Unisanté, neues Unversitätszentrum für Allgemeinmedizin und Public Health, Lausanne

«Öffentliches Geld darf nicht nur in die Spitzenmedizin fliessen»

Tribüne
Ausgabe
2020/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18523
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2122):712-714

Affiliations
Redaktorin Print/Online

Publiziert am 20.05.2020

In Lausanne gibt es seit Januar 2019 «Unisanté», ein neues Universitätszentrum für Allgemeinmedizin und Public Health. Wie kam es dazu, und was soll der Nutzen sein? Ein Spital im bisherigen Sinn will es jedenfalls nicht sein. Unisanté soll teilweise sogar die medizinische Versorgung aus dem Spitalkontext herausholen und damit Spitäler entlasten. Der Blick richtet sich verstärkt auf die Prävention. Bei Ausbildung und Interdisziplinarität geht man ebenfalls neue Wege. Der Generaldirektor des Zentrums und Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Prof. Jacques Cornuz, erklärt das schweizweit einzigartige Konzept.
Sie haben das Projekt «Unisanté» von Anfang an begleitet. Worum geht es dabei?
Unisanté ist ein universitäres Zentrum, das Allgemeinmedizin und Public Health zusammenführt. Wir haben die ambulante Grundversorgung, Public Health, Sozial-, Präventiv- und Arbeitsmedizin unter einem Dach versammelt. Hier vereinen sich klinische, akademische und präventive Kompetenzen, eingebettet in die Arbeit vor Ort. Unisanté ist entstanden aus der Fusion von vier waadtländischen Einrichtungen. Es beruht auf einer langjährigen Kooperation mit dem kantonalen Gesundheitsdepartement, dem Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV und der Universität Lausanne.
Prof. Jacques Cornuz ist Facharzt für Allgemeine Innere ­Medizin und leitet das neue Zentrum Unisanté.
Wozu die Annäherung zwischen Allgemeinmedizin und Public Health?
Unser Ziel ist die Förderung von Synergien im ambulanten und im Public-Health-Bereich, vor allem bei der Behandlung von Patienten mit komplexen Erkrankungen. Komplex nicht nur im medizinischen Sinn, zum Beispiel Therapie chronisch kranker und multimorbider Patienten, sondern auch im sozialen Sinn. Die So­zialmedizin gewinnt immer mehr an Bedeutung. Das hat zuletzt auch das bedeutende New England Journal of Medicine betont. Zudem muss es im heutigen Gesundheitswesen eine Art Ausgleich geben. Heute ist es sehr stark auf das Spital zentriert. Mit der Gründung von Unisanté nehmen wir gewissermassen die Allgemeinmedizin und Public Health aus dem Spitalkontext ­heraus und führen sie in einer neuen Einrichtung, ­einer neuen «Marke», zusammen. Beide Disziplinen beschäftigen sich ja mit der öffentlichen Gesundheit. Dabei verleiht Unisanté beiden Gebieten mehr uni­versitäres Gewicht, verfolgt und konsolidiert einen schlüssigen Ansatz. Die starken Bande zu den Kollegen im Spital bleiben aber gewahrt.
Konkret bitte, wie soll Unisanté das Gesundheits­system wieder ins Gleichgewicht bringen?
Wie gesagt beruht das System heute zu stark auf den Spitälern. Und die sind schon überlastet. Zudem wird die Situation noch verschärft durch die Alterung der Bevölkerung und den Anstieg chronischer Erkrankungen. Zur Entlastung der Spitäler will Unisanté die ­medizinische Grundversorgung stärken, also Allgemeinmedizin, Pharmazie, Public Health, den Bereich der Krankenpflege. So sollen Notfälle vermehrt spital­extern behandelt werden. Zurzeit kommen zu viele Menschen ins Spital, weil geeignete ambulante Strukturen fehlen. So geht Effizienz verloren, und Betten werden unnötig belegt. Hier kann unsere Grundversorgung die zugespitzte Lage entspannen und viel im Akutbereich leisten. So tragen wir zu mehr Ausge­wogenheit im Gesamtsystem bei.
Ein ambitioniertes Ziel!
Ja, aber das ist unbedingt erforderlich. Das heutige Gesundheitssystem ist für das 20. Jahrhundert ausgelegt und muss für das 21. Jahrhundert völlig neu gedacht werden. Auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften sagt, dass wir das Gesundheitssystem gegen die Wand fahren, wenn wir unseren Kurs jetzt nicht ändern. Diese Kursänderung braucht aber eine holistische, eine ganzheitliche Sicht der ­Gesundheit. Wir sollten uns nicht allein auf ein Versorgungssystem konzentrieren, das auf die Pflege von Kranken ausgerichtet ist und sich dabei natürlich auf Spitäler stützt. Wir müssen ein Gesundheitssystem ­anstreben, das darüber hinaus zum Ziel hat, die Menschen bei guter Gesundheit zu halten. Dieser Perspektivenwechsel erfordert sowohl konzeptionelle als auch strukturelle Veränderungen. Unisanté ist ein erstes Beispiel für solch einen neuen Ansatz. Um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken, braucht es in der Medizin nicht nur technische Innovationen, sondern auch eine innovative Grundversorgung. Öffentliche Gelder dürfen nicht nur in die Spitzenmedizin gesteckt werden!
Das Gebäude der Policlinique médicale universitaire de Lausanne (PMU) beherbergt seit Januar 2019 die klinischen Aktivitäten von Unisanté.
Unisanté soll also Mängel im Bereich der Prävention beheben?
Prävention ist eine unserer Missionen. Gesundheit ist grösstenteils das Resultat unseres Verhaltens. Tabak- und Alkoholkonsum, Bewegung, Ernährung und Umweltverschmutzung sind entscheidende Faktoren. Hausärzte spielen hier eine wichtige Rolle bei der Aufklärung der Bevölkerung. Es geht auch um Aufklärung über medizinische Eingriffe; darum, mit einem Patienten zu besprechen, dass der Nutzen einer Operation recht gering sein kann, das Risiko jedoch hoch. So lassen sich kostspielige, wenig nutzbringende Eingriffe vermeiden. Bei gesunden Menschen geht es darum, das individuelle Risiko für bestimmte Erkrankungen abzuschätzen, je nach Geschlecht, Alter und Lebensweise. So können dann entsprechende Früherkennungs-Untersuchungen vorgeschlagen werden. Wir haben beispielsweise Kommunikationstools zur Früherkennung von Prostata- und Grimmdarmkrebs, bald auch von Lungenkrebs, entwickelt. Wir müssen besser und genauer über Gesundheitsrisiken aufklären. Häufig werden sie undifferenziert, ohne Wahrscheinlichkeiten genannt.
Können Sie Beispiele geben?
Es ist beispielsweise wichtig zu unterscheiden zwischen Präventionsmassnahmen, sprich nachgewiesenen Risiken im Zusammenhang mit Alkohol oder Tabak zum Beispiel, und dem Vorsorgeprinzip, sprich potenziellem Risiko im Zusammenhang mit 5G-Antennen. Unisanté kann sich dank den sich ergänzenden Kompetenzen an der Wissensvermittlung und dem Risikomanagement beteiligen. All dies muss durch Fachleute erfolgen, die den Patienten, in seiner ganzen Kom­plexität und Verletzlichkeit, in den Mittelpunkt ihres fürsorgerischen Handelns stellen.
Wie lässt sich die Gesamtbevölkerung ansprechen? Manche verzichten ja auf Arztbesuche auch aus finanziellen Gründen.
Es ist ausdrücklich das Ziel von Unisanté, auch die ­benachteiligten Teile der Bevölkerung zu erreichen. Solche Personen, die weniger Zugang zur medizinischen Versorgung haben und eher dazu neigen, ihre Gesundheit zu vernachlässigen. Diese Gruppen dürfen nicht «vergessen» werden. Unsere Präventionsmassnahmen richten sich gezielt an sie, wir wollen die Gesundheitskompetenz bei Personen mit geringerer Bildung fördern. Daten vom Bundesamt für Gesundheit zeigen ­einen vom sozio-ökonomischen Niveau abhängigen Unterschied bei der Lebenserwartung von bis zu fünf Jahren, so bei Bewohnern verschiedener Stadtviertel von Bern und Lausanne. Um diese Differenz zu reduzieren oder besser zu eliminieren, müssen wir auch die Bildung mit einbeziehen. Je besser ausge­bildet eine Person ist, desto mehr achtet sie auf ihre Gesundheit.
Welchen Vorteil hat die universitäre Komponente?
Die universitäre Basis sichert unseren Status als Wissens­zentrum, unterstützt unsere Glaubwürdigkeit und Legitimation. Wir wollen unsere Forschungskompetenz der gesamten Ärzteschaft, der Bevölkerung und den Behörden zugänglich machen. Mit unseren Stellungnahmen, gestützt auf wissenschaftliche Daten und die Arbeit vor Ort, bieten wir Entscheidungsträgern eine solide Grundlage für gesundheitspolitische Massnahmen. Als Universitätszentrum sind wir mit der Ausbildung von Ärzten auf allen Ebenen – Studium, Assistenz, Weiterbildung – befasst und vereinen verschiedene Bereiche unter einem Dach. Das ermöglicht Konvergenz und Kohärenz in der Ausbildung und eine optimale Vorbereitung auf aktuelle und künftige Bedürfnisse. Wir wollen Ärztinnen und Ärzte auf die Herausforderungen von morgen vorbereiten, vor allem in den Bereichen Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Präventivmedizin.
Welche Vorteile darf man von einer Organisation wie Unisanté erwarten?
Zum einen wird Unisanté die Bedeutung der Allgemeinmedizin stärken. Leider hat diese Fachrichtung lange Zeit ein Mauerblümchendasein gefristet. Letztlich werden sich unsere Aktivitäten in Forschung und Lehre ­positiv auf den Patienten auswirken. Dank der zusammengeführten Ausbildung in Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin wird sich der Patient an einen Hausarzt mit erweiterten Kompetenzen wenden können. Ausserdem fördert Unisanté die Interprofessio­nalität, vor allem im Hinblick auf nötige Veränderungen im Gesundheitssystem. Mehr Zusammenarbeit zwischen den medizinischen Bereichen soll die Patientenbetreuung verbessern. Ein anderer Punkt ist, dass sich die verschiedenen Gesundheitsberufe schnell entwickeln und auch verändern. Nehmen wir als Beispiel die Apotheker. Sie stellen heute vermehrt Diagnosen. Hier und auch bei anderen Entwicklungen ergibt sich die Frage, was das für die Ärztinnen und Ärzte bedeutet. Unisanté ist letztlich eine Art Labor, in dem wir ­beobachten, Anpassungen vornehmen und Neues ­ausprobieren.
Gibt es vergleichbare Zentren in der Schweiz?
Meines Wissens nicht. Aber unser Konzept stiess bei medizinischen Fakultäten und Ärztegesellschaften auf grosses Interesse. Sie erkennen, dass unser Ansatz, die Kräfte zu bündeln und die Kompetenzen im Bereich ­öffentliche Gesundheit und Grundversorgung in eine universitäre Dynamik einzubinden, Sinn macht. Wenn Unisanté ein Modell zur Inspiration sein kann, dann sind wir froh. Wir sind offen für Partnerschaften mit anderen Kantonen, um so Synergien zu nutzen und uns weiterzuentwickeln. Es gibt bereits mehrere Projekte zu Forschung und Lehre mit Westschweizer Akteuren aus den Bereichen Allgemeinmedizin und Public Health.

Das Wichtigste in Kürze

• Das 2019 gegründete Zentrum Unisanté ist ein Zusammenschluss der von Jacques Cornuz geleiteten Medizinischen ­Poliklinik der Universität Lausanne (PMU), dem Institut universitaire de médecine sociale et préventive (IUMSP), dem Institut romand de la santé au travail (IST) und der Promotion Santé Vaud, einer in der Prävention tätigen Organisation. Die juristische Basis von Unisanté ist die PMU.
• Im Januar 2020 ist auch die Fondation vaudoise pour le dépistage du cancer der Gruppe beigetreten.
• Unisanté wurde inspiriert vom Beispiel der Universitäten Maastricht und Cardiff, die beide ein Kompetenzzentrum im Bereich Grundversorgung und Public Health aufgebaut haben.
• Unisanté zählt über 800 Mitarbeitende bei ungefähr 300 000 Patientenkontakten pro Jahr. Das jährliche Budget des Zen­trums beläuft sich auf 130 Millionen Franken. Ein Drittel davon trägt der Kanton Waadt.

L’essentiel en bref

• La Policlinique médicale universitaire de Lausanne (PMU), que Jacques Cornuz dirigeait, constitue le socle juridique d’Unisanté. Elle a fusionné avec l’Institut universitaire de médecine sociale et préventive (IUMSP), l’Institut romand de la santé au travail (IST) et Promotion Santé Vaud, asso­ciation active dans la prévention, pour former le nouveau centre.
• Au 1er janvier 2020 s’y est joint la Fondation vaudoise pour le dépistage du cancer.
• Unisanté est inspiré des Universités de Maastricht et de Cardiff qui ont créé des centres de compétences autour du «primary care» (soins de première ligne) et du «public health» (santé publique).
• Opérationnel depuis une année, Unisanté compte plus de 800 collaborateurs pour environ 300 000 contacts-patients par an. Son budget s’élève à 130 millions, dont un tiers est financé par le canton de Vaud.
julia.rippstein[at]emh.ch