Man verordne Alkoholikern 231 Zitronen über exakt 29 Tage. Diese „Zitronenkur“ führt zu einer vollständigen Indifferenz gegenüber Alkohol mit einem kompletten Sistieren des Cravings [1]. Andere erfolgreiche Behandlungen bestanden z. B. aus der parenteralen Gabe von Eigenserum versetzt mit Whisky [2] oder der „Doppelt chlorierten Gold Behandlung“ eines Dr. Keely von 1890 (Zitate aus [3]). Die Liste dieser heroischen Behandlungsversuche, die z. T. auch sehr gute Geschäftsmodelle waren, ließe sich beliebig fortsetzen und beschränkt sich keineswegs nur auf die Behandlung von Suchtkranken. Allen gemeinsam ist die unerschütterliche Überzeugung ihrer Erfinder (und deren Schüler) bez. der Wirksamkeit bei zugleich nicht vorhandenen oder vernachlässigbaren Nebenwirkungen. Die hier skizzierte vorwissenschaftliche Periode der Therapieentwicklung fand ein Ende mit der Einführung kontrollierter Studien und der genauen Erfassung der Wirkungen und Nebenwirkungen unter Anwendung ausgefeilter statistischer Methoden. Soweit zumindest der Anspruch.

Aufbauend auf diesen Methoden entwickelte die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich-Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) ein ausgeklügeltes Regelwerk zur Erstellung von Therapieleitlinien. Mittels systematischer Recherchen wird gesichertes Wissen aus der vorhandenen Literatur gesucht und in praxisbezogene Therapieempfehlungen „übersetzt“. In ihrer höchsten Form der S3-Leitlinien werden zudem allfällige Interessenkonflikte bei den für den Themenbereich repräsentativen Beteiligten erhoben und in einem normativen Gruppenprozess der Entscheidungsfindung berücksichtigt. So der Anspruch der S3-Leitlinien.

Wir hatten Gelegenheit, als die von den federführenden Fachgesellschaften (der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde [DGPPN] und der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und -therapie [DG-Sucht]) nominierten wissenschaftlichen Leiter, gemeinsam mit der AWMF S3-Leitlinien für alkohol- und tabakbezogene Störungen zu entwickeln. Der Prozess schloss die Mitarbeit von rund 50 Fachgesellschaften, Patienten- und Angehörigenvertretern ein. Er dauerte von 2010 bis 2014 und kostete etwa 500.000 Euro, obwohl die Experten und Delegierten allesamt ehrenamtlich arbeiteten (siehe Hoch et al. in diesem Heft). Die Mittel wurden ausschließlich von den beteiligten Fachgesellschaften und Institutionen aufgebracht, was diese oft an den Rand ihrer finanziellen Möglichkeiten brachte.

231 Zitronen an 29 Tagen lassen das Craving komplett verschwinden

Dieser intensive Prozess gab uns Gelegenheit, die Überwindung des Zeitalters der Zitronenkur durch die regelgerechte Anwendung der S3-Methodik praktisch zu erproben. Als Fazit lassen sich einige Punkte benennen, wie z. B. die u. a. von Praktikern geäußerte Kritik an der Überbewertung kontrollierter Studien. In der Tat sind sie oft widersprüchlich: je rigoroser die angewandte Methodik desto eingeschränkter die Auswahl der Teilnehmer und damit die Gültigkeit für die Grundgesamtheit der Betroffenen. Auch sind die Kontrollbedingungen bekanntermaßen problematisch: Die Gabe von Placebo in Medikamentenstudien oder die Teilnahme an Wartegruppen in Psychotherapiestudien sind bereits wirksame Maßnahmen. Hinzu kommt, dass es für das Abwägen von potenziellem Nutzen und Schaden kein wissenschaftlich gesichertes Vorgehen gibt. Damit wird die Formulierung von Empfehlungen im Konsens der Beteiligten teilweise von deren subjektiven Voreinstellungen und individuellen Erfahrungen geleitet. Zu dieser allgemeinen Problematik kommt eine spezifische Schwierigkeit in Psychiatrie und Psychotherapie. Während in Medikamentenstudien alle unerwünschten Wirkungen minutiös erfasst und sogar über die Studiendauer hinaus berichtet werden müssen („pharmaco-vigilance“), stehen entsprechende Bemühungen in den kontrollierten Psychotherapiestudien erst in den Anfängen. Zum Beispiel wird therapiebedingte Depressivität bis hin zur Suizidalität meist nicht erfasst und fehlt damit auch für die Beurteilung eines Therapieverfahrens. Dieses Problem konnte in keiner bisherigen Leitlinie des psychiatrisch-psychotherapeutischen Feldes gelöst werden. Es führt zu verhärteten Fronten beim abwägenden Vergleich pharmako- und psychotherapeutischer Verfahren und ihrer Kombinationen. Wo die Evidenz fehlt fordert der Glaube sein Recht und wir werden an das Zeitalter der Zitronenkur erinnert.

Bleiben noch die Interessenkonflikte zu betrachten: Sie wurden jährlich angegeben, geprüft und führten zum Ausschluss der Betroffenen bei der Abstimmung über spezifische Empfehlungen. Allerdings beschränken sich die Interessenkonflikte nicht auf das klassische Feld der Beraterhonorare von der pharmazeutischen Industrie. Auch bezahlte Tätigkeiten in Verbänden der privatwirtschaftlich organisierten Therapieanbieter oder Vertreter bestimmter „Therapieschulen“ wurden von der Abstimmung relevanter Empfehlungen ausgeschlossen. Bei den S3-Leitlinien zu Alkohol und Tabak führten wir erstmals eine doppelte Abstimmung aller Empfehlungen durch: einmal mit und einmal ohne die Teilnehmer mit Interessenkonflikten. Interessanterweise ergab sich in rund 99 % der mehr als 200 Abstimmungen kein nennenswerter Unterschied.

Nebenwirkungen werden in Psychotherapiestudien nicht systematisch erfasst

Das vorliegende Editorial will bewusst kritisch und provokativ die Erstellung von S3-Leitlinien reflektieren. Es besteht aber für die Autoren kein Zweifel an der Notwendigkeit solcher Leitlinien. Sie ermöglichen ein evidenz- bzw. konsensbasiertes Vorgehen in Screening, Diagnose und Therapie wichtiger Volkskrankheiten wie den alkohol- und tabakbezogenen Störungen. Zudem sind sie Grundlage für politische Entscheidungsprozesse wie der Einführung von Qualitätsindikatoren oder Disease-Management-Programmen. Allerdings müssen wir uns fragen, ob die erwünschten Ergebnisse nicht mit weniger aufwendigen und deutlich kostengünstigeren Prozeduren erreicht werden können, zumal spätestens alle fünf Jahre eine intensive Überarbeitung gefordert wird. Vielleicht könnte auf die enorm kosten- und zeitintensive systematische Recherche aller Publikation zu den klinischen Fragen durch die bewusste Beschränkung auf systematische Reviews und Metaanalysen, wie sie z. B. die Cochrane Library anbietet, verzichtet werden. Fehlen diese, gibt es Empfehlungen nur auf Konsensbasis. In England werden Leitlinien von einer Regierungsbehörde, dem National Institute of Clinical Excellence (NICE), an Expertengruppen in Auftrag gegeben und finanziert. Ähnliche finanzielle Regelungen, die der Expertengruppe ihre Unabhängigkeit sichern konnten und die Fachgesellschaften nicht über Gebühr belasten, fehlen in Deutschland fast völlig. Die Niederlande dagegen gaben ein mit dem AWMF-Prozess vergleichbares Vorgehen auf und übernehmen künftig die NICE-Guidelines nach Anpassung auf niederländische Verhältnisse. Auch die europäischen Dachgesellschaften der medizinischen Fächer (z. B. die European Federation of Addiction Societies, EUFAS) befassen sich zunehmend mit dem Thema einer Harmonisierung von Empfehlungen, wobei eine Finanzierung durch die Europäische Union elementar ist.

Zusammengefasst schlagen wir vor, S3-Leitlinien in ihrer jetzigen Form zu überdenken. Der enorme zeitliche und finanzielle Aufwand gibt keine Gewähr, dass damit tatsächlich interessengeleitete Einflüsse und tief sitzende Überzeugungen („Zitronenkur“) zugunsten eines Vorranges von Evidenzen ausgeschaltet werden. Die Leserinnen und Leser der Zeitschrift Der Nervenarzt können sich im vorliegenden Themenheft selbst einen Eindruck über die wesentlichen Ergebnisse der S3-Leitlinien zu alkohol- und tabakbezogenen Störungen verschaffen. In fünf Beiträgen werden die Methoden der Erstellung von Leitlinien referiert und dann getrennt für Alkohol und Tabak die Fragen der Komorbiditäten und die Therapieempfehlungen vorgestellt. Die vollständigen Leitlinien sind zu finden und auch als Bücher verfügbar unter:

Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html

Screening, Diagnostik und Behandlung des schädlichen und abhängigen Tabakkonsums: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-006.html