Unsicherheit ist das neue Normal

Wenn ich im Beruf Konflikte erlebe, die zunächst irrational erscheinen, oder wenn Streitigkeiten auf der Sachebene nicht nachvollziehbar sind, dann stelle ich erstmal die Frage: Was steckt wirklich dahinter? Meistens bringt man dadurch sehr menschliche Ursachen und Beweggründe zutage.

Ähnlich ging es mir, als ich die vielen wütenden Artikel und frustrierten Kommentare las, die nach den jüngsten Einsparungen des BMBF in der Projektförderung veröffentlicht wurden. Hier zum Beispiel, oder hier. Oder zuletzt hier.

Das Wichtigste sei zuerst gesagt: Für die betroffenen Wissenschaftler*innen ist die Situation bitter. Sie hatten sich auf vorläufig zugesagte Gelder verlassen, die dann aber überraschend nicht bewilligt wurden. Sie hatten sich auf eine neue Stelle gefreut – zum Teil waren sie dafür sogar umgezogen -, und jetzt müssen sie in der Jobsuche von vorn beginnen. Das sind persönliche Rückschläge, die man nicht klein reden darf.

Nur: So tragisch die Kürzungen des BMBF für die einzelnen Betroffenen auch sind, ich kann nicht nachvollziehen, weshalb sie so ein Politikum sein sollen. Denn der Grund dahinter lässt sich in fünf Worten zusammenfassen: Es ist weniger Geld da. Und alle wissen das.

Ein Ministerium hat zwar einen großen Haushalt und kann Prioritäten setzen. Insofern kann natürlich jede Projektleitung die Frage stellen: Warum gerade ich? Warum ausgerechnet mein Vorhaben? Aber das ändert nichts an ein paar harten Rahmenbedingungen: Wir steuern auf eine Rezession zu, die Inflation liegt bei zehn Prozent, und für die Bundeswehr werden 100 Mrd. € als Sondervermögen abgezweigt. Für praktisch alle Ressorts steht daher (im Vergleich zum Jahresbeginn) plötzlich weniger Geld zur Verfügung. Ein Ministerium, das darauf nicht mit einer Reduktion seiner Ausgaben reagiert, macht irgendwas falsch.

Nun lautet der häufigste Vorwurf ans BMBF freilich nicht: „Ihr habt es versäumt, Geld herbeizuzaubern.“ Sondern: „Ihr habt nicht transparent dargelegt, weshalb genau diese Projekte storniert oder gekürzt wurden.“ Das mag stimmen. Auch die etwas hölzern formulierten Schreiben, die solche Hiobsbotschaften verkünden, spenden natürlich keinen echten Trost. Aber hätte eine vertiefte Begründung denn irgendwem in der Sache geholfen?

Denn selbst den Betroffenen ist eines bewusst: Ein aufwendiges wissenschaftsgeleitetes Verfahren hätte am Ende vielleicht die Auswahl der Projekte verändert, aber nicht das Gesamtergebnis. In ihren öffentlichen Stellungnahmen argumentierten die Forschenden, dass ihre Projekte gesellschaftlich wichtig seien, aber gleichzeitig ist ihnen vermutlich klar: Das gilt durchgehend für alle BMBF-Förderungen. Teils wurde die Praxis beklagt, dass neue Vorhaben kurz vor ihrem Start noch eine Finanzierungs-Absage erhielten, oder dass Projekten am Ende ihrer Laufzeit keine Verlängerung mehr gewährt wurde. Aber diese Entscheidung war in der Sache völlig richtig, denn die Alternative wäre gewesen, laufende Forschungsprojekte irgendwo auf halber Strecke abzusägen. Das will erst recht niemand.

Also kommt jetzt der Punkt, um zu fragen: Was steckt wirklich dahinter? Woher kommt der Ärger, der sich gerade in der Wissenschaftslandschaft breitmacht?

Darauf gibt es zweierlei Antworten. Zum einen entlädt sich hier ein lange aufgestauter Frust über die öffentliche Bürokratie. Die BMBF-Kürzungen sind zwar der Anlass für diese Entladung, aber im Kern geht es vor allem um die kleinteilige, bornierte, völlig weltfremde Art, wie Forschung finanziert wird. Diesen Frust spürt man deutlich, wenn man sich Zitate aus dem Gastbeitrag von Bögelein, Strohmaier und Zucco herausgreift:

„Neben diesen organisatorischen und inhaltlichen Entscheidungen […] ergeben sich weitere strukturell gelagerte Probleme, die dringend adressiert werden müssen.“

„…die Zuwendungsbescheide erreichten die Hochschulen und Forschungseinrichtungen sehr kurzfristig, in manchen Fällen sogar erst nach Beginn des vereinbarten Projektbeginns“

„Wir fordern auch in BMBF-Förderlinien den Zugang zu den Kommentaren der Fachgutachten“

„Damit wird die akademische Laufbahn (und die individuelle Lebensplanung) unberechenbar.“

Hier vermischt sich praktisch alles, was die öffentlich finanzierte Wissenschaft unattraktiv macht: ein Mangel an Jobsicherheit, Erbsenzählerei und ein Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber den Behörden. Das alles nahm man zwar wohl oder übel in Kauf, solange man vom BMBF frisches Geld bekam. Aber jetzt bringen die Kürzungen das Fass zum Überlaufen.

Es gibt außerdem noch einen zweiten, tiefer liegenden Grund, weshalb die aktuellen Kürzungen so viel Aufruhr verursachen: Wir haben nie gelernt, mit großer finanzieller Unsicherheit umzugehen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Eine wissenschaftliche Laufbahn ist natürlich schon lange durchzogen von persönlichen Ungewissheiten. Regelmäßig stehen unsere Leute vor Fragen wie: „Wird meine Stelle verlängert?“ oder: „Bekommt mein Projekt die Anschlussfinanzierung?“ Aber dass der Staat aufgrund von Turbulenzen etwas nicht mehr finanzieren kann, was bereits fest eingeplant war, das kennen wir eher aus Reportagen über chaotische Schwellenländer. In Deutschland? Undenkbar.

Ein Beispiel, wie sehr wir uns an die Verlässlichkeit der Ministerien gewöhnt haben: Als ich vor zehn Jahren als Forschungsreferent an der FU Berlin anfing, lernte ich, dass BMBF-Anträge eine zweistufige Auswahl durchlaufen: eine wissenschaftliche Begutachtung und ein formales Bewilligungsverfahren. Letzteres war reine Formsache, d.h. wer es zum Vollantrag schaffte, hatte nichts mehr zu befürchten. In den Schreiben der Projektträger stand zwar irgendwas von: „… weisen wir darauf hin, dass die Zuwendung unter dem Vorbehalt der Mittelverfügbarkeit steht.“ Aber das erschien uns als Blabla und hatte keinerlei Relevanz; die Mittel waren einfach immer verfügbar. Dass wir solche Sätze auf einmal wörtlich nehmen müssen, erklärt auch den aktuellen Aufruhr um die BMBF-Budgetkürzungen.

Die politische Zeitenwende hat jetzt also auch die Wissenschaft erreicht: Jahrzehntelang war frisches Geld das wichtigste forschungspolitische Gestaltungsinstrument der Politik; die Frage lautete immer: „Was bauen wir aus, und was nicht?“ Das ändert sich jetzt. Wenn die Prognosen stimmen, dann wird Bettina Stark-Watzinger die erste Ministerin seit langem sein, die hauptsächlich über die umgekehrte Entscheidung steuern muss: „Was führen wir fort, und was kürzen wir?“ Dieser Paradigmenwechsel verstört uns auch deshalb so, weil wir (zumindest in westdeutscher Perspektive) seit dem Zweiten Weltkrieg nur einen Zuwachs an Wohlstand kannten. Es gab natürlich unterschiedlich starke Wachstumsphasen – die meisten Helmholtz-Zentren wurden beispielsweise in den boomenden 1960ern aufgebaut -, aber ein Schrumpfen des Systems war undenkbar. Kennen Sie irgendeine Uni, die mal aus Geldmangel dicht gemacht wurde? Ich nicht.

Als die Prognosen in den letzten Jahren düsterer wurden, fühlten wir uns vielleicht noch eine Weile sicher, weil der öffentliche Sektor vor Turbulenzen besser geschützt war als die freie Wirtschaft. Aber jetzt, wo die Klimakrise, die Pandemie, der Ukraine-Krieg und auch noch eine hohe Inflation zusammenkommen, wird uns gerade klar: Wir haben den vorläufigen Höhepunkt unseres gesellschaftlichen Wohlstands überschritten. Das ist in etwa so, als ob ein Achterbahnwagen, der stetig bergauf gezogen wurde, seinen höchsten Punkt erreicht und über die Kante kippt. Wir spüren jetzt eine deutliche Beschleunigung nach unten, und wir reagieren darauf auch genau so wie in der Achterbahn: mit lautem Schreien.

Trotzdem darf in einem guten System kein Chaos ausbrechen. Wenn Unsicherheit tatsächlich das neue Normal ist, wird die wichtigste Aufgabe für das BMBF darin bestehen, zwei Bereiche zu unterscheiden: Einen Garantiebereich (dessen Finanzierung nicht in Frage steht) und einen „Je-nach-Möglichkeiten“-Bereich. Der Garantiebereich wird schon allein deshalb unverzichtbar sein, um Großprojekte wie den XFEL zu ermöglichen, die viele Jahre für den Aufbau brauchen. Solche gigantischen Baustellen wären zum Scheitern verurteilt, wenn ihnen jahresweise mal mehr, mal weniger, mal kein Geld zur Verfügung stünde. Also brauchen wir finanzielle Sicherheitskorridore, die auch bei heftigen Schwankungen des Ministeriumsbudgets nicht angetastet werden. Für alles, was außerhalb dieses Bereichs liegt, brauchen wir wiederum eine möglichst frühe Kommunikation, ob die jeweilige Finanzierung gesichert ist oder nicht: für Projektförderungen, für bundesfinanzierte Einrichtungen, für internationale Kooperationen. Dann weiß jeder, woran er ist.

Zudem müssen wir dafür sorgen, dass die sozialen Konsequenzen dieser finanziellen Unsicherheit gut abgefedert werden – und hier meine ich ganz bewusst das ganze System Wissenschaft, weil neben den Behörden auch die Hochschulen und Forschungseinrichtungen einen Beitrag zur sozialen Absicherung leisten können. Sinnvoll könnte zum Beispiel die Einrichtung von Härtefall-Fonds sein, oder von Ausfallbürgschaften. Längere Vorlaufzeiten vor den Projekten wurden auch schon ins Spiel gebracht, so dass bei einem Ausfall der Gelder alle Beteiligten die Möglichkeit hätten, sich rechtzeitig neu zu orientieren. All dies sind Optionen, die jetzt getestet werden müssen.

In jedem Fall sollten wir uns wohl angewöhnen, das Kleingedruckte in den Projektträger-Schreiben wieder ernst zu nehmen.

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