Die Onkologie realisiert einen Menschheitstraum
Jubiläumsschlaglicht: Onkologie

Die Onkologie realisiert einen Menschheitstraum

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/0708
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08950
Swiss Med Forum. 2022;22(0708):121-123

Affiliations
Stiftung Krebsforschung Schweiz, Bern

Publiziert am 15.02.2022

In der Onkologie stehen heute antikörperbasierte und zelluläre Immuntherapien sowie mutationsgerichtete «personalisierte» Tyrosinkinasen im Vordergrund.

Auf dem Weg zur personalisierten Medizin

Weltweit gesehen ist Krebs die häufigste Todesursache überhaupt mit 10 Millionen Todesfällen im Jahr 2020. Die häufigste vermeidbare Ursache ist weiterhin der Tabakkonsum, gefolgt von Adipositas und Diabetes. Die Prognose und Lebensqualität der onkologischen Patientinnen und Patienten in westlichen Ländern haben sich für die meisten Betroffenen in den letzten 20 Jahren eindrücklich und kontinuierlich verbessert. Dabei haben die zielgerichteten Therapien mit Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI), basierend auf immer präziserer molekulargenetischer Diagnostik und hochauflösenderer Bilddiagnostik, die «personalisierte Therapie» begründet. Dazu kam in den letzten zehn Jahren die 2018 nobelpreisgekrönte Entdeckung der antikörperbasierten Checkpoint-Inhibitoren, die Menschen mit weit fortgeschrittenem Malignen Melanom heilen können. In den allerletzten Jahren sind es die zellulären, genetisch modifizierten T-Zell-Immuntherapien («chimeric antigen receptor T cells», CAR-T-Zellen), die den alten Traum weiter zur Wirklichkeit werden lassen: durch das körpereigene Immunsystem die auch bisher resistenten malignen Zellen hocheffizient und auch definitiv zu eliminieren.

Fundamentale Entdeckungen für gezieltere Therapien

Um das Millenium 2000 wurden in der Schweiz erstmals zwei der bis heute wirksamsten monoklonalen Antikörper zugelassen: Rituximab (1997), ein gegen CD20 gerichteter Antikörper zur Induktion bei an rezidiviertem Follikulären Lymphom Erkrankten, und Trastuzumab (2000), ein Antikörper gegen HER2 für HER2-positive Patientinnen mit metastasiertem Mammakarzinom. Dass es sich hier um epochale Therapiedurchbrüche handelte, wurde rasch ersichtlich: lang anhaltende Remissionen und hochsignifikante Überlebensvorteile kombiniert mir sehr guter Verträglichkeit signalisierten den bis heute anhaltenden Aufbruch in das Zeitalter der Immuntherapien mit humanisierten monoklonalen Antikörpern. Da über 90% der B-Zell-Lymphome CD20 exprimieren, war schnell klar, dass letztlich fast alle Lymphom-Patienten von der Antikörpertherapie profitieren würden, was sich in der Folge auch bewahrheitete. Damals war allerdings eine tumoragnostische Zulassung noch nicht möglich, sodass für jede einzelne der mitunter sehr seltenen Tumorentitäten eigene Zulassungsdaten verlangt wurden.
Vier entscheidende Entwicklungen prägten die Onkologie der letzten 20 Jahre:
1. Die fundamentale Entdeckung, dass bei malignen Erkrankungen spezifische Mutationen der Tyrosinkinasen (TK) für das unkontrollierte und aggressive Wachstum verantwortlich sind. Durch eine Mutationsanalyse in den malignen Zellen lässt sich damit eine auf bekannte Driver-Mutationen zugeschnittene personalisierte TK-Therapie mit entsprechend hochspezifischen TK-Inhibitoren einsetzen. Als Schulbeispiel gilt Imatinib, das die BCR-ABL-Tyrosinkinase blockiert. Seit der Zulassung 2003 hat sich die Prognose von Menschen mit der bisher lebensbedrohlichen Chronisch Myeloischen Leukämie (CML) zu einer heilbaren Krankheit entwickelt. Da jedoch die meisten malignen Erkrankungen, insbesondere die soliden Tumoren, viele Driver-Mutationen aufweisen und immer wieder neue akquirieren, sind diese oral verfügbaren TKI per se zwar nicht kurativ, aber essenzieller Teil heutiger Standardtherapien.
2. Die Entdeckung der Checkpoint-Inhibitoren (Nobelpreis 2018), die unseren Wunsch hat Realität werden lassen, dass unser körpereigenes Immunsystem maligne Zellen hocheffizient und auch definitiv zu eliminieren vermag. Antikörper gegen CTL-4, PD-1 und PD-L1 können heute Erkrankte in langfristige Remission oder Heilung bringen. Da es sich um einen universellen Mechanismus der Resistenzüberwindung handelt, sind nun sehr viele weitere Indikationen sowohl bei den soliden als auch bei den hämatologischen Erkrankungen hinzugekommen. Weltweit laufen aktuell über 3000 Studien mit Checkpoint-Inhibitoren.
3. Die Entdeckung der genetisch adaptierten und expandierten individuellen CAR-T-Zellen, die ein weiteres Prinzip der direkten zellulären Immuntherapie etabliert haben: hier werden die ex vivo gezielt genetisch veränderten und vermehrten körpereigenen T-Zellen befähigt, ohne vorgängigen Kontakt zu antigenpräsentierenden Zellen maligne Zellen direkt anzugreifen und zu eliminieren. Die Erfolge bei Menschen mit refraktärer Akuter Lymphatischer Leukämie (ALL) sind spektakulär und zeigen ein erhebliches Potential für langanhaltende Remissionen und Heilungen. Nun sind wir zwar noch ganz am Anfang, doch es zeichnet sich bereits ab, dass dieses Prinzip auch bei vielen weiteren Malignomen erfolgreich eingesetzt werden kann. Auch sind bereits entscheidende Weiterentwicklungen in klinischer Erprobung. Hier sind insbesondere die «Bi-specific T-cell Engager» (BiTe) zu erwähnen, die durch Fusion zweier diverser variabler Regionen entstehen. Mit Blinatumomab ist bereits ein solches Medikament zur Therapie der Philadelphia-Chromosom-negativen refraktären ALL zugelassen. Weltweit sind nun mehr als 500 Studien aktiv, die die CAR-T-Zell-Therapie und CAR-NK-(Natürliche-Killerzellen-)Zell-Therapie bei diversen vorab lymphatischen Malignomen untersuchen.
4. Die Entdeckung der hocheffizienten Präventionsmöglichkeit von Humane-Papillomviren-(HPV-)assoziierten Tumoren wie Zervixkarzinom, Malignomen im Hals-Nasen-Ohren-Bereich und Peniskarzinom durch die HPV-Impfung der Mädchen und Knaben auf globaler Ebene. Auch dies ist ein Meilenstein und alter Menschheitstraum. Dass Impfungen aber auch direkt gegen maligne Zellen wirksam sind, wurde mit der kürzlich von der «Food and Drug Administration» (FDA) zugelassenen Talimogen-laherparepvec-(T-VEC-)Impfung bei Melanomen gezeigt. Studien mit Kombinationen laufen, die auch tumorgerichtete mRNA-Vakzine von BioNTech beinhalten. Natürlich sind auch die Impfung gegen Hepatitis B und die medikamentöse Heilung der Hepatitis C höchst wirksame Krebspräventionen.

Was uns zukünftig erwartet

Die letzten beiden Dekaden haben die Onkologie in Diagnostik, Therapie und Prognose revolutioniert. Alleine in den Jahren 2006 bis 2018 wurden in den USA von der FDA 110 neue Medikamente oder neue Indikationen für maligne Erkrankungen zugelassen! Mehr als die Hälfte der aktuellen Neuzulassungen und Indikationserweiterungen der Swissmedic betreffen die Onkologie und Hämatologie. Auch tumoragnostische Zulassungen werden zunehmen und den Zugang zu Innovationen auch für Erkrankte mit seltenen Entitäten beschleunigen. Die grossen Fortschritte in der molekulargenetischen und bildgebenden Diagnostik, die besonders in der Onkologie von grösster Wichtigkeit sind, ebenso wie die immer weniger mutilierenden operativen Eingriffe, präziseren Radiotherapien und umfassenden Palliativkonzepte haben zu einer hohen Interprofessionalität (z.B. durch Tumorboards) und Qualitätskontrolle in der Onkologie geführt. Mit den hier angeführten vielfältigen Innovationen ist die Spur gelegt, die weitere medizinische Disziplinen voranbringen wird. Dies alles soll aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass immer mehr Menschen auch in reichen westlichen Ländern angesichts überteuerter Therapien nicht oder nicht mehr rechtzeitig Zugang zu den Innovationen erhalten. Diese sehr kostenintensiven Medikamente verharren zu lange im «Off-Label-Bereich», was zu Ungleichbehandlung und Zweiklassenmedizin führt. Dieses Problem muss gelöst werden.
Leider wird das grosse Potential der Prävention und Frühdiagnostik von der Gesundheitspolitik weiter sträflich vernachlässigt. Die Erwartungen an «big data» und die Künstliche Intelligenz sind hoch, allerdings sind die Spielregeln und Grenzsetzungen ebenso wie die Finanzierbarkeit auch auf der politischen Bühne noch auszuloten und zu definieren.

Ausbau der Immuntherapien als grosser Hoffnungsträger

Der nun in der Breite mögliche immuntherapeutische Ansatz mit allen möglichen weiteren technischen Entwicklungen der Gen-adaptierten Personalisierung, hat nun richtig Fahrt aufgenommen. Kluge Kombinationen und Abfolgen der bisher etablierten und neuen Therapien und der peri- und postoperative sowie adjuvante Einsatz werden in unzähligen Studien weiter untersucht. Es ist zu erwarten, dass wesentliche, einfachere immunologisch basierte, und dennoch wirksamere und präzisere Therapieverfahren entwickelt werden, die dazu auch verträglicher und kostengünstiger sein werden. Auch die Rolle des Mikrobioms wird ein wichtiges neues Forschungsgebiet werden, da erste klinische Studien belegen, dass klinisch signifikante metabolische Effekte des Mikrobioms die Wirksamkeit der Chemo- und Immuntherapien stark beeinflussen können.
Prof. em. Dr. med. Thomas Cerny ist Mitbegründer und Verwaltungsrat von Proteomedix, Mitglied im «Human Medicines Expert Committee» (HMEC) und Chefredaktor bei info@onkologie.
Prof. em. Dr. med.
Thomas Cerny
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thomas.cern[at]kssg.ch
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