Seit einiger Zeit sind auf der Bühne des Literaturbetriebs Akteure aufgetreten,Footnote 1 die ihren Kritikerinnen und Kritikern als »Totengräber der Kunst« gelten.Footnote 2 Ihr Geschäft sei das Morden von Büchern (»killing books«, »killing the novel«),Footnote 3 mindestens aber eine »neue Form der Zensur«,Footnote 4 die das »Ende der Literatur« herbeiführe.Footnote 5 Die Rede ist von Sensitivity Readern. Die zumeist von Freelancern, manchmal aber auch von angestellten Lektorinnen und Lektoren ausgeübte Tätigkeit besteht darin, Buchmanuskripte im Hinblick auf »schädliche oder missverständliche Darstellungen und Mikroaggressionen« zu lesen und den Verlagen sowie den Autorinnen und Autoren Empfehlungen für Überarbeitungen auszusprechen.Footnote 6 Sensitivity Reading kann einzelne Wörter und Formulierungen, aber auch ganze Figurenkonstellationen, größere Szenen oder Plotkonzepte betreffen. Besonders kontrovers diskutiert wurden in letzter Zeit Fälle, bei denen ältere Texte neu aufgelegt und von »beleidigenden Inhalten« befreit wurden – so wie die Kinderbücher Roald Dahls, bei deren Neuauflage auf die Empfehlung von Sensitivity Readern hin etwa das Wort »fett« durch »enorm« ersetzt oder die Formulierung, dass Gesichter »weiß« vor Schreck werden, getilgt wurde.Footnote 7

Der hohe Erregungsgrad, der in der Debatte um das sensible Lesen zum Ausdruck kommt, ist symptomatisch. Eine maßgebliche Ursache für die Erbitterung, mit der der Streit geführt wird, besteht in grundlegend verschiedenen Auffassungen des Literarischen. Sensitivity Reading fordert eine ganze Reihe etablierter Konzepte und Techniken heraus, die im Umgang nicht nur mit der Literatur der Gegenwart lange dominant waren. Die Diskussion ist deshalb aufschlussreich, wenn man aktuelle Verschiebungen und Umstrukturierungen in der Konzeption von Gegenwartsliteratur nachvollziehen möchte.

Eine maßgebliche Irritation geht vom beruflichen Profil des Sensitivity Readers selbst aus. Auf der 2018 gegründeten Seite sensitivity-reading.de, die das sensible Lektorat erstmals in Deutschland etabliert hat, lautet die erste Voraussetzung, die für eine Registrierung auf der Seite und das Ausüben der Profession nötig sei: »Sie sind von einer oder mehreren Diskriminierungsformen negativ betroffen. Es genügt nicht, dass Angehörige oder Familienmitglieder oder Partner*innen aus einer marginalisierten Gruppe stammen. Ihre Perspektive und Expertise ergibt sich aus der Diskriminierungserfahrung.«Footnote 8 Der Hinweis, dass sekundäre Erfahrungen nicht »genügen« würden, um das Diskriminierungspotenzial eines Textes festzustellen, ist für das Selbstverständnis sensibler Leserinnen und Leser entscheidend. Er kommt einer Privilegierung subjektiver Wahrnehmungen gegenüber der theoretischen und praktischen Könnerschaft des professionellen Lektorats gleich. Man müsse sich, so Victoria Linnea, die Mitgründerin von sensitivity-reading.de, zwar mit den »Diskursen« über das jeweilige Thema gut auskennen.Footnote 9 Doch die Perspektive einer betroffenen Person sei durch noch so viele Schulungen in der Praxis des sensiblen Lesens nicht ersetzbar.

Die Auffassung, dass persönliche Betroffenheit eine exklusive Expertise im Hinblick auf Fragen der systemischen Diskriminierung bedeutet, ist eine Konsequenz aus der Mitte der 1990er Jahre durch die Postcolonial Theory angestoßene Debatte über die soziale Repräsentation marginalisierter oder subalterner Gruppen. Die Feststellung, dass in der Regel bloß über solche Gruppen gesprochen werde, ohne dass diese selbst eine Stimme verliehen bekämen, führte nicht nur zu einer vehementen Kritik an allen Formen des stellvertretenden Sprechens, sondern auch zu Diskussionen über Möglichkeiten der Selbstermächtigung.Footnote 10 Den subalternen Status, so die Auffassung, könnten gesellschaftlich diskriminierte Gruppen nur dann überwinden, wenn sie am öffentlichen Raum partizipieren und selbst Gehör erhalten würden.Footnote 11

Aus der Perspektive von Sensitivity Readern ist auch die Tätigkeit des Lektorierens eine Praxis, die ganz zentral mit Fragen der Repräsentation verbunden ist. 2015 rief die Autorin Corinne Duyvis den Hashtag #OwnVoices ins Leben, der auf Twitter dazu dienen sollte, Kinder- und Jugendliteratur mit »diverse characters« zu empfehlen, die von Personen »from the same diverse group« verfasst wurden.Footnote 12 Der Aufstieg des Sensitivity Reading verlief parallel zu Diskussionen über die fehlende Diversität im Literaturbetrieb.Footnote 13 Kritikerinnen und Kritiker dieser fehlenden Diversität argumentieren, dass die »kulturell dominanten« Perspektiven selbst da oft implizit leitend seien, wo vermeintlich rein ästhetische Kriterien zugrunde gelegt würden.Footnote 14 Dieses Einflussgefälle soll durch sensible Lektüren kompensiert werden. Das Spektrum möglicher Zuständigkeiten, so Sensitivity Reader Valo Christiansen, sei dabei breit gesteckt: »Es gibt alle möglichen Bereiche: die riesigen Felder der Queerness, der Behinderung, der Religion, der psychischen Krankheiten. Es gibt so viele Themen, die man sensibler darstellen könnte und sollte. Es gibt auch Leute, die sagen: Ich habe eine Geburt oder mehrere Geburten erlebt, und ich habe festgestellt, dass Geburten in Büchern falsch dargestellt werden. Wichtig ist nur, dass es Betroffene selbst sind, die die Darstellungen beurteilen.«Footnote 15

Obwohl manche Sensitivity Reader Fortbildungen für ausgebildete Lektorinnen und Lektoren anbieten, wird deren Expertise und Fachwissen durch das Primat persönlicher Diskriminierungserfahrung radikal infrage gestellt. Unter der Annahme, dass das Wissen sozial diskriminierter Gruppen sich nicht übertragen lässt, können traditionell ausgebildete Lektorinnen und Lektoren keine sensible Lektüre in Gegenstandsbereichen vornehmen, bei denen sie selbst nicht Betroffene sind. Dies würde selbst dann noch gelten, wenn durch Quoten oder vergleichbare Mechanismen der Anteil sogenannter diverser Gruppen am Literaturbetrieb stark erhöht würde. Denn es geht bei der verlangten Einbindung von »Own Voices« nicht nur um Fragen der Gerechtigkeit. Vielmehr ist die Forderung, dass betroffene Gruppen für sich selbst sprechen und entscheiden sollten, auch mit einer spezifischen Vorstellung von der Standortgebundenheit von Wahrnehmungen verbunden.

Wenn Sensitivity Reader betonen, dass man sich in ihre »Realität« und ihre Wahrnehmung nicht »einfühlen« könne,Footnote 16 dann bezieht sich das auch auf den Effekt sprachlicher Darstellungen. Wie die jeweils dargestellten Gruppen lesen, lässt sich, so die Überzeugung, aus einer externen Position nicht kognitiv einholen. Dass man bisweilen über die eigene Wahrnehmung als betroffene Person mit nichtbetroffenen Lektorinnen und Lektoren »diskutieren« müsse, empfindet Christiansen deshalb als »anstrengend«.Footnote 17 Es handle sich um Erfahrungswissen, das zwar mitgeteilt, aber argumentativ nicht widerlegt werden könne.

Die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Haltung stammen unter anderem von der Critical-Race-Theory und der Trauma-Theorie. Wie die Beiträge in dem 1993 erschienenen Band Words that Wound argumentieren, können Wörter ebenso verletzen wie Stöcke oder Steine (»sticks and stones«).Footnote 18 Diskriminierende Darstellungen und Redeweisen würden bei Betroffenen häufig physische Reaktionen auslösen: »rapid pulse rate and difficulty in breathing, nightmares, post-traumatic stress disorder, hypertension, psychosis, and suicide«.Footnote 19 Diese Auffassung teilen auch Sensitivity Reader: »Ein Trigger kann tödlich sein«, konstatiert Jessica Bradley, ebenfalls Mitarbeiterin von sensitivity-reading.de.Footnote 20 Weil sprachliche Trigger nach Ansicht von Sensitivity Readern nicht an kognitive, sondern an physische und emotionale Reaktionen gebunden sind, lässt sich die Frage, was als Trigger oder als schädliche Darstellung gelten muss, von Außenstehenden demnach nie in Gänze beantworten und nachvollziehen. Ähnlich verhält es sich bei sogenannten »Mikroaggressionen«, die so subtil in Texte eingebaut seien, dass man sie nur als betroffene Person erkenne.Footnote 21 Aus diesem Grund pflegen die Vertreterinnen und Vertreter der Trauma Studies eine »Ethik der Zurückhaltung«, die nicht nur eine »ostentative Markierung der eigenen Position« vorsieht, sondern auch die Vermeidung jeder »Vereinnahmung« der Bezugnahme der »Erfahrung von anderen«.Footnote 22 Auch Sensitivity Reader betonen bei der Beschreibung ihrer Arbeit stets, auf welchen Identitäten und Erfahrungen ihre Arbeit beruht, und weisen auf die Unmöglichkeit hin, für Andere sprechen zu können.Footnote 23

Der Aufstieg des Sensitivity Reading korrespondiert so gesehen mit einer in unterschiedlichen Wissensfeldern zu beobachtenden Relativierung theoretisch informierter Expertinnen und Experten. Diese stehen nicht nur im Verdacht, elitäre Strukturen und kulturelle Hierarchien zu reproduzieren, sondern sie sind zudem allein auf ein angelerntes und angelesenes Wissen angewiesen, das im Vergleich zur Empirie persönlich Betroffener als defizitär erscheint.Footnote 24 Sensitivity Reading entwirft sich zwar nicht als Alternative, sondern eher als Ergänzung zum Fachlektorat. Häufig weisen sensible Leserinnen und Leser darauf hin, dass ihre Tätigkeit vergleichbar sei mit der Recherchearbeit, die Autoren in Krankenhäusern, Bestattungsinstituten oder Dorfkneipen vornehmen, um die Lebensrealitäten der dort anzutreffenden Personen authentisch wiederzugeben. Mitunter wurde deshalb bereits vorgeschlagen, eher von »Authenticity Reading« zu sprechen.Footnote 25 Dennoch liegt ein Unterschied darin, dass bei solchen traditionellen Formen der Recherche nicht die Kompetenz des Lektorats infrage gestellt wird. Niemand würde einer Lektorin, die nicht mit den beschriebenen Orten, Berufen oder Institutionen vertraut ist, die Eignung absprechen, die Darstellung adäquat redigieren zu können. Im Bereich des Sensitivity Reading hingegen gilt die eigene Diskriminierungserfahrung als Voraussetzung, um die Beschreibung von Personen mit ähnlichen Erfahrungen angemessen einschätzen zu können.

Diese Frage nach der Befähigung zum sensiblen Lektorat berührt einen weiteren Problemzusammenhang, der in der Debatte implizit eine Rolle spielt: Sensitivity Reading bricht mit der in Literaturwissenschaft und -kritik lange Zeit vorherrschenden Auffassung, dass sich die Bedeutung eines Textes nicht definitiv bestimmen oder kontrollieren lasse. Ein beträchtlicher Anteil jener Personen, die sich in den vergangenen Jahren kritisch zur sensiblen Lektüre geäußert haben, gehört einer Generation an, die akademisch durch die Theorien des Poststrukturalismus sozialisiert wurde. In diesen Theorien ging es dezidiert um eine Ermächtigung der Leserschaft und eine Relativierung der autorschaftlichen Instanz als eines Produzenten von Bedeutungen. Den sensiblen Leserinnen und Lesern geht es hingegen ganz zentral darum, dass die möglichen Rezeptionsweisen eines Textes produktionsseitig begrenzt und kontrolliert werden sollen.

In gewisser Weise ist der Streit um Sensitivity Reading damit eine Neuauflage der Auseinandersetzung, die in den 1970er und 1980er Jahren zwischen der Dekonstruktion und der Sprechakttheorie ausgetragen wurde. John L. Austin hatte den Begriff des Sprechaktes (speech act) in seinen Vorlesungen an der Harvard University im Jahr 1955 eingeführt, um einen Beitrag zu der Frage zu leisten, inwiefern sprachliche Äußerungen selbst Handlungen vollziehen und Tatsachen schaffen. Sprechakte fungieren nach seiner Bestimmung nicht bloß »als äußeres, sichtbares Zeichen eines inneren geistigen Aktes«, sondern sie führen selbst Handlungen durch.Footnote 26 Statt von der ›Wahrheit‹ performativer Akte spricht Austin deshalb von ihrem Gelingen oder Misslingen.

Damit ein Sprechakt glücken kann, müsse eine Reihe von Faktoren erfüllt sein: Es muss eine bestimmte, existierende Konvention unter den von ihr erforderten Bedingungen und durch die zu ihrer Durchführung autorisierten Personen vollständig und korrekt vollzogen werden; der Inhalt des Sprechaktes muss mit den Absichten des Sprechers übereinstimmen und der Sprecher muss sich in der Folge entsprechend verhalten. Ist eines der beiden zuletzt genannten Kriterien nicht erfüllt, ist der Sprechakt zwar vollzogen, aber er wurde »unredlich« oder »inkonsequent« durchgeführt.Footnote 27 In einer kritischen Replik auf Austin hatte Jacques Derrida 1977 bemerkt, dass sich die Struktur der Sprache dem Anspruch der Sprechakttheorie, Eindeutigkeiten herzustellen und eine Übereinstimmung zwischen Intention und Rezeption herzustellen, grundsätzlich widersetze. Eine vollständige Kontrolle des Diskurses, ein Ausschluss von Missverständnissen und ein gesichertes Verstehen von Bedeutungen sei unmöglich. Zeichen haben aus der Sicht der Dekonstruktion eine »dekontextualisierende Struktur«, weil sie jederzeit als »kleine oder große Einheit« zitiert, »in Anführungszeichen gesetzt werden« und »mit jedem gegebenen Kontext brechen« können.Footnote 28 Dies setze »nicht voraus, daß das Zeichen (marque) außerhalb von Kontext gilt, sondern im Gegenteil, daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt«.Footnote 29

In theoretische Verwandtschaft zur Sprechakttheorie rückt Sensitivity Reading schon dadurch, dass Sprache hier generell unter dem Aspekt ihrer Performativität beobachtet wird. Leitend ist die Frage, welche psychischen, physischen und sozialen Tatsachen sprachliche Äußerungen schaffen: »Is this potentially going to cause harm? And if so, how can we make it not cause harm?«Footnote 30 Im Unterschied zu Austin ist es allerdings allein die Perspektive der im Text dargestellten, sozial benachteiligten Gruppen, die den Maßstab für die Beurteilung der sprachlichen Wirkung bildet. Für die Initiatorinnen von sensitivity-reading.de liegt die Verantwortung für solche Sprechakte ganz maßgeblich bei der Autorschaft: »Die Kunst des Schreibens liegt darin, sofort zu zeigen, was man aussagen möchte. Wenn ich einen Umstand kritisieren möchte, schreibe ich nicht erst einmal über lange Strecken das Gegenteil.«Footnote 31 Die Bandbreite möglicher Rezeptionsweisen müsse daher möglichst umfassend eingehegt werden: »Diese Diskussionen gibt es auch in der Musik: Wenn ein Song, der eigentlich Kritik an rechter Gewalt übt, diese Gewalt so darstellt, dass rechte Menschen es mögen und verbreiten, hat man etwas falsch gemacht. Man muss deshalb als Autor*in (Script- oder Songwriter) aufpassen, wie etwas dargestellt wird. Auch wenn Vergewaltigungen in der Literatur so dargestellt werden, dass potenzielle Täter das gut finden, hat man etwas falsch gemacht. Das hat etwas mit Handwerk zu tun.«Footnote 32

Literarische Könnerschaft zeigt sich demnach darin, mögliche Fehlrezeptionen zu vermeiden. Literatur dürfe und solle zwar durchaus »heikle« oder »schmerzhafte« Themen ansprechen.Footnote 33 Aber die an der Produktion Beteiligten müssten darauf achten, dass ihre Haltung zu diesen Themen sich eindeutig vermittle. In literarischen Texten, wo es auch aus der Perspektive von Sensitivity Readern bisweilen geschehen kann, dass diskriminierende Begriffe oder Darstellungen reproduziert werden – etwa bei der Charakterisierung negativer Figuren –, sei mindestens eine Content Note oder Triggerwarnung hilfreich. Noch besser aber finden es viele, die »Reproduktionen von verletzenden Ausdrücken« insgesamt zu vermeiden.Footnote 34 Dabei sehen Sensitivity Reader sich, anders als es in der öffentlichen Diskussion häufig den Anschein erweckt, in der Regel nicht als öffentliche Wächter oder für die Gesamtheit der Literatur zuständige »Zensoren«.Footnote 35 Dass ältere Texte und Klassiker bei Neuauflagen von diskriminierenden Inhalten grundsätzlich bereinigt werden sollten, ist unter Sensitivity Readern durchaus umstritten und trifft lediglich im Kinderbuchbereich weitgehend auf Konsens.Footnote 36

Sensitivity Reading beruht auf einer spezifischen Vorstellung davon, was Literatur tun oder leisten sollte: Identifikation mit den handelnden Figuren, Ermächtigung von Minderheiten und »Authentizität« der Darstellung.Footnote 37 Beim Lesen, so Linnea, versetze man sich automatisch »in die Figuren hinein. Man freut sich mit, man leidet mit«.Footnote 38 Es habe deshalb positive Effekte auf »Menschen, wenn sie sich in der Literatur wiederfinden«.Footnote 39 Der Literaturbegriff des Sensitivity Reading scheint damit in die Nähe dessen zu rücken, was Moritz Baßler als Poetik des »Midcult« in der Gegenwartsliteratur bestimmt hat: eine Literatur, die »gut verständlich ist, in der es auf die Geschichte ankommt«, in der man sich »mit der Hauptfigur identifizieren kann« und die durch all dies eine »ethisch humanisierende Wirkung« erreichen möchte.Footnote 40 Allerdings ist der Authentizitätsbegriff der Sensitivity Reader normativ geprägt: Es geht dezidiert darum, Klischees und Stereotype, die es ja auch in der Realität geben kann, zu vermeiden.Footnote 41 Wenn Baßler der »realistischen« Literatur von Karl Ove Knausgaard etwa bei der Beschreibung hektischer Stewardessen, grüner Inseln und steiler Berghänge den »Einsatz konventioneller Codes« vorwirft,Footnote 42 dann ist er damit in gewisser Hinsicht durchaus auf einer Linie mit dem Anspruch von Sensitivity Readern, die auf Vielfalt und Originalität in der Darstellung pochen – mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese Kategorien für Baßler keine politischen, sondern ›rein‹ ästhetische sind. Ihr Zweck liegt somit nicht primär darin, sich in die Figuren hineinzuversetzen, sich mit ihnen zu identifizieren und sich dadurch zu ermächtigen, sondern darin, »an der Welt« etwas »aufzuschließen, was wir nicht ohnehin wissen«.Footnote 43

Die Inanspruchnahme der Literatur für Politik, Ethik oder Weltanschauung, die vermeintlich zulasten ästhetischer Komplexität und Vieldeutigkeit geht, stellt für viele Kritikerinnen und Kritiker das Hauptproblem von Sensitivity Reading dar. Diese »neue Form der Zensur«, so heißt es etwa in einem kritischen Beitrag zum Thema, »passt so gar nicht zu dem, was wir von Literatur erwarten«.Footnote 44 Das »wir«, in dessen Namen hier gesprochen wird, befürchtet einen Rückfall hinter eine ästhetische Moderne, in der sich Literatur erfolgreich aus den Zwängen der Heteronomie befreit habe. Es ist allerdings kein Geheimnis, dass es parallel zur Entstehung moderner und avantgardistischer Literaturen immer auch große Bereiche der Literatur gab, in denen Identifikation, Politik, Moral und Eindeutigkeit weiterhin eine wichtige Rolle gespielt haben.

Es lohnt sich deshalb zu fragen, um welche Literatur und welche Leserschaften es bei Sensitivity Reading überhaupt konkret geht. Bemerkenswert ist, dass jenseits der Kinder- und Jugendliteratur, die traditionell keinen Hehl aus ihrem Anspruch auf Didaxe, Verständlichkeit und Ethik gemacht hat, eine große Nachfrage nach Sensitivity Reading vor allem von der Genre- und Unterhaltungsliteratur ausgeht – auch wenn andere Bereiche teilweise nachziehen. Linnea, die als freie Lektorin unter anderem für Verlage wie Droemer Knaur und Penguin Random House arbeitet, hat dabei vielfach mit Autorinnen und Autoren etwa von Fantasy-Romanen zu tun: »Im Bereich der Genreliteratur werden Autor*innen sensibler. Die alten Klischees gibt es dort zwar immer noch, werden aber neu definiert. Sie formen und entwickeln sich weiter. Ich glaube, Autor*innen im Unterhaltungsliteraturbereich haben ein entspannteres Verhältnis zum Sensitivity Reading.«Footnote 45

Für dieses »entspanntere« Verhältnis gibt es gute Gründe: Einerseits sind Einfachheit und Verständlichkeit im Bereich der Genre- und Unterhaltungsliteratur ebenso wenig verpönt wie die Möglichkeit, moralische oder weltanschauliche Botschaften in leicht dechiffrierbarer Form in fiktionale Werke zu integrieren. Der Gegensatz von ästhetischer Autonomie und gesellschaftspolitischer Heteronomie spielt hier eine äußerst nachrangige Rolle. Zweitens handelt es sich um einen Bereich der Literatur, in dem das Verhältnis von Schema und Abweichung rein handwerklich bedeutsam ist. Die Frage, wie Plotstrukturen, Charaktere und Gattungstopoi an moderne Leserschaften angepasst werden, ist schon immer ein wichtiges Thema der Populärliteratur. Drittens ist die Leserschaft in den Produktionsprozess, der solche Abweichungen hervorbringt, stark eingebunden. Auf Twitter oder Instagram, auf Buchblogs, -vlogs und in Fanforen kommunizieren Leserinnen und Leser an Autorinnen und Sensitivity Reader, welche Neuerungen und Modernisierungen sie sich bei den von ihnen favorisierten Genres wünschen: »Zum Beispiel gibt es im Liebesroman-Bereich immer häufiger den Wunsch, dass bei Darstellungen von Bad Boys Consent stattfindet.«Footnote 46 Die Autorinnen und Autoren, mit denen Linnea, Christiansen oder Bradley zusammenarbeiten, greifen solche Empfehlungen in der Regel dankbar auf. Es entspricht ihrem Selbstverständnis, den Wünschen des Publikums entgegenzukommen – auch in moralischer oder politischer Hinsicht.

Sensitivity Reading ist so gesehen die moderne und im Zeichen der Diversität aktualisierte Variante einer Praxis, die es – etwa im Feuilletonroman oder bei anderen populären Formaten – schon sehr lange gibt. Das sensible Lektorat erweist sich als besonders produktiv und akzeptiert in Bereichen der Literatur, in denen die Produktions- und Rezeptionsseite traditionell in einem stärkeren Austausch über Wünsche und Bedürfnisse stehen, in dem die Leserschaft nach Identifikation und Einfühlung strebt. Insofern ist der Aufstieg des Sensitivity Reading vielleicht weniger ein Symptom dafür, dass die Literatur zu Ende geht, stirbt oder getötet wird – sondern dafür, dass bestimmte Bereiche der Literatur und deren Leserschaften so stark im Wachstum begriffen und vor allem in der Öffentlichkeit präsent sind wie kaum je zuvor.