Articles | Volume 77, issue 1
https://doi.org/10.5194/gh-77-121-2022
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Book review
 | 
04 Mar 2022
Book review |  | 04 Mar 2022

Book review: Säkularisierung und gegen-hegemoniale Konversionen zum Islam in Südafrika

Edgar Wunder
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Gebauer, M.: Black Islam South Africa. Religious Territoriality, Conversion, and the Transgression of Orderly Indigeneity, Passau, Selbstverlag Fach Geographie der Universität Passau, 115 ff., ISBN 978-3-9817553-5-0, EUR 27,90, 2021.

Das historische Apartheid-Regime ist ein besonders interessantes und paradoxes Beispiel einer Aufladung und Überlagerung sozialer Kämpfe mit religiös motivierten Ideologien. Denn sowohl die Unterdrücker als auch die Unterdrückten beriefen sich auf das Christentum zur Legitimierung ihrer jeweiligen sozialen Ordnungsvorstellungen. Die einen rechtfertigten Ungleichheit, Ausgrenzung, Rassismus und Segregation als angeblich gottgewollt, die anderen begehrten im Kontext der von den Unterdrückern übernommenen christlichen Religion befreiungstheologisch dagegen auf.

Auch über ein Vierteljahrhundert nach dem formalen Zusammenbruch des Apartheid-Regimes ist dies noch nicht sedimentierte Geschichte. Denn die durch die Apartheid konstituierte extreme Form sozialer Ungleichheit ist noch nicht überwunden, sie besteht fort: Südafrika zählt auch heute noch zu den Ländern mit den weltweit höchsten Werten des Gini-Index, z.B. bei der Einkommensverteilung. Die Frage stellt sich, inwiefern im heutigen Südafrika soziale Segregation noch immer an religiöse Identitäten gebunden ist bzw. in welcher Form.

In den letzten Jahren wurde wiederholt über eine Konversion indigener, ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen zum Islam berichtet, weil sich der Islam im südafrikanischen Kontext besser als konsequent gegenhegemoniale Ideologie eigne als das auch von den Eliten vertretene Christentum. Matthias Gebauer hat sich dieses Themas in seiner 2019 bei Anton Escher in Mainz eingereichten Dissertation angenommen, die nun unter dem Titel „Black Islam South Africa“ in der Reihe „Passauer Schriften zur Geographie“ erschienen ist. Sie basiert auf Feldarbeiten der Jahre 2013–2015 vorwiegend in der Provinz KwaZulu-Natal mittels nur grob umrissener qualitativer Methoden (insb. teilnehmende Beobachtungen, Gruppendiskussionen, Interviews, historische Recherchen). Große Materialfülle geht einher mit eher geringer Strukturierung und einem Argumentationsgang, der nicht immer methodisch abgesichert ist. Die Darlegung erinnert mich an einen in der Frankfurter Schule verbreiteten Schreibmodus, bei dem mit einem ganz bestimmten begrifflichen Apparat in kreisförmigen Bewegungen wieder und wieder schon vorher feststehende Theoreme als Prämissen veranschaulicht werden sollen, ohne sie je einer stringenten Prüfung zuzuführen oder sie mit alternativen Deutungen zu konfrontieren. Ein klassischer hermeneutischer Zirkel.

Die Relevanz von religiösen Identitäten für soziale Kämpfe – und daraus folgende Territorialisierungen – wird veranschaulicht im Kontext des Widerstands gegen die soziale Ordnung im Post-Apartheid-Regime. Eine Konversion zum Islam sei für die indigene „schwarze“ Bevölkerung ein Ausdruck eines konsequenten Bruchs mit der kolonialen Vergangenheit und den sozialen Diskriminierungen der Gegenwart. Dass die Versuche, „afrikanische Indigenität auf der Grundlage einer gegen-hegemonialen Ideologie von Blackness und Muslimness neu zu formulieren“ (S. 105) keine bloße Übernahme „des“ Islam darstellen, sondern vielmehr in Hybridisierungen resultieren, bleibt Gebauer nicht verborgen. Er zieht Vergleiche zur Bewegung um Malcom X in den USA der 1960er Jahre, skizziert Ansätze eines islamisch geprägten Millenarismus und schildert schon im Apartheid-Regime auftretende Übergänge zwischen rassistisch motivierten und religiösen Kategorisierungen, z.B. „the case of a Scottish-born, orginally White-classified South African, who was reclassified as Coloured because of conversion to Islam“ (S. 71). Trotz aller Fallbeispiele bleibt es merkwürdig blass und unbestimmt, welche kohärenten Formen die islamischen Hybride heute annehmen. Entweder handelt es sich dabei um ein methodisches Problem von Gebauers Vorgehensweise, oder die Hybride sind tatsächlich so heterogen, dass eine kohärente Zeichnung eines scharfen religionssoziologischen Profils schwerfällt.

Dabei lässt Gebauer eine zentrale Frage nicht nur unbeantwortet, sondern – und das ist irritierend – er formuliert oder diskutiert sie erst gar nicht: Ist der „Black Islam“ im heutigen Südafrika lediglich ein marginales Nischenphänomen oder kommt ihm irgendeine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zu? Wie viele südafrikanische „Black Muslims“ gibt es überhaupt? Im letzten südafrikanischen Zensus aus dem Jahr 2011 wurde die Religionszugehörigkeit nicht mehr erhoben, da dies – so die offizielle Begründung – für Südafrika als säkulare Nation irrelevant sei. Mit dem Ende 2020 verfügbar gewordenen Datensatz des International Social Survey Program (ISSP) konnte ich allerdings berechnen: Der Anteil der „Black Muslims“ an der südafrikanischen Bevölkerung beträgt gegenwärtig nur 0,4 % (und selbst davon dürfte ein erheblicher Teil nicht aus indigenen Konvertierten bestehen, sondern muslimische Vorfahren vor allem aus Sansibar und Malawi haben). Damit ist die Diagnose klar: Bei einem Bevölkerungsanteil von lediglich 0,4 % „Black Muslims“ handelt es sich bei den von Gebauer beschriebenen Konversionen zum Islam um ein marginales Nischenphänomen der südafrikanischen Gesellschaft. Aber auch marginale soziale Phänomene können ein interessanter und aufschlussreicher Forschungsgegenstand sein. Wahrscheinlich sind die „Black Muslims“ in den von Gebauer untersuchten Gebieten stärker konzentriert als in anderen Regionen des Landes.

Der religiöse Wandel in Südafrika wird heute durch Säkularisierungsprozesse dominiert. Nach der jüngsten ISSP-Erhebung ist der Anteil der keiner Religion angehörenden Südafrikaner:innen inzwischen auf 19,2 % gestiegen, dem höchsten in Südafrika jemals gemessenen Wert. Der Anteil der explizit Religionslosen ist unter „Blacks“ mit 23 % sogar höher als bei „Whites“ (18 %). Sowohl die Bedeutung von Gott als auch die Bedeutung von Religion allgemein für das persönliche Leben ging nach den Befunden des World Value Survey im Zeitraum 1990–2019 für Südafrika deutlich zurück (Inglehart, 2021:82 und 97; Kotze und Loubser, 2017). Meine Auswertungen mit dem ISSP zeigen ferner, dass die jüngeren Kohorten in Südafrika erheblich weniger religiös sind als ältere Kohorten. Der Anteil der sich dem Islam zugehörig fühlenden Südafrikaner:innen ist in den ISSP-Daten bei den unter 35-Jährigen im Übrigen deutlich geringer als bei älteren Befragten. Insofern kann von einem Trend zum Islam keine Rede sein. Die von Gebauer untersuchten „Black Muslim“-Konversionen sind also eher als eine marginale und vermutlich auf das Umfeld von eThekwini (früher: Durban) konzentrierte Unterströmung quer zu den dominanten Säkularisierungsprozessen zu werten.

Literatur

Inglehart, R.: Religion's Sudden Decline. What's Causing it, and What Comes Next?, Oxford University Press, Oxford, ISBN 979-8200719464, 2021. 

Kotze, H. and Loubser, R.: Religiosity in South Africa. Trends among the Public and Elites, Scriptura, 116, 1–12, 2017. 

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