Gravierende Mängel bei der Heimpflege

Gravierende Mängel bei der Heimpflege

Hintergrund
Ausgabe
2023/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21716
Schweiz Ärzteztg. 2023;(19):16-19

Publiziert am 10.05.2023

Langzeitpflege Ein neuer Bericht zeichnet ein desaströses Bild der stationären Langzeitpflege: Menschen in Alters- und Pflegeheimen wurden in den vergangenen Jahren unzureichend ärztlich versorgt. Vor allem während der Pandemie kamen Institutionen an ihre Grenzen. Verbesserungen sind nötig. Aber sind sie auch umsetzbar? Wir haben nachgefragt.
Während der COVID-19-Pandemie herrschte in der Schweiz eine Übersterblichkeit. Rund 43% der Todesfälle ereigneten sich dabei laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Alters- und Pflegeheimen [1]. Bei dieser Zahl nicht mitgezählt sind Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, die aufgrund einer Krankheit hospitalisiert wurden und im Spital verstarben. Sicher ist nur, dass die Zahl der Todesfälle in Heimen ausserordentlich hoch war – und laut den Fachleuten eines nationalen Komitees aus Expertinnen und Experten [2] auch auf eine suboptimale medizinische Versorgung zurückzuführen war.
Denn viele Pflegeinstitutionen verfügen bis heute nicht über eine übergeordnete Ärztin, einen übergeordneten Arzt, die beziehungsweise der die medizinische Betreuung sicherstellt. «Momentan gibt es auf nationaler Ebene keine einheitlichen Vorgaben, wie die medizinische Versorgung in einem Heim aussehen muss», erklärt Dr. med. Klaus Bally, Hausarzt und Mitglied der Kerngruppe des nationalen Komitees aus Expertinnen und Experten. Jeder Kanton hat andere Regeln, was dazu führt, dass in manchen Regionen für Heime keine Pflicht zur ärztlichen Versorgung der Bewohnenden existiert. Dann wird jede Bewohnerin, jeder Bewohner vom eigenen Grundversorgenden betreut, was besonders in einer Pandemie mit logistischen und praktischen Problemen verbunden ist. Im Bericht des Komitees wird entsprechend mit einer hohen Priorität gefordert, dass die Kantone Mindestkriterien zur heimärztlichen Versorgung definieren.
Das Verhältnis zwischen Pflegepersonal und Bewohnenden entspricht vielerorts nicht den Bedürfnissen der Institutionen und der Bewohnenden.
© Jeremy Wong / Unsplash
Von dieser Empfehlung will die Schweizerische Gesundheitsdirektorenkonferenz momentan nichts wissen. Mediensprecher Tobias Bär schreibt auf Anfrage: «Derzeit ist keine Definition von Mindestkriterien durch die GDK geplant. Auch weil diese momentan nur Empfehlungscharakter hätten.» Man habe aber den Kantonen die Empfehlungen zugestellt. Es liege im Ermessen der einzelnen Kantone, ob sie «die Learnings des Komitees» befolgen wollen.

Datenaustausch funktioniert schlecht

In nächster Zeit ist deshalb keine flächenübergreifende Lösung für das Problem der mangelnden ärztlichen Versorgung zu erwarten. Dabei wäre eine adäquate Lösung möglich, wie das Beispiel des Kantons Waadt zeigt. Dort wurde eine einheitliche vertragliche Regelung zwischen Pflegeinstitutionen und Heimärzten geschaffen, welche die medizinische Versorgung von Heimbewohnerinnen und -bewohnern sicherstellt. Die Koordination der medizinischen Betreuung wird in den Waadtländer Heimen von einer Hausärztin übernommen, die pro Heimbewohner täglich eine kleine Pauschale von etwa 50 Rappen als Vergütung erhält. «Auf dieser Basis können Qualitätssicherungsmassnahmen etabliert werden. Dazu gehört auch die Entwicklung eines effizienten elektronischen Datenaustauschs zwischen Institutionen und Ärzten», erklärt Klaus Bally.
Gerade der Datenaustausch und die interprofessionelle Zusammenarbeit haben während der Pandemie schlecht funktioniert. Das ist schon länger ein Problem, wie die Fachleute der Langzeitpflege in ihrem Bericht bemängeln. «In der Schweiz gibt es heute kaum Möglichkeiten für einen effizienten elektronischen Datenaustausch zwischen den Leistungserbringern», sagt Hausarzt Bally. Auch die Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD) in der vorgesehenen Form könne das nicht ändern, denn es würden maximal PDFs herumgeschickt, aber nicht Systeme harmonisiert. Das nationale Komitee sieht hier deshalb den Bund in der Pflicht, schweizweite Vorgaben für Softwarelösungen zu definieren und zu entwickeln. Ziel müsse sein, dass zum Beispiel der Medikationsplan einer Patientin elektronisch geändert werden kann, und dass dabei alle beteiligten Fachpersonen Zugriff auf diese Information erhalten.
Auch hier ist allerdings keine schnelle Umsetzung der Empfehlungen zu erwarten. Denn der Bund lässt sich Zeit mit der Implementierung der geforderten Massnahmen – obwohl das BAG bei der Erarbeitung der genannten Empfehlungen koordinierend mitgewirkt hat. Wie die Medienstelle des BAG erklärt, arbeitet der Bundesrat gerade an einem Bericht zur Situation von älteren Menschen in Pflege- und Wohnheimen. «Im Rahmen dieses Berichts wird der Bundesrat dann entscheiden, welche Empfehlungen, die in der Kompetenz des Bundes liegen, er umsetzt», schreibt das Amt. Der Bericht werde voraussichtlich aber erst im Frühling 2024 vorliegen und es würden auch noch zwei gerade laufende Studien miteinbezogen.

Kantone fordern gerechtere Finanzierung

Ein anderes aktuelles Problem der Langzeitpflege verortet das nationale Komitee aus Expertinnen und Experten bei den Pflegefachkräften in den Heimen. Wie dem Bericht zu entnehmen ist, «entspricht das Verhältnis zwischen Pflegepersonal und Bewohnenden vielerorts nicht den Bedürfnissen der Institutionen und der Bewohnenden, was dazu führt, dass die Arbeitslast pro Mitarbeitende unverhältnismässig hoch ist». Um diesen Konflikt zu lösen, empfehlen die Fachleute vom nationalen Komitee eine Bildungsoffensive und eine Anpassung der Pflegefinanzierung.
Der letzte Punkt wird auch von der Gesundheitsdirektorenkonferenz unterstützt. Mediensprecher Tobias Bär erklärt: «Die GDK fordert den Bund auf, die Beiträge an die Pflegeleistungen, welche die Krankenversicherer bezahlen, zeitnah zu erhöhen. Das Kostenwachstum der Pflegeleistungen muss von den Versicherern und den Restfinanzierern gemeinsam getragen werden.» Auch wollen sich die Gesundheitsdirektoren «mit Nachdruck dafür einsetzen, dass die Vorlage zur einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) die Pflegeleistungen mitumfasst».
Das Komitee wünscht in seinen Empfehlungen weitere Veränderungen bei den Finanzen. «Die Beiträge der Krankenversicherer sind regelmässig zu überprüfen und bei Bedarf anzupassen und es muss sichergestellt werden, dass die Kosten auch bei einem Pflegebedarf von mehr als 240 Minuten angemessen vergütet werden», schreiben die Autorinnen und Autoren. An die Tarifpartner (FMH, Versicherer und Verband der Spitäler H+) gehe die Aufforderung, eine Tarifpauschale für die Übernahme der heimärztlichen Versorgung mit Übernahme von übergeordneten Aufgaben zu schaffen.
Die Krankenassen sind noch zurückhaltend. Der Krankenkassenverband Curafutura wollte zum jetzigen Zeitpunkt keine Stellung nehmen. Santésuisse schreibt: «Tatsache ist, dass der Pflegebereich, insbesondere bei der Spitex, aber auch bei den Pflegeheimen, heute kostenseitig stark steigend ist. Für die Zukunft ist eine hohe Qualität in der Langzeitpflege sicherzustellen – ohne dass die Prämienzahler substanziell mehr belastet werden.» Der Verband sei aber offen, über neue Lösungsansätze bei der Langzeitpflege zu diskutieren.
Neben der besseren Finanzierung braucht es laut den Fachleuten aber auch eine Veränderung bei den Branchenverbänden und Ausbildungsstätten. «Besonderen Wert soll in Aus- und Weiterbildungskursen auf die Interprofessionalität gesetzt werden.» Im Gegensatz zu früheren Zeiten sollen Lehrkörper und Teilnehmende interprofessionell zusammengesetzt werden, sodass die medizinisch immer komplexer werdenden Fälle angemessen betreut werden können. Am Erstellen des Berichts waren ausserdem Fachleute von verschiedenen Universitäten beteiligt, die dort für den nötigen Wandel sorgen sollen.
«Eine zusätzliche Möglichkeit, um bei der Ausbildung anzusetzen, ist die Schaffung eines Fähigkeitsausweises für Heimärzte und Heimärztinnen», erklärt Komiteeleiter Klaus Bally. Es wäre laut ihm denkbar, dass für solche speziell ausgebildeten Personen gewisse Leistungsbeschränkungen beim Abrechnen wegfallen – so dass die Betreuung von Heimbewohnern optimal möglich ist.

Was hält die Basis von den Empfehlungen?

Bei den Direktbetroffenen wird der Bericht des nationalen Komitees mit Interesse zur Kenntnis genommen, man sei um die Umsetzung der Empfehlungen bemüht. So hält die Zürcher Stadtärztin und Chefärztin des Geriatrischen Dienstes Gabriela Bieri-Brüning viele der Learned Lessons für umsetzbar – doch das bedinge eine gewisse Grösse der Heime. Schwierigkeiten sieht die Ärztin vor allem bei den monetären Empfehlungen: «Die Finanzierung der ärztlichen Leistung im Heim bleibt ein Problem, das in der Politik meiner Meinung nach noch nicht angekommen ist.»
Die in ihren Geltungsbereich fallenden Vorschläge versuche sie jedoch zu übernehmen. «Im Moment werden durch diverse Projekte der ärztlichen Versorgung, aber auch der vermehrt präventiven Pflege, die Forderungen der Expertengruppe umgesetzt», erklärt Bieri-Brüning. Ganz konkret betreffe das die Zusammenarbeit und Kommunikation mit den Hausärztinnen und Hausärzten, die Verbesserung der Notfallversorgung, den Einsatz von Advance Practice Nurses und die Fortentwicklung der geriatrischen Konsiliar- und Liaisondienste.
Das ist nötig, denn auch Gabriela Bieri-Brüning bestätigt, dass die ärztliche Versorgung in vielen Heimen heute noch nicht befriedigend sei und dass eine Unterversorgung herrsche. «Wir wurden von diversen Heimen im Kanton um Unterstützung gebeten. Es wäre deshalb sinnvoll zu überlegen, ob wir das als Gesellschaft so wollen, oder ob wir nicht mehr in die ärztliche Versorgung der Heime investieren», so die Chefärztin.
Gleich sieht das Dominique Elmer, Präsidentin von LangzeitSchweiz, dem Verband der Langzeitpflegenden. Sie weist darauf hin, dass besonders auch die ärztliche Versorgung in ländlichen Gegenden ein Thema ist, das man für die Zukunft im Auge behalten sollte. Bezüglich der Pandemie gibt Elmer zu bedenken: «Es muss in Zukunft andere Massnahmen geben als ein Besuchsverbot. Dies hat nicht geholfen, sondern geschadet. Vor allem auf der psychischen Ebene der alten Menschen.» Die Massnahmen des Komitees hält die Pflegefachfrau aber grundsätzlich für umsetzbar – obwohl sie ebenfalls daran zweifelt, dass dies schnell möglich sein wird.
Die Pandemie hat die in der Langzeitpflege schon seit vielen Jahren bestehenden Probleme in der stationären Langzeitpflege erstmalig auch für weite Teile der nicht direkt-involvierten Bevölkerung und für politische Verantwortungsträger sichtbar gemacht. So wurde klar, dass Heime betreffend der ärztlichen und pflegerischen Versorgung sowie der interinstitutionellen Kommunikation in keiner Weise den nachgelagerten Versorgungstrukturen gleichgestellt sind. Klaus Bally zeigt sich aber überzeugt, dass die im Bericht zusammengefassten Learnings das Potenzial haben, die Mängel zu beheben. «Die Empfehlungen sollen schlussendlich ein Anlass sein, alle Akteure dazu zu bringen, auf verschiedenen Ebenen Verbesserungen für die Heimbewohner anzustossen und zeitnah umzusetzen.»
Hier finden Sie den Bericht im Original mit allen Empfehlungen und Problemfeldern: https://t.ly/q9LF
1 Situationsbericht zur epidemiologischen Lage in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein (umfasst alle Todesfälle mit Todesdatum ab 05.10.2020 bis 01.05.2022, interne BAG-Auswertung, Zahlen nicht veröffentlicht)