leistungsevaluation (Theiss-Morse und Barton 2017; Listhaug und Jakobsen 2018). Individuen erwarten von politischen Institutionen die Prävention bzw. die Bewältigung von politischen Angstsituationen. Je intensiver Individuen Angst, Bedrohung und Wut empfinden, für die sie die politischen Institutionen verantwortlich machen, desto ungünstiger fällt die Leistungsevaluation aus. Das Vertrauen gegenüber den politischen Institutionen wird so gehemmt.

Verschiedene empirische Studien plausibilisieren den Zusammenhang, in dem Angst bzw. entgegengesetzte positive Emotionen mit dem Politikvertrauen stehen. Unabhängig von der ökonomischen Situation beeinflusst das Niveau der Rentenangst das Politikvertrauen in Deutschland (Ingo Bode und Ralf Lüth 2018). Für die Folgezeit der Anschläge vom 11. September 2001 ist ein positiver Zusammenhang zwischen Gefühlen der Hoffnung und dem Vertrauen in die politischen Institutionen der USA in einer Längsschnittstudie feststellbar (Gross et al. 2009). Nach einem lokalen Atomunfall setzte die lokale Bevölkerung desto mehr Vertrauen in die lokalen politischen Institutionen, je weniger Bedrohung sie durch den Unfall empfand (Goldsteen et al. 1992).

Dem hier entwickelten Argument kommen zwei Studien am nächsten, die einen positiven Zusammenhang zwischen dem psychologischen Persönlichkeitstyp der Emotional Stability und dem Politikvertrauen aufzeigen (Mondak et al. 2017; Cawvey et al. 2018). Eine verminderte Ängstlichkeit, eine häufigere emotionale Ausgeglichenheit und Friedfertigkeit charakterisieren diese Persönlichkeitsausprägung. Sie ist mit einem durchschnittlich leicht erhöhten Politikvertrauen verbunden. Zwar ist der erklärende Mechanismus als vergleichbar anzusehen, doch stellen der Persönlichkeitstyp der Emotional Stability und das hier beschriebene Muster stressmindernder religiöse Emotionalität zwei distinkte Ausgangsphänomene dar. Denn in Mitteleuropa besteht kein klarer Zusammenhang zwischen Emotional Stability und Religiosität (Gebauer et al. 2014; Saroglou 2017). Die psychologischen Persönlichkeitstypen sind der Religiosität vorgelagert (Entringer et al. 2021; Saroglou 2017). Vor allem aber wird im Folgenden gezeigt, dass die religiöse Geborgenheit durch religiösen Glauben, Erfahrung und Praxis zustande kommt (vgl. unten 5.1.). Somit handelt es sich bei der religiösen Geborgenheit und ihrem Zusammenhang mit dem Politikvertrauen um ein genuin religiöses Phänomen.

Der hier vorgeschlagene Prozess lässt sich nicht nur auf die Emotion der Angst, sondern auch auf Emotionen der Wut beziehen. Dieser erweiterte Bezugsbereich ist vor dem Hintergrund der jüngsten Forschung bedeutsam, die aufzeigt, dass neben der Angst vor allem die Wut für die Unterstützung populistischer Kräfte ausschlaggebend ist (Vasilopoulos et al. 2019; Rico et al. 2017).

Aus diesen Überlegungen lässt sich die Erwartung begründen, dass religiöse Emotionalität durch ihre stressmindernde Wirkung das Politikvertrauen religiöser Individuen stärkt. Eine stressmindernde religiöse Emotionalität reduziert im Durchschnitt den empfundenen politischen Stress, was die Leistungsevaluation der politischen Institutionen verbessert und sich positiv in der Vertrauenskalkulation niederschlägt.

Daraus leitet sich die Hypothese ab:

H1:

Eine religiöse Emotionalität, die religiöse Kontingenzbewältigung und adaptive Emotionsregulation fördert, stärkt das Politikvertrauen.

3.2 Religiöse Weltdeutung als Akteursdeutung: inklusive und exklusive Doktrinen, evangelisch-freikirchliche Religiosität

Die Konstitution sowohl von Sozialvertrauen als auch von Politikvertrauen steht in einem Zusammenhang mit religiösen Doktrinen. Die religiöse Weltdeutung schlägt sich in zwei komplementären Hinsichten in den Vertrauenskalkulationen religiöser Individuen nieder. Erstens können religiöse Doktrinen die Kategorisierungsprozesse sozialer Identität, wie sie die Social Identity Theorie beschreibt, mitstrukturieren (Hodson und Earle 2020). Religiöse Doktrinen markieren mitunter Identitätsgrenzen zwischen In-Group und Out-Group und diese Unterscheidungen wirken sich auf die Vertrauenskalkulationen aus. In-Group-Akteur:innen bringt man mehr Vertrauen entgegen als Out-Group-Akteur:innen. Zweitens zeigen sich Vertrauenskalkulationen als responsiv gegenüber religiösen Welt- und Menschenbildern. Solche religiösen Deutungen bringen Konsequenzen mit sich, wie Individuen die Handlungsintentionen der Vertrauensinstanz einschätzen.

In beiden Hinsichten lässt sich annehmen, dass inklusiv orientierte religiöse Doktrinen die Ausbildung von generalisiertem Sozialvertrauen und Politikvertrauen eher fördern, während exklusiv orientierte Doktrinen gegenteilig wirken. Exklusiv orientierte Doktrinen betonen die Identitätsunterscheidungen zwischen religiöser In- und Out-Group. Werden die Welt und die in ihr handelnden Akteur:innen zudem als böse oder bedrohlich gezeichnet, untergräbt dies das Vertrauen gegenüber den Intentionen der politischen Akteur:innen. Denn solche Glaubensüberzeugungen intensivieren die Risikowahrnehmung. In Übereinstimmung mit diesen Annahmen ist für Nordamerika empirisch belegt, dass exklusiv orientierte konservativ-protestantische Doktrinen das generalisierte Sozial- und Politikvertrauen hemmen (Hsiung und Djupe 2019; Hempel et al. 2012). Im Einzelnen beziehen sich die Zusammenhänge auf Glaubenssätze zur sündigen Natur des Menschen, zur Existenz des Teufels und zur Beschränkung des religiösen Heils auf die eigene religiöse Gruppe.

Für einen Teil des evangelisch-freikirchlichen Spektrums ist eine exklusiv orientierte Weltdeutung zu erwarten, die den Radius des Vertrauens auf die religiöse Gruppe beschränkt und so das Politikvertrauen hemmt. Entsprechend identifizierte eine qualitative Untersuchung zu politischen Diskursen der evangelischen Freikirchen in der Schweiz eine „gegenwartskritische Fraktion“, die die Distanz zu Staat und Gesellschaft betont und ihre gesellschaftliche Funktion in erster Linie als Wächteramt versteht. Sie folgt dem Leitbild einer bibeltreuen Gesellschaft, die durch Missionstätigkeit zu erreichen ist, und gerät so in Konflikt mit dem Modell einer pluralistischen Gesellschaft (Zurlinden 2015, S. 126). Allerdings darf die innere Heterogenität der freikirchlichen Religiosität nicht übersehen werden. Ebenso erkennt eine „weltoffene Fraktion“ die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse an und möchte die Gesellschaft durch christlich soziales Engagement mitgestalten. Die verschiedenen Diskurspositionen weisen Assoziationen mit bestimmten Freikirchen und freikirchlichen Zusammenschlüssen auf (EMK, Baptisten und Heilsarmee gegenüber Pfingstmission und Chrischona Gemeinden). In Übereinstimmung mit dieser Heterogenität zeigt sich in der quantitativen Forschung, dass auch die evangelisch-freikirchliche Religiosität das zivilgesellschaftliche Engagement durchschnittlich fördert – aber weniger deutlich als die evangelisch-landeskirchliche Religiosität (Traunmüller 2009b, S. 446f).

Darüber hinaus bestehen inhaltliche Schnittmengen zwischen typischen evangelikalen politischen Anliegen und rechtspopulistischen Positionen, die mit Kritik und Enttäuschung gegenüber den etablierten politischen Parteien einhergehen (Heimowski und Markstein 2020). Zudem könnte auch das Geschichtsbewusstsein eine Rolle für das verminderte Politikvertrauen spielen, insofern bestimmte Freikirchen als religiöse Minderheiten in der Vergangenheit staatliche Repressionen erlitten. Für die Länder Nordeuropas ist entsprechend bekannt, dass Mitglieder einer Freikirche im Durchschnitt ein vermindertes Vertrauen in staatliche Institutionen angeben (Kasselstrand und Eltanani 2013).

Daraus ergibt sich die Hypothese:

H2:

Eine biblizistisch-konservative und eine evangelisch-freikirchliche Religiosität gehen mit einem durchschnittlich verminderten Politikvertrauen einher.

3.3 Politikvertrauen durch religiöses Sozialvertrauen

Der Zusammenhang zwischen generalisiertem Sozialvertrauen, gewöhnlich operationalisiert als das Vertrauen gegenüber Fremden, und politischem Vertrauen ist umstritten (Newton et al. 2018). Die empirische Korrelation zwischen beiden Konzepten fällt in der Regel lediglich moderat aus. Daher ist von zwei unterscheidbaren Konzepten auszugehen, die doch in einem Zusammenhang stehen. Insofern Politikvertrauen das Vertrauen in personale politische Akteur:innen als Repräsentant:innen politischer Institutionen impliziert, kann eine partielle Abhängigkeit des Politikvertrauens vom generalisierten Sozialvertrauen angenommen werden.

Für den Fall, dass die evangelische Religiosität das generalisierte Sozialvertrauen stärkt, entsteht ein indirekter Effekt auf das Politikvertrauen. Das Sozialvertrauen tritt als Mediator zwischen die Religiosität und das Politikvertrauen:

H3:

Evangelische Religiosität stärkt das generalisierte Sozialvertrauen durch inklusive Weltdeutung, kirchliche Geselligkeit, gottesdienstliche Rituale, religiöse Sozialisation und einen alltagsweltlichen Gottesglauben. Das gestärkte Sozialvertrauen fördert das Politikvertrauen. So wirkt die evangelische Religiosität, vermittelt über das Sozialvertrauen, positiv auf das Politikvertrauen.

Der positive Zusammenhang zwischen Religiosität und generalisiertem Sozialvertrauen, wie er für die evangelische Religiosität in Deutschland im Allgemeinen belegt ist (Traunmüller 2009a; Roleder 2020), kann auf fünf komplementäre Prozesse zurückgeführt werden.

Erstens betrifft die religiöse Weltdeutung die Vertrauenskonstitution. Solche religiösen Doktrinen, die inklusiv-universalistische soziale Identitäten konstituieren und die ein Menschenbild allgemeiner Moralität affirmieren, sollten vertrauensförderlich wirken (Traunmüller 2012, S. 60f). Weiten sich die Grenzen sozialer Identität, weitet sich auch der Radius der Vertrauensbereitschaft. Ein religiöses positives Menschenbild, das von der grundsätzlichen Moralität des Gegenübers ausgeht, mindert das empfundene Risiko einer Vertrauensentscheidung (Hsiung und Djupe 2019).

Zweitens entsteht Sozialvertrauen durch regelmäßige soziale Kooperation, die Normbildung und Sanktionierung durch die Gruppe unterstützt, wie sie für religiöse Vergemeinschaftung als charakteristisch gelten kann (Fukuyama 1995). Allerdings stoßen die Vergemeinschaftungen die Generalisierung des Vertrauens, das über das partikulare Vertrauen zu Mitgliedern der eigenen Gruppe hinausgeht, nur unter bestimmten Bedingungen an. Die partikularen Vergemeinschaftungen sollten intern sozial divers zusammengesetzt sein (bridging association) oder sie sollten in diverse Vernetzungen mit anderen Gemeinschaften eingebunden sein (connected association). In beiden Fällen bringt die Vergemeinschaftung Gruppenmitglieder verschiedener sozialer Identitäten miteinander in Kontakt. Dieser Kontakt verflüssigt die sozialen Identitätskategorisierungen und erweitert so den Radius des Vertrauensbezugs. Der interidentitäre Kontakt stößt so die Generalisierung des Sozialvertrauens an, das ursprünglich von der Erfahrung der partikularen, gruppeninternen Kooperation ausgeht (Paxton und Ressler 2018).

Die Befunde dazu, inwieweit evangelisches kirchliches Leben in Deutschland bridging associations bzw. connected associations hervorbringt, sind gemischt. Einer Charakterisierung als bridging associations stehen die Befunde entgegen, dass Homogenität und Homophilie häufig die soziale Zusammensetzung von kirchlicher Gemeinschaft strukturieren (Weyel und Roleder 2019). Außerdem ist eine Förderung der Ausbildung von überbrückendem Sozialkapital, verstanden als Sozialbeziehungen zwischen Individuen mit unterschiedlichen sozialen Identitäten, durch evangelische Religiosität empirisch nicht erkennbar (Roleder 2020; Traunmüller 2009b). Andererseits sprechen mehrere Befunde dafür, dass kirchliche Vergemeinschaftungen häufig das Profil von connected associations erfüllen. Die evangelischen Teilnehmenden an kirchlicher Vergemeinschaftung sind überdurchschnittlich zivilgesellschaftlich engagiert (Pickel 2015) und verbinden verschiedene zivilgesellschaftliche Einrichtungen durch Mehrfachmitgliedschaften (Weyel und Roleder 2019) und durch Kooperationen (Rebenstorf und Ohlendorf 2019) miteinander. Es kann somit keine eindeutige Erwartung zur Kontakthypothese formuliert werden, inwiefern evangelische Geselligkeit die Ausbildung von generalisiertem Sozialvertrauen unterstützt.

Drittens ist die Bedeutung von religiösen Ritualen als eine eigene, häufig übersehenen Dimension der religiösen Vertrauenskonstitution zu berücksichtigen. Bereits Émil Durkheim ging von der sozialintegrativen Wirkung religiöser Kulte und Rituale aus (Terrier 2019). Empirische Studien bestätigen, dass religiöse Rituale die Verbundenheit und das Vertrauen innerhalb von Gruppen fördern. Dabei wirken verschiedene Mechanismen zusammen: synchrone Bewegungen, evozierte Emotionen sowie Symbolisierungen und Transzendenzbezüge (Charles et al. 2020, 2021; Fischer et al. 2013). Es kann davon ausgegangen werden, dass eine inklusiv orientierte religiöse Weltdeutung, die im Ritual symbolisch zur Darstellung kommt, das partikulare Gruppenvertrauen, das zwischen den Ritualteilnehmenden besteht, zu einem generalisierten Sozialvertrauen, das über den Kreis der Teilnehmenden hinausreicht, ausweitet.

Viertens wird erwartet, dass Glaubende ihr alltagsweltbezogenes Gottesbild, in dem Gott als wirksamer Akteur:in in der Alltagswelt vorgestellt wird, in ihre Vertrauenskalkulationen einbeziehen. Die Vorstellung von Gott als alltagsweltliche:r Akteur:in kann das empfundene Risiko bei Vertrauensentscheidungen senken, wenn Glaubende mit göttlicher Hilfe rechnen, sollte das Vertrauen enttäuscht werden. Oder die Glaubenden nehmen an, dass Gott als Akteur:in und durch andere Menschen handelt, sodass sie diesen mehr Vertrauen entgegenbringen.

Schließlich bildet sich Sozialvertrauen bereits durch biografisch frühe Erfahrungen in der Kindheit aus (Markson und Luo 2020). Verlässlich agierende Bezugspersonen stärken das Vertrauen, wobei bereits Kinder ihr Vertrauensverhalten an Kategorien sozialer Identität orientieren. Vor diesem Hintergrund erwarten wir eine vertrauensförderliche Bedeutung einer inklusiv orientierten religiös-kirchlichen Sozialisation in der Kindheit.

3.4 Religiös motivierte gesellschaftliche Mitgestaltung und Kooperationsbereitschaft

Religiöse Weltdeutung prägt die Haltung, mit der sich religiöse Individuen zu gesellschaftlicher Mitgestaltung positionieren. Die religiösen Einstellungen übersetzen sich in gesellschaftliches Verhalten. Evangelische Religiosität, vermittelt über religiös grundierte Werte, motiviert nachweislich zu gesellschaftlichem Engagement in Deutschland (Stein 2016).

Bezüglich des politischen Vertrauens kann angenommen werden, dass das Anliegen gesellschaftlicher Mitgestaltung mit der Bereitschaft zur Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Akteur:innen, einschließlich politischer Akteur:innen, einher geht. Die religiös grundierte Affirmation gesellschaftlicher Partizipation sollte damit auch ein gefestigtes Politikvertrauen implizieren.

H4:

Evangelische Religiosität fördert das Anliegen gesellschaftlicher Mitgestaltung. Diese Einstellung zeigt einen positiven Effekt auf das Politikvertrauen.

3.5 Evangelische Gottesdienste als ambivalente politische Plattformen

Auf der Mikroebene ist die Konstitution von Politikvertrauen als eine kognitive Vertrauenskalkulation zu begreifen, bei der sich die Individuen auf direkte Erfahrungen mit politischen Institutionen und ihren Akteur:innen, vor allem aber auf indirekt erworbenes Wissen über politische Institutionen stützen, um die Leistungen und die Vertrauenswürdigkeit der Institutionen zu evaluieren. Dabei sind öffentliche, nicht zuletzt mediale Präsentationen und Repräsentationen von politischen Institutionen und ihren Akteur:innen für die Wissenskonstruktion von eminenter Bedeutung (Theiss-Morse und Barton 2017, S. 162ff.).

Unter der Bedingung, dass sich politische Institutionen und ihre Akteur:innen im Rahmen von kirchlicher Vergemeinschaftung präsentieren oder repräsentiert werden, ist ein Effekt durch die Partizipation an der Vergemeinschaftung auf die Konstitution von Politikvertrauen zu erwarten. Ob ein Effekt zustande kommt und in welche Richtung er verläuft, hängt allerdings von zwei Bedingungen ab. Erstens muss die Kommunikation der religiösen Vergemeinschaftung überhaupt politisch signifikant sein, damit ein Effekt entsteht (Signifikanz). Zweitens entsteht nur insofern ein Effekt mit einer eindeutigen Richtung, als dass die Repräsentationen einen qualitativen Schwerpunkt aufweisen. Sei er affirmativ oder kritisch (Qualifikation).

In Übereinstimmung mit diesen Annahmen ist für die USA bekannt, dass nur solche Kirchengemeinden, die in dieser spezifischen Weise politisch qualifiziert sind, das Politikvertrauen ihrer regelmäßig partizipierenden Mitglieder stärken. Unter der Voraussetzung, dass Kirchengemeinden politische Themen adressieren und zu politischem Engagement aufrufen, ist ein erhöhtes Politikvertrauen empirisch feststellbar (Hsiung und Djupe 2019). Ebenso fördert ein spezifisch politisch qualifiziertes Gemeindeleben, aber nicht jedes Gemeindeleben an sich, die politische Beteiligung der Gemeindeglieder (Djupe und Gilbert 2009, S. 199–201).

Evangelisch-landeskirchliche Kirchengemeinden in Deutschland unterscheiden sich hinsichtlich ihrer politischen Kultur. In manchen Gemeinden gehört die politische Kommunikation zum religiösen Selbstverständnis, während andere Gemeinden eine politische Zurückhaltung pflegen, die aber von Einzelpersonen und externen politischen Ereignissen immer wieder herausgefordert wird (Schulz et al. 2022). Hinzu kommt, dass politische Predigten in evangelisch-landeskirchlichen Gottesdiensten häufig mit einer rhetorischen Unterscheidung zwischen der Zivilgesellschaft einerseits und der Politik im engeren Sinn des Wortes andererseits operieren. Problemlösungen werden schwerpunktmäßig von der engagierten Zivilgesellschaft erwartet, während das politische System vor allem kritisch adressiert wird. Darauf verweist eine umfangreiche Analyse politischer Predigten (Burbach 1990, 1995):

„In der Position des Feindbilds erscheinen in den untersuchten Predigten die Welt der Wirtschaft und Politik sowie einige Aspekte der Gesellschaft […]. [Es, F. R.] kann festgestellt werden, daß Gesellschaft und Politik in Predigten nur dann vorkommen, wenn sie kritisch gesehen werden müssen. Eine gewisse Ausnahme stellen einige Predigten dar, die anläßlich von Wahlen gehalten wurden […]. In der Regel wird dann ‚politisch‘ gepredigt, wenn sich biblische Tradition, christliche Ethik, auf der einen Seite und politisch-gesellschaftliche Realität und Praxis auf der anderen Seite widersprechen. Politik kommt vor allem in ihrem negativen Ausschnitt in den Blick.“ (Burbach 1995, S. 481f)

Die Autorin stellt eine rhetorische Distanzierung der Predigten von der Politik im engeren Sinn des Wortes fest und vermutet dadurch eine Wirkung, die „Politikverdrossenheit“ befördert (Burbach 1995, S. 482).

Diese Ambivalenzen der politischen Signifikanz und Qualifikation evangelisch-landeskirchlicher Gottesdienste lassen erwarten, dass der Besuch evangelischer Gottesdienste das Vertrauen in die parteipolitischen Institutionen nicht systematisch stärkt.

H5:

Ein Direkteffekt des Besuchs evangelischer Gottesdienste auf das Politikvertrauen bleibt aus.

3.6 Assoziationen mit individueller Religiosität: Werteinstellungen, Denkstile und Persönlichkeitstypen

Für eine Reihe von Ausprägungen individueller Religiosität erwarten wir eine Assoziation mit dem Politikvertrauen, ohne einen kausalen Zusammenhang anzunehmen.

Werteinstellungen sind bei Theist:innen häufiger traditionell-konventionell und bei Agnostiker:innen und Atheist:innen häufiger liberaler ausgeprägt (Uzarevic und Coleman 2021; Pickel 2018b). Liberalere Haltungen gehen mit einer kritischeren Positionierung gegenüber dem politischen System einher. Darüber hinaus denken Atheist:innen und Agnostiker:innen im Durchschnitt analytisch-reflexiver als Theist:innen (Pennycook et al. 2016), was ebenfalls eine tendenzielle Zurückhaltung bei den Vertrauensurteilen erklären könnte.

H6:

Der Theismus ist gegenüber dem Agnostizismus und dem Atheismus mit einem durchschnittlich erhöhten Politikvertrauen assoziiert.

Eine alternative Erklärung für diesen Zusammenhang bestünde darin, dass Atheist:innen und Agnostiker:innen qua ihres Minderheitenstatus und qua mangelnder politischer Repräsentation häufiger eine distanziertere Positionierung einnehmen. Für die USA etwa erscheint eine solche Deutung als plausibel (Kasselstrand et al. 2017). Im deutschen Kontext überzeugt eine solche Erklärung allerdings nicht, insofern sich Atheist:innen und Agnostiker:innen in Deutschland nicht in einer vergleichbaren gesellschaftlichen Situation wiederfinden.

Zusammenhänge mit devianter Religiosität wie Glücksbringerglaube, Wahrsagerei, Wunderheiler:innenglaube, Astrologie, Geisterglaube, magischem Denken und New Age lassen sich am plausibelsten über die assoziierten Persönlichkeitstypen verstehen. Menschen, die sozialer Kooperation misstrauischer gegenüberstehen und gehäuft Ausprägungen einer schizotypischen Persönlichkeit sowie des Neurotizismus aufweisen, adaptieren durchschnittlich häufiger solche Formen der Religiosität (Farias et al. 2005; Boden et al. 2012; Thalbourne et al. 1995; Wiseman und Watt 2004; Unterrainer et al. 2011).

H7:

Deviante Religiosität ist mit einem durchschnittlich verringertem Politikvertrauen assoziiert.

Entgegen dieser Annahme findet jedoch die Leipziger Autoritarismusstudie von 2020 keine Assoziation von „Aberglaube“ (Glücksbringer, Wahrsagerei, Wunderheiler und Astrologie) und Vertrauen gegenüber politischen und gesellschaftlichen Institutionen (Schließler et al. 2020, S. 289).

4 Datengrundlage und Methode der Analyse

Als Datengrundlage für die quantitative Analyse dient die aktuelle V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die als repräsentative Zufallsstichprobe von TNS Emnid mit persönlichen Interviews (CAPI) erhoben wurde (Bedford-Strohm und Jung 2015). Zwar stammt die Erhebung aus dem Jahr 2012, doch bietet sie gegenüber allgemein sozialwissenschaftlich orientierten Erhebungen den Vorteil, dass mit den differenzierten Informationen zu den verschiedenen Dimensionen und Ausprägungen von Religiosität und Kirchlichkeit die beschriebenen Hypothesen getestet werden können. Der Datensatz steht im GESIS-Datenarchiv zur Verfügung (https://doi.org/10.4232/1.5172).

Die Stichprobe und die folgenden Analysen beziehen sich auf volljährige evangelische Kirchenmitglieder in Deutschland. Die Studie vergleicht die Personengruppe, die eine ausgeprägte evangelische Religiosität aufweist, mit den säkular eingestellten Kirchenmitgliedern, die eine gering ausgeprägte oder keine evangelische Religiosität zeigen und die im Sample mehrheitlich vertreten sind. Letztere Gruppe erscheint als grundsätzlich vergleichbar mit der säkular eingestellten, konfessionslosen Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Damit adressiert die Studie die Bedeutung der evangelischen Religiosität in Referenz zur Säkularität. Die verschiedenen Intensitäten und Ausprägungen evangelischer (Nicht)Religiosität sind im Sample hinreichend repräsentiert, wobei die Überrepräsentation der hochreligiösen Minderheit im Sample für die Analyse von Vorteil ist (Kreitzscheck und Haensch 2019). Tab. 1 zeigt die deskriptive Statistik des Samples.

Das generalisierte Politikvertrauen wurde mit einem einzelnen, aber gängigen Item abgefragt: „Man kann unterschiedliches Vertrauen in gesellschaftliche Einrichtungen haben. Wie stark vertrauen Sie den folgenden Institutionen? – Politischen Parteien“ mit der vierstufigen Antwortmöglichkeit: „vertraue ich gar nicht“ bis „vertraue ich sehr“ (vgl. grundsätzlich zur Erhebung von Vertrauen: Bauer und Freitag 2018).

Ausgehend von den entworfenen Hypothesen prüfen mehrere Regressionsanalysen direkte und indirekte Effekte evangelischer Religiosität auf das Politikvertrauen. Die Operationalisierungen der unabhängigen Variablen werden zusammen mit den Analysen besprochen.

Als Kontrollvariablen werden die Demografie, der Kontext der neuen Bundesländer und die subjektiv empfundene Entwicklung der eigenen wirtschaftlichen Lage berücksichtigt. Letzterer Effekt verweist auf die Evaluation der Leistung der politischen Akteur:innen (Listhaug und Jakobsen 2018). Zudem wird berücksichtigt, dass psychologische Persönlichkeitstypen ein charakteristisches Vertrauensverhalten zeigen. Offenheit und Extroversion sind dabei negativ assoziiert mit Politikvertrauen (Mondak et al. 2017; Cawvey et al. 2018).

Tab. 1 Deskriptive Statistik

5 Analyse und Ergebnisse

5.1 Die objektvermittelte Wirkung religiöser Emotionalität auf das Politikvertrauen

Wir operationalisieren das Muster religiöser Emotionalität, das als vermindertes Stressempfinden durch religiöses Appraisal und Emotionsregulation charakterisiert ist, individuumsbezogen als religiöse Geborgenheit. Es wird erhoben mit dem Grad der Zustimmung zur Aussage: „Mein Glaube gibt mir ein Gefühl der Geborgenheit“. Eine Regression, die die religiöse Geborgenheit als abhängige Variable aufnimmt, verdeutlicht ihr Zustandekommen und ihre Semantik (Tab. 2).

Tab. 2 Zustandekommen und Semantik religiöser Geborgenheit als Muster verminderten Stressempfindens. Lineare Regressionen, vollstandardisierte B‑Koeffizienten; abhängige Variable: „Mein Glaube gibt mir ein Gefühl der Geborgenheit“ mit fünfstufiger Antwort: „trifft überhaupt nicht zu“ bis „trifft voll und ganz zu“

Die religiöse Geborgenheit lässt sich zurückführen auf die Religiositätsdimensionen Glaube, Erfahrung und Praxis, wobei sich ihre emotionalen Wirkungen entsprechend des oben skizzierten Modells verstehen lassen (vgl. oben 3.1). Der Glaube an ein Leben nach dem Tod wirkt stressreduzierend, weil weltrelativierend (Appraisal: Goal). Der Glaube an ein göttliches Gericht bearbeitet das Problem der Verantwortung (Appraisal: Agency). Die Vorstellung und die Erfahrung von Gott als alltagsweltlicher Akteur stabilisieren die Kontrollwahrnehmung in belastenden Situationen (Appraisal: Control). Die individuellen und gemeinschaftlichen religiösen Rituale dienen der Emotionsregulation. So lässt sich die religiöse Geborgenheit plausibler Weise als ein Muster einer stressreduzierenden religiösen Emotionalität begreifen.

Diese religiöse Emotionalität stärkt das Politikvertrauen entsprechend der Annahme von H1, wie es die nächste Regressionsanalyse bestätigt (Tab. 3). Der deutliche bivariate Zusammenhang (r = +0,22; Abb. 1) setzt sich in der multivariaten Betrachtung abgeschwächt fort (B = +0,13).

Abb. 1
figure 1

Bivariater Zusammenhang zwischen dem Vertrauen gegenüber politischen Parteien und der stressmindernden religiösen Emotionalität („Geborgenheit“). Quelle: eigene Berechnungen mit V. KMU; N = 1858 volljährige ev. Kirchenmitglieder; mit Gewichtung

Tab. 3 Regression zur Erklärung von Politikvertrauen. Blockweise, lineare Regression, vollstandardisierte B‑Koeffizienten, abhängige Variable: „Wie stark vertrauen Sie den folgenden Institutionen? – Politischen Parteien“ mit der vierstufigen Antwortmöglichkeit: „vertraue ich gar nicht“ bis „vertraue ich sehr“

5.2 Religiös motivierte gesellschaftliche Mitgestaltung und Kooperationsbereitschaft

In ihrer mehrheitlichen Ausprägung folgt die evangelische Religiosität einer inklusiven Weltdeutung, die den religiösen Auftrag zur gesellschaftlichen Mitgestaltung betont. Auf der Ebene der individuellen Einstellungen gewinnt sie Gestalt in dem verstärkten Anliegen zum politisch-gesellschaftlichen Engagement (Tab. 4). Anders als bei der religiösen Geborgenheit speist sich dieses Anliegen nicht aus der individuellen Religionspraxis sondern aus der gemeinschaftlichen Praxis sowie aus der verbindlichen sozialen Einbettung in die Kirchengemeinde durch die Mitarbeit. Der einstellungsprägende Effekt der Gottesdienste lässt sich plausibler Weise auf die öffentliche religiöse Kommunikation in Predigt und Fürbitte im Gottesdienst zurückführen, der allerdings nicht bei einer sporadischen, sondern nur bei einer regelmäßigen Gottesdienstteilnahme nachzuweisen ist. Die Bedeutung der sozialen Einbettung in die Kirchengemeinde durch regelmäßige Mitarbeit repräsentiert entweder einen Selektionseffekt oder er lässt sich als Effekt sozialen Lernens und sozialer Normierung verstehen. Kirchengemeinden erscheinen so als moralische Gemeinschaften (moral communities), die als soziale Kontexte dazu beitragen, Religiosität in Einstellungen und Verhalten zu übersetzen (Stark 1996; Stark et al. 1982).

Damit bestätigt sich die vermittelte Wirkung evangelischer Religiosität nach H4. Indem die evangelische Religiosität die Einstellung gesellschaftlicher Mitgestaltung anregt, stärkt sie auch die Kooperationsbereitschaft und das Politikvertrauen.

Tab. 4 Regression zur Erklärung der Einstellung gesellschaftlich-politischer Mitgestaltung. Blockweise, lineare Regression, vollstandardisierte B‑Koeffizienten, abhängige Variable: „Wie wichtig sind die einzelnen Dinge für Sie persönlich für Ihr Leben? – sich politisch, gesellschaftlich einsetzen“ mit siebenstufiger Antwort von „völlig unwichtig“ bis „sehr wichtig“

5.3 Politikvertrauen durch religiöses Sozialvertrauen

Die gängige Frage nach dem Vertrauen zu Personen, die man zum ersten Mal trifft, dient zur Operationalisierung des generalisierten Sozialvertrauens (Bauer und Freitag 2018). Die blockweise Regression belegt, dass die Konstitution von Sozialvertrauen eine erhebliche religiöse Dimension aufweist (Tab. 5). Die evangelische Religiosität wirkt als Mehrheitsphänomen vertrauensstärkend, wobei nicht alle der vermuteten Wirkungspfade validiert wurden (H3).

In deutlicher Art und Weise stärken sowohl die subjektive Wichtigkeit der evangelischen Religiosität, die mehrheitlich von einer inklusiven Weltdeutung ausgeht, als auch ein alltagsweltbezogenes Gottesbild die Vertrauensbereitschaft. Letzterer Zusammenhang erklärt sich, wie beschrieben, über die Funktion von Gott als risikomindernde Akteur:in.

Die vertrauensstärkende Bedeutung evangelischer Gottesdienste als inklusiv orientierte religiöse Rituale bestätigt sich ebenfalls. Dass hierbei eine eigene rituelle Dimension zum Tragen kommt, plausibilisiert sich dadurch, dass sich der Effekt gegenüber der subjektiven Wichtigkeit der Religiosität und gegenüber der kirchlichen Geselligkeit als eigenständig erweist.

Die Kontakthypothese findet hingegen keine Bestätigung. Die ausbleibenden Effekte durch zivilgesellschaftliche Vereine, kirchliche Gruppen und in der Regel kontaktintensive kirchliche Mitarbeit könnten in Verbindung zu den beschriebenen Ambivalenzen stehen (vgl. oben 3.3). Vielleicht bilden diese Vergemeinschaftungen vor allem partikulares Vertrauen aus, ohne es über die Gruppengrenze hinweg zu generalisieren.

Die zurückliegende religiöse Kindheit ist mit Ambivalenzen für das Sozialvertrauen in der Gegenwart behaftet. Einerseits erweisen sich kirchliche Kindergruppen als vertrauensbildende Kontexte verlässlicher Sozialbeziehungen. Andererseits hemmt eine intensive religiöse Erziehung im Elternhaus die Vertrauensbereitschaft. Eine solche Minderheitensozialisation könnte sich dahingehend ausgewirkt haben, dass sie das Partikularvertrauen zur religiösen Gruppe über das generelle Vertrauen stellte.

Indem die evangelische Religiosität mehrheitlich das generalisierte Sozialvertrauen fördert, entsteht ein indirekter positiver Effekt auf das Politikvertrauen (Tab. 4).

Tab. 5 Regression zur Erklärung des generalisierten Sozialvertrauens. Blockweise, lineare Regression, vollstandardisierte B‑Koeffizienten, abhängige Variable: „Inwieweit vertrauen Sie Mitgliedern der folgenden Gruppen? – Personen, die Sie das erste Mal treffen“ mit der vierstufigen Antwort von „gar nicht“ bis „sehr“

5.4 Evangelische Gottesdienste als ambivalente politische Plattformen

Es finden sich keine deutlichen Zusammenhänge zwischen allgemeinen Gottesdiensten, spezifischen Gottesdiensten zu politischen Themen und dem Vertrauen gegenüber den politischen Parteien (H5). Diese Leerstelle erscheint als umso auffälliger angesichts des Kontrasts, dass Gottesdienste andererseits die Einstellung zur gesellschaftlich-politischen Mitgestaltung und das zivilgesellschaftliche Engagement in deutlicher Art und Weise anregen. Dieser Gegensatz ließe sich am plausibelsten vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Repräsentation von Zivilgesellschaft auf der einen Seite und Politik im engeren Sinn des Wortes auf der anderen Seite im Rahmen von evangelischen Gottesdiensten verstehen (Burbach 1990, 1995). Zu vermuten ist, dass die Darstellung zivilgesellschaftlicher Akteur:innen häufiger affirmativ und die Repräsentation politischer Akteur:innen gehäuft kritisch ausfällt. Evangelische Gottesdienste scheinen so eine Politisierung für die Zivilgesellschaft zu vollziehen, die nicht in gleicher Weise das politische System betrifft.

Über die Einstellung der gesellschaftlich-politischen Mitgestaltung, die die Kooperation mit gesellschaftlichen Akteur:innen impliziert, stehen die Gottesdienste dennoch in einem indirekt positiven Zusammenhang mit dem Politikvertrauen (vgl. oben 5.2.).

5.5 Religiöse Weltdeutung als Akteursdeutung: inklusive und exklusive Doktrinen, evangelisch-freikirchliche Religiosität

Die verfügbaren Daten erlauben es nicht, eine konservativ-exklusiv orientierte Frömmigkeit direkt und umfassend zu adressieren. Eine solche Ausprägung evangelischer Religiosität wird daher mittelbar über die Bibelhermeneutik operationalisiert. Ein „wortwörtliches“ Bibelverständnis kann als ein alltagsreligiöser Identitätsmarker evangelikaler oder fundamentalistischer Religiosität gelten (Hoberg 2017), der auch zur Definition von Evangelikalismus herangezogen wird (Hochgeschwender 2017). In Übereinstimmung mit H2 reduziert eine solche Frömmigkeit das Politikvertrauen tendenziell.

Die Erhebung, die sich auf evangelisch-landeskirchliche Kirchenmitglieder beschränkt, kann die evangelisch-freikirchliche Religiosität lediglich indirekt adressieren – über die Partner:innen, die zu evangelischen Freikirchen gehören. Dieses Vorgehen kann Validität beanspruchen, weil religiöse Homophilie und Homogenisierung in Partnerschaften stark ausgeprägt sind (Arránz Becker et al. 2014; Roleder 2020). Die folgenden Zusammenhänge beziehen sich also auf nominal evangelisch-landeskirchliche Kirchenmitglieder, die Merkmale freikirchlicher Religiosität übernommen haben und die sich in freikirchlichen Milieus bewegen.

In der Bündelung der verschiedenen Analysen entsteht ein charakteristisches Profil evangelisch-freikirchlicher Religiosität, das ein Muster des exklusiven Weltbezuges zeigt, wie es für den konservativen Protestantismus typisch ist. Die freikirchliche Frömmigkeit kombiniert eine verstärkte In-Group-Orientierung (Tab. 6) mit einer tendenziellen Außendistanzierung, indiziert durch das verminderte generalisierte Sozialvertrauen (Tab. 5) und das verminderte Politikvertrauen (Tab. 3). Hinzu kommt der öffentliche Gestaltungsanspruch, religiös verstanden als missionarisches Sendungsbewusstsein, der sich in der individuellen Einstellung äußert, sich politisch-gesellschaftlich einzusetzen (Tab. 4). Dass konservative protestantische Gemeinschaften eine verdichtete Interaktion und Einbettung innerhalb der religiösen Gruppe zeigen, ist aus der Forschung bekannt (Scheitle und Adamczyk 2009; Roleder 2020, S. 255ff).

Dieses Muster ist allerdings einer Generationenverschiebung unterworfen. Sowohl das Out-Group-Vertrauen als auch die In-Group-Einbettung zeigen signifikante Interaktionseffekte mit dem Lebensalter, die auf einen Trend der Inklusivierung hinweisen. Das nach außen gerichtete Vertrauen nimmt unter den jüngeren Generationen zu, während die In-Group-Interaktion bei den Jüngeren nicht mehr derart stark ausgeprägt ist. Der öffentliche Gestaltungsanspruch bleibt konstant. Dieser Inklusivierungstrend bedeutet eine Annäherung des evangelisch-freikirchlichen Weltbezugs an den typischen evangelisch-landeskirchlichen Weltbezug in den jüngeren Generationen.

Diese Befunde sind mit der methodischen Unsicherheit behaftet, dass die Erhebung nicht repräsentativ für die evangelisch-freikirchliche Population ist. Eine Verzerrung im Sample der freikirchlichen Partner:innen kann nicht ausgeschlossen werden.

Tab. 6 Regression zur Erklärung der In-Group-Einbettung. Blockweise, lineare Regressionen, vollstandardisierte B‑Koeffizienten, abhängige Variablen: „Wie häufig gehen Sie den folgenden Beschäftigungen in ihrer Freizeit nach? – Besuch von Familie, Verwandtschaft/Besuch von Nachbarn, Freunden, Bekannten“

5.6 Wertehaltungen, Denkstile und Persönlichkeitstypen in Assoziation mit individueller Religiosität

Eine tendenzielle Zurückhaltung beim Politikvertrauen unter Atheist:innen und Anhänger:innen devianter Glaubensüberzeugungen bestätigt sich (H6; H7). Plausibler Weise liegen Assoziationen mit Persönlichkeitstypen, Wertehaltungen und Denkstilen vor (vgl. oben 3.6). Eine Kausalität wird an dieser Stelle ausdrücklich nicht angenommen. Dass Persönlichkeitstypen bei den individuellen Vertrauenskalkulationen eine Rolle spielen, zeigt sich auch an den Effekten durch Openness und Extroversion (Tab. 3).

5.7 Fazit zur empirischen Analyse

Die Berücksichtigung religiöser Faktoren führt zu einem merklichen Erklärungsfortschritt sowohl bei der Mikrokonstitution von Politikvertrauen als auch bei den vorgelagerten Konzepten von gesellschaftlicher Mitgestaltung und Sozialvertrauen, wie es die steigenden Erklärungswerte der Regressionen anzeigen. Als ertragreich erweist sich die differenzierte Berücksichtigung der verschiedenen Dimensionen von Religiosität. Das religiös grundierte Politikvertrauen geht in erster Linie auf die emotionsbezogene Kontingenzbewältigung sowie auf die inklusive Weltdeutung zurück. In Bezug auf die vorgelagerten Konzepte von gesellschaftlicher Mitgestaltung und Sozialvertrauen spielen zudem auch die anderen Religiositätsdimensionen eine merkliche Rolle: die öffentliche Kommunikation religiöser Vergemeinschaftung, die Praktiken und Rituale sowie die Sozialisation. Schließlich verdeutlicht sich auch die Bedeutung der spezifischen Ausprägungen von Religiosität. So weisen die inklusiv und die exklusiv orientierte Religiosität, letztere angezeigt durch die freikirchliche Religiosität und das Bibelverständnis, hinsichtlich ihrer politischen Konsequenzen in gegensätzliche Richtungen. Ebenso sind es spezifische Gottesvorstellungen, die der religiösen Geborgenheit und dem Sozialvertrauen zugrunde liegen. In ihrer mehrheitlichen Ausprägung unterstützt die evangelische Religiosität in Deutschland das politische wie das soziale Vertrauen. Zugleich bestehen Ambivalenzen, die sich auf die Repräsentation politischer Akteur:innen in Gottesdiensten, auf exklusive, fundamentalistische und evangelikale Frömmigkeiten sowie anscheinend auch auf eine intensive religiöse Sozialisation in der Kindheit zurückführen lassen.

6 Diskussion: Theorieertrag und Forschungsdesiderate

Die sich abzeichnende politische Bedeutung religiöser Kontingenzbewältigung ist in ein umfassenderes Modell der politischen Stressbewältigung einzuordnen. Individuen bewältigen Stressoren mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Handlungsstrategien (Diewald und Sattler 2010; Haußmann 2019). Im Fall politischer Stressoren sind auch unpolitische Bewältigungsressourcen von Bedeutung. Dies verdeutlicht die Forschung zur Bewältigung von politischer Gewalt, für die informelle Unterstützungsnetzwerke, institutionelle Hilfe genauso wie religiöse und kulturelle Sinnstiftung eine Rolle spielen (Sousa et al. 2013). Die religiöse Dimension der individuellen Bewältigung allgemeiner Stressoren wird seit langem untersucht und kann sich auf eine breite und differenzierte empirische Evidenz stützen (Haußmann 2019). Die hier vorgestellte Untersuchung plausibilisiert nun eine religiöse Dimension der Bewältigung politischer Stressoren. Neben anderen Faktoren sind es religiöse Glaubensüberzeugungen sowie religiöse Praktiken und Rituale, die mitbeeinflussen, wie Menschen politische Stressoren wahrnehmen und bearbeiten.

Die hier aufgeworfene Perspektive, dass Religiosität bei der Bewältigung politischer Stressoren eine vertrauensförderliche Rolle spielt, bedarf der weiteren Erforschung. Unsere Untersuchung ist mit der methodischen Begrenzung behaftet, dass wir die (politischen) Emotionen von Angst und Wut nicht unmittelbar und umfassend adressieren. Eine direkte und umfassendere Operationalisierung wäre für die Zukunft wünschenswert.

Individuen bearbeiten die Emotionen von Angst und Wut, die politische Stressoren evozieren, ebenso mit politischem Verhalten. Die intensive bzw. verminderte Empfindung von negativen Emotionen angesichts von politischen Stressoren hat folglich politische Konsequenzen. Die Emotionstheorie geht grundsätzlich davon aus, dass Emotionen eigene Handlungsimpulse setzen (Döring 2006; Petri 2018). In der Forschung sind drei politische Verhaltenskonsequenzen politischer Angst und Wut bekannt, die sich auf die Dimensionen Informationen, Einstellungen und Akteur:innen beziehen. Angst schärft die Aufmerksamkeit für die beängstigende Thematik und stößt die Informationssuche der Individuen an. Die angstbesetzte Informationsverarbeitung neigt dazu, bisherige politische Orientierungen in Frage zu stellen und sich von abweichenden Standpunkten eher überzeugen zu lassen (Brader et al. 2011; Brader 2005). Zugleich bewirkt Angst eine Voreingenommenheit dergestalt, dass sich angsterfüllte Individuen auf bedrohliche Informationen besonders konzentrieren (Albertson und Kushner Gadarian 2015, S. 43–72). Die Angstwahrnehmung verstärkt sich in der Folge. Zweitens fördern Angst und Wut die Unterstützung solcher entschiedenen politischen Maßnahmen, die Abhilfe angesichts der Emotionen versprechen: Schutz vor Angst, Gerechtigkeit gegen die Wut (Albertson und Kushner Gadarian 2015, S. 100–137; Huddy et al. 2007). Drittens stärken Angst und Wut das Vertrauen in solche politischen Akteur:innen, die als problemlösungskompetent wahrgenommen werden. Andererseits erodiert das Vertrauen in die vermeintlich problemverantwortlichen Akteur:innen (Albertson und Kushner Gadarian 2015, S. 73–99). Politische Wut ist entsprechend mit der Unterstützung rechtspopulistischer Parteien assoziiert (Rico et al. 2017; Vasilopoulos et al. 2019).

Die Befunde der hier vorgestellten Analyse verweisen auf letztere Dimension der Haltung gegenüber politischen Akteur:innen. Die vermutlich verminderte Angst- und Wutwahrnehmung durch religiöse Bewältigung stärkt das Politikvertrauen als Vertrauen in die etablierten politischen Akteur:innen. Verallgemeinernd lässt sich darin ein religiöses Moment erkennen, das grundsätzlich systemstabilisierend wirkt. Religiöse Individuen bewältigen politische Stressoren partiell religiös, anstelle sie der politischen Ordnung anzulasten und sie in der Folge in Frage zu stellen. Die durch religiöse Emotionalität vermutlich verminderte Angst- und Wutwahrnehmung wirkt auf diese Weise sozialintegrierend – mit den entsprechenden Vor- und Nachteilen.

Dieser Ansatz fügt der aktuellen Forschung zum Verhältnis von christlicher Religiosität und Populismus in Deutschland eine wichtige Erklärungsdimension hinzu. Eine ausgeprägte christliche Religiosität ist in Deutschland in deutlicher Art und Weise mit einer Zurückhaltung bei der Wahl der AfD (Pickel 2019) sowie mit einer nachhaltigeren Unterstützung der demokratischen Ordnung verbunden (Pickel 2022). Es stellt sich allerdings die Frage, wie diese Zusammenhänge im Einzelnen zustande kommen. Das Politikvertrauen ist hierbei als ein mediierender Faktor anzusehen. Denn der Populismus operiert im Kern seiner Programmatik mit einem Misstrauen gegenüber den etablierten politischen Akteur:innen. Die Wähler:innen der AfD zeigen ein stark vermindertes Politikvertrauen (Pickel 2019). Angesichts eines religiös gestärkten Politikvertrauens sollte die Kritik des Populismus an den etablierten politischen Akteur:innen weniger verfangen und der Populismus für die religiösen Gruppen damit an Plausibilität einbüßen.

In diesem Sinn ist der Zusammenhang zwischen Religiosität und Populismus nicht ausschließlich ausgehend von einem rationalistisch enggeführten Religionsverständnis zu bearbeiten, das sich hauptsächlich auf inhaltliche Schnittmengen von Glaubensüberzeugungen, Einstellungen und populistischen Themen sowie auf die öffentlichen diskursiven Positionierungen der Kirchen gegen den Populismus fokussiert. Vielmehr liegt es nahe, für ein umfassendes Verständnis zusätzlich auch die Bedeutung religiöser Emotionalität, die in zunächst unpolitisch anmutenden religiösen Praktiken, Vergemeinschaftung und Sinndeutungen der Kontingenzbewältigung wurzelt, zu berücksichtigen.

Nimmt man den Forschungsstand zu den Konsequenzen negativer politischer Emotionen zusammen, lässt sich eine Vermutung zu den generellen politischen Konsequenzen einer religiös verminderten Empfindung solcher Emotionen entwickeln. Die religiöse Kontingenzbewältigung sollte die Problemwahrnehmung mindern, das Festhalten an den bestehenden politischen Orientierungen wahrscheinlicher machen und die Unterstützung für extreme politische Maßnahmen abschwächen. Religiöse Kontingenzbewältigung tendiert also in die politische Mitte.

Für die demokratische Kultur wird es darauf ankommen, ob sich die religiöse Kontingenzbewältigung mit einer auf politische Beteiligung ausgerichteten religiösen Weltdeutung verbindet. Nur in dieser Verbindung fördert die Religiosität politisch resiliente und zugleich politisierte Bürger:innen im Sinne des demokratischen Leitbildes. Ansonsten droht die Gefahr einer religiös beruhigten politischen Passivität. Die gegenwärtige evangelische Religiosität in Deutschland scheint in ihrer mehrheitlichen Ausprägung glücklicherweise beide Impulse, die Kontingenzbewältigung und die politische Aktivierung, zugleich zu setzen und darin demokratieförderlich zu wirken.

Das sich abzeichnende sozialintegrierende Moment gegenüber der politischen Ordnung, das von der religiösen Emotionalität ausgeht, bleibt plausibler Weise nicht auf die hier untersuchte evangelische Religiosität in Deutschland beschränkt. Zukünftige Forschung hätte nach einem verallgemeinerbaren religiösen Phänomen zu suchen, das auch andere Kontexte, zeitliche Perioden und religiöse Traditionen betrifft. Denn die Kontingenzbewältigung durch religiöse Sinndeutung, Praktiken und Rituale repräsentiert ein universales religiöses Moment, das viele religionstheoretische Entwürfe entsprechend in das Zentrum des Religionsbegriffs stellen (Pollack 2018). Dies gilt mit der Einschränkung, dass sich die Zusammenhänge zwischen Religiosität und Politikvertrauen als komplex, abhängig von Randbedingungen und mitunter als gegenläufig darstellen, wie es die vorgelegte Untersuchung ebenfalls demonstriert hat. Folglich ist damit zu rechnen, dass andere religiöse Faktoren, wie exklusive Weltdeutungen und religiöse Konflikte, die sich gegenläufig verhalten, das sozialintegrative Moment religiöser Kontingenzbewältigung mitunter überlagern.

Zukünftige Forschung wird die Perspektive auf weitere politische Emotionen in ihrem Zusammenhang mit Religiosität und hinsichtlich ihrer politischen Konsequenzen erweitern können. Eine Studie zeigt etwa, dass Emotionen der Hoffnung zur Unterstützung des politischen Handelns gegen die Klimaerwärmung motivieren können (Ojala 2012).

Die aufgeworfene emotional-politische Wirkung evangelischer Religiosität stellt zugleich eine vorschnelle Charakterisierung der evangelischen Tradition als rationale, unemotionale Religion in Frage, wie sie in Anschluss an die puritanische Beschränkung der Emotionen bei Max Weber fortwirkte (Kalberg 2013). Ein solches Missverständnis dürfte bereits von der kognitivistischen Wende in der Emotionstheorie überholt sein, die den evaluativen Charakter von Emotionen herausstellt und den unterstellten Gegensatz von Emotion und Ratio überwindet (Döring 2006; Petri 2018).

Als Ertrag für die allgemeine Forschung zur Konstitution von Politikvertrauen eröffnet sich die Perspektive, auf der Mikroebene zukünftig auch die individuellen unpolitischen Ressourcen und Strategien zur Bewältigung politischer Stressoren zu berücksichtigen. Die hier fokussierte religiöse Bewältigung repräsentiert sicherlich nur eine Ressource neben anderen. Mit nichtreligiösen funktionalen Äquivalenten ist zu rechnen. Davon lässt sich ein Erklärungsfortschritt hinsichtlich der Konstitution von Politikvertrauen auf der Mikroebene erwarten, wobei die Politikwissenschaft hierbei an die allgemeine Forschung zu Coping und Social Support anschließen kann (Haußmann 2019; Diewald und Sattler 2010).

Zudem verdeutlichen die differenzierten und zum Teil gegenläufigen Zusammenhänge die doppelte Komplexität, die es bei der Frage nach der politischen Bedeutung von Religiosität grundsätzlich zu berücksichtigen gilt. Erstens sind die verschiedenen Dimensionen von Religiosität (Weltdeutungen, Vergemeinschaftung, Praktiken, Sozialisation etc.) hinsichtlich ihrer Wirkungen gesondert zu eruieren und nicht vorschnell unter einem allgemeinen Konzept, etwa religiöser Zentralität, zu subsummieren. Denn wie gezeigt, entfalten verschiedenen Dimensionen unterschiedliche und zum Teil gegenläufige politische Wirkungen. Zweitens erweist sich Religiosität als politisch bedeutsam in Abhängigkeit von ihrer spezifischen Ausprägung. Bedeutsamer als Grobunterscheidungen von Traditionen und Konfessionen scheint die Differenzierung von inklusiv und exklusiv orientierten religiösen Stilen innerhalb von religiösen Traditionen zu sein.

In Bezug auf die evangelische Religiosität in Deutschland identifizierte die Untersuchung insbesondere zwei Forschungsdesidarate. Die Repräsentation politischer Akteur:innen in Gottesdiensten bedarf einer eingehenderen Untersuchung, um der repräsentationalen Diastase zwischen Zivilgesellschaft und Politik im engeren Sinn des Wortes und ihren Konsequenzen nachzugehen (vgl. oben 5.4). Zudem erscheint der festgestellte Inklusivierungstrend innerhalb des freikirchlichen Spektrums unter den jüngeren Generationen hinsichtlich seiner genauen Beschaffenheit und seiner Hintergründe als interessant (vgl. oben 5.5).