Rückblick und Ausblick

Förderprogramm «Versorgungsforschung im Gesundheitswesen»: Rückblick und Ausblick

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2017/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05121
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(03):59–61

Affiliations
a Dr. sc, nat., ehem. Leiter Ressort Wissenschaft, SAMW, Bern; b Dr. med., Generalsekretär, SAMW, Bern

Publiziert am 17.01.2017

Mit der Lancierung des Nationalen Forschungsprogramms NFP 74 «Gesundheitsversorgung» durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Herbst 2015 [1]* und einem neuen Förderprogramm der Stiftung Krebsforschung Schweiz [2], das im Rahmen der Nationalen Strategie gegen Krebs erarbeitet wurde, stehen für die Versorgungsforschung endlich substantielle Fördermittel bereit. Das Förderprogramm «Versorgungsforschung im Gesundheitswesen» der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat hierfür den Grundstein gelegt.
Die Versorgungsforschung untersucht u.a. die Wirkung von medizinischen Interventionen unter Alltagsbedingungen, also den Transfer von Ergebnissen der klinischen Forschung in die Realität der Arztpraxen, Spitäler und Pflegeinstitutionen. Die SAMW spannte bereits 1985 erste Fäden für das Netz der Versorgungsforschung in der Schweiz: Das Programm «Recherches et réalisations en médecine appliquée» (RRMA) unterstützte mit jährlich CHF 200 000 Forschungsprojekte im Bereich der Hausarztmedizin [3]. 2011 konnte die SAMW die Gottfried und Julia Bangerter-Rhyner Stiftung für die Schaffung eines Förderprogramms «Versorgungsforschung im Gesundheitswesen» gewinnen. Nach dem Start der ersten Förderrunde bat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 2013 die SAMW, ein Konzept für die «Stärkung der Versorgungsforschung in der Schweiz» [4] auszuarbeiten. Fast gleichzeitig forderte der Bundesrat in seiner gesundheitspolitischen Agenda «Gesundheit 2020» explizit und prioritär die Sicherung und Erhöhung der Versorgungsqualität. Die Lancierung des Förderprogramms erfolgte also genau zum richtigen Zeitpunkt.

Ziele, Mittel und Förderinstrumente

Die Bangerter-Stiftung stellte dem Förderprogramm in den Jahren 2012–2016 jährlich 1 Million Franken zur Verfügung. Gemäss Vereinbarung sollte das Programm
– mittel- bis langfristig zu einem nachhaltigen Ausbau der Forschungskompetenzen und -infrastrukturen im Bereich Versorgungsforschung in der Schweiz führen;
– qualitativ hochstehende Forschungsprojekte im Bereich der Versorgungsforschung im breitesten Sinne ermöglichen;
– den wissenschaftlichen Nachwuchs in diesem Bereich fördern;
– diesem Forschungszweig den entscheidenden Impuls geben, der ihn in die Lage versetzt, in Zukunft im Wettbewerb mit anderen Forschungsbereichen erfolgreich Fördergelder zu akquirieren.
Mit dem Begriff «Versorgungsforschung» wird ein ­weiter Bereich von Forschungsfragen abgedeckt. Das Förderprogramm definierte Versorgungsforschung in ­Anlehnung an Pfaff [5] als «fachübergreifendes Forschungsgebiet, das die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte beiträgt, die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -prozessen unter Alltagsbedingungen evaluiert.»
Das Förderprogramm bot den Gesuchstellern drei verschiedene Förderinstrumente an: Projektförderung (Maximalsumme CHF 100 000/Jahr über max. drei Jahre), personenbezogene Stipendien für Auslandaufenthalte (CHF 40 000) sowie «Seed Money» für Pilotprojekte (CHF 25 000).

Beurteilungskriterien und Prozedere

Eine 15-köpfige, interdisziplinär zusammengesetzte Expertenkommission war für die Evaluation der Gesuche zuständig. Vorgelagert erfolgte eine erste Prüfung durch das SAMW-Generalsekretariat und den Kommissionspräsidenten; sofern die eingereichten Projekte dem Förderzweck entsprachen, wurden sie jeweils zwei Experten vorgelegt und nach folgenden Kriterien evaluiert:
– Beurteilung der Person
(max. 8 Punkte): Ausbildung, Werdegang, Umfeld, bisherige wissenschaftliche Leistung, Fachkompetenz in Bezug auf das Projekt;
– Beurteilung des Projektes
(max. 16 Punkte): Wissenschaftliche Bedeutung, Aktualität des Projekts, Originalität der Fragestellung, Eignung des methodischen Vorgehens, Machbarkeit des Projekts, Vernetzung, Nachhaltigkeit, Return on Investment.
Die Punktzahlen beider Experten wurden addiert und die Gesuche anhand dieser Summen in eine Rangliste gebracht. Im Rahmen der Evaluationssitzung wurden diejenigen Gesuche im Detail diskutiert, die ein Total von ≥38 (von max. 48) erreicht hatten. Zudem wurden diejenigen Gesuche geprüft, die zwar kein Total ≥38, jedoch einen grossen Unterschied zwischen den beiden Einzelbeurteilungen aufwiesen.
Bei den als förderwürdig befundenen Gesuchen konnten Anpassungen am Budget vorgenommen oder inhaltliche Auflagen formuliert werden. Auf Basis dieser Selektionsschritte wurde der Bangerter-Stiftung schliesslich ein Fördervorschlag unterbreitet. Dem Stiftungsrat war es jeweils vorbehalten, über diesen Fördervorschlag zu entscheiden; er wich jedoch nie davon ab.

Eingereichte Gesuche im Überblick

In den fünf Förderrunden gingen insgesamt 344 Gesuche ein; 259 davon wurden als dem Förderzweck entsprechend eingestuft und weiter bearbeitet. Der Anteil nicht zweckentsprechender Gesuche nahm von der ersten zur letzten Förderrunde deutlich ab: 32% vs. 14%.
Von den zweckentsprechenden Gesuchen beantragten 200 Projektförderung, 49 «Seed Money» und 9 ein Stipendium. (Ein weiteres Gesuch betraf die Übernahme von Veranstaltungskosten; diese Fördermöglichkeit war nur in der ersten Förderrunde vorgesehen.)
Die Hauptantragsteller stammten in 42% der Fälle aus Universitäts- und Kantonsspitälern, in 30% aus Universitäten und in 19% aus Fachhochschulen (10% andere). Von den 213 Hauptantragstellern hatten 89 als höchsten akademischen Titel Prof. oder PD angegeben, 164 trugen mindestens einen Dr.-Titel und 9 hatten eine Weiterbildung als Master of Public Health (MPH) absolviert. Erwartungsgemäss war ein Grossteil der Hauptantragsteller in den fünf grossen Universitätsstädten tätig (Zürich: 61, Bern: 44, Basel: 37, Lausanne: 33, Genf: 24). Weitere Städte mit mehr als 5 Gesuchen waren Winterthur (12) und St. Gallen (11); 5 Gesuche wurden aus dem Ausland eingereicht mit tragenden Rollen von Schweizer Institutionen im Projekt.
Bei einer groben Einteilung in Disziplinen stand die Medizin an erster Stelle (133 Gesuche), gefolgt von den Pflegewissenschaften (34), Public Health / Sozial- und Präventivmedizin (33) und (Gesundheits-)Ökonomie (19). Bezüglich des Settings konnten 110 Projekte eindeutig dem ambulanten Bereich zugeordnet werden, während der stationäre Bereich in 71 Projekten untersucht wurde. Weitere 52 Projekte betrachteten die Versorgung auf Systemebene.
Die total beantragte Fördersumme betrug 33 Millionen Schweizer Franken.

Charakteristika der geförderten Projekte

Von den 259 beurteilten Gesuchen schlug die Expertenkommission 46 (18%) zur Förderung vor: In 35 Fällen betraf dies Projektförderung, in 8 Fällen «Seed Money», in 2 Fällen Stipendien und in 1 Fall Veranstaltungskosten. Die 46 unterstützten Gesuche stammten von 
39 unterschiedlichen Hauptantragstellern.
Von den 46 bewilligten Gesuchen stammten 33 aus Universitäten (72%), 8 aus Spitälern (17%), 3 aus Fachhochschulen (7%) und 2 aus anderen Institutionen (4%). Fast alle Hauptantragsteller hatten mindestens einen Dr.-Titel (36 bzw. 92%), 21 einen Prof.-/PD-Titel (54%). Die meisten bewilligten Gesuche stammten aus Zürich (16), gefolgt von Basel (11), Bern (8), Lausanne (5) und Genf (3; andere: 3). Die Mehrheit der geförderten Projekte behandelte Fragestellungen aus dem ambulanten Bereich (25). Projekte aus dem stationären Setting (5) und systembezogene Projekte (7) waren weniger zahlreich. Die insgesamt ausgeschüttete gesamte Fördersumme betrug CHF 4 422 717. Die geförderten Projekte wurden im Mittel mit rund CHF 150 000 unterstützt; die «Seed Money»-Projekte bzw. die Stipendien waren mit einem fixen Betrag ausgeschrieben (CHF 25 000 bzw. CHF 40 000). Aus den Projekten, die in den ersten beiden Förderrunden unterstützt wurden, sind in bisher 70% der Fälle Publikationen in Peer-reviewed Journals hervorgegangen; von den späteren Förderrunden liegen noch keine Zahlen vor.
Die Quote von 18% geförderter Projekte entspricht den Erwartungen an ein wissenschaftliches Förderprogramm. Auch die Tatsache, dass die meisten geförderten Projekte aus dem universitären Umfeld stammen, überrascht nicht. Hingegen vermögen die unterschiedlichen Erfolgsquoten von Projekten aus universitären Instituten gegenüber jenen aus Spitälern oder Fachhochschulen zu erstaunen: Während 30% der Gesuche aus Universitäten erfolgreich waren, blieben es bei den Spitälern lediglich 12%, bei den Fachhochschulen 6%. Bei den Fachhochschulen wurde von den Experten wiederholt die fehlende wissenschaftliche Qualität der Gesuche als Absagegrund aufgeführt (bei teilweise grossem Interesse am Thema des Projekts). Gründe für die tiefe Quote bei den Gesuchen aus den Spitälern waren z.B. die Fokussierung auf sehr spezifische Versorgungsprobleme (mit entsprechend kleinen Fallzahlen) oder das beschränkte Potential zur Verallgemeinerung der zu erwartenden Forschungsergebnisse.
Die Tatsache, dass 43 der 46 erfolgreichen Gesuche von einem Hauptantragsteller aus einer der fünf grossen Schweizer Universitätsstädte eingegeben wurden, spiegelt die Wichtigkeit der universitären Anbindung eines Projekts im Bezug auf dessen Erfolgsaussichten. In der hohen Anzahl der eingereichten (110 oder 42%) und der geförderten Projekte (25 oder 54%) aus dem ambulanten Bereich reflektiert sich möglicherweise der generelle Trend zur «Ambulantisierung» der Medizin. Die Versorgungsforschung kann der Entwicklung neuer Modelle in diesem Sinne Anschubhilfe leisten.

Symposium zur Versorgungsforschung

Neben der Projekt- und Personenförderung ermöglichte das Förderprogramm auch ein jährliches «Symposium der Schweizer Versorgungsforschung». Das Symposium diente einerseits der Vernetzung unter den Akteuren der Schweizer Versorgungsforschung und andererseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Themen aus diesem Gebiet.
Dem thematischen Schwerpunkt entsprechend wurde jeweils eine Partnerorganisation eingeladen, das Symposium inhaltlich mitzugestalten: 2012 Onkologie, Partner SAKK; 2013 Hausarztmedizin, Kollegium für Hausarztmedizin; 2014 Interprofessionalität, Fachhochschulen Gesundheit; 2015 «Less is More», Swiss School of Public Health. Die wissenschaftlichen Präsentationen wurden jeweils durch Postersessions ergänzt. Die Poster – in einem offenen Ausschreibungsverfahren eingeholt und vom wissenschaftlichen Komitee selektioniert – spiegelten die ganze Bandbreite der Schweizer Versorgungsforschung. Insgesamt nahmen an den vier Symposien rund 600 Personen teil und über 200 Poster wurden präsentiert. Die Ausschreibung zum nächsten Symposium ist vor kurzem erfolgt, Thema NFP 74 «Gesundheitsversorgung», Partner SNF (siehe www.samw.ch/agenda).

Wurden die Ziele des Förderprogramms erreicht?

Das Förderprogramm «Versorgungsforschung im Gesundheitswesen» wurde über die Jahre von einer immer grösser werdenden Forschergemeinde wahrgenommen. Auch das zugehörige Symposium erfreute sich zunehmender Beliebtheit. Die Gesuchszahlen pendelten sich auf einem relativ hohen Niveau ein (rund 50 zweckentsprechende Gesuche pro Jahr) und waren deutlich höher als bei anderen aktuellen Förderinstrumenten der SAMW, etwa dem Förderprogramm «Forschung in Pal­liative Care» oder dem Käthe-Zingg-Schwichtenberg-Fonds für Projekte in der Medizin­ethik. Die Aktivität in der Schweizer Versorgungsforschung spiegelt sich auch in der grossen Zahl von Eingaben im NFP 74 «Gesundheitsversorgung» und beim Förderprogramm der Krebsforschung Schweiz. Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass die Ziele des Förderprogramms mehrheitlich erreicht wurden [6, 7].

Ausblick

Die SAMW betreibt gezielt Forschungsförderung in noch wenig oder nicht etablierten medizinischen Forschungsbereichen. Aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre und insbesondere nach Schaffung des NFP 74 ist es daher nicht mehr Aufgabe der SAMW, die Versorgungsforschung weiter voranzutreiben.
Das NFP 74 befindet sich momentan in der Phase der Projektauswahl der ersten Eingaberunde. Weitere Eingaberunden sind derzeit nicht geplant. Die Stiftung Krebsforschung Schweiz vergibt zudem in der Periode 2016–2020 jährlich eine Million Franken im Rahmen des «Programms zur Stärkung der onkologischen Versorgungsforschung». Das fünfte Symposium der Schweizer Versorgungsforschung, das am 1. März 2017 stattfindet, wird u.a. der Frage nachgehen, wie die Unterstützung der Versorgungsforschung künftig sichergestellt werden kann.
Das Förderprogramm «Versorgungsforschung im Gesundheitswesen» auf einen Blick.
Dauer:2012–2016
Total eingereichte Gesuche:344
Dem Förderzweck ­entsprechende ­Gesuche:
259
Unterstützte Gesuche: 
46 (35 Projektförderung, 8 «Seed Money», 2 Stipendien, 
1 Veranstaltung)
Beantragte Fördersumme:CHF 33 Mio.
Zugesprochene Fördersumme: 
CHF 4,4 Mio.
Herkunft der eingereichten Gesuche: Universitäts- und Kantonsspitäler 42%
Universitäten 30%
Fachhochschulen 19%
Andere 9%
Herkunft der bewilligten 
Gesuche:Universitäts- und Kantonsspitäler 17%
Universitäten 72%
Fachhochschulen 7%
Andere 4%
Themen und Partner 
der Symposien:2012: Hausarztmedizin; Kollegium für Hausarztmedizin
2013: Onkologie; SAKK
2014: Interprofessionalität; Fachhochschulen Gesundheit
2015: «Less is more»; SSPH+
2017: Zukunft der Versorgungsforschung; SNF, SSPH+
Dr. med. Hermann Amstad
Generalsekretär SAMW
Haus der Akademien
Laupenstrasse 7
CH-3001 Bern
h.amstad[at]samw.ch
1 Rosemann Th. Nationales Forschungsprogramm (auch) für die Hausarztmedizin. Schweiz. Ärztezeitung 2015;96(39):1425–1426.
2 http://www.krebsforschung.ch/2/ueber-uns/die-stiftung/programme-to-strengthen-health-services-research-in-oncology/
3 SAMW. Rückblick auf 25 Jahre RRMA. SAMWbulletin 4/2011.
4 SAMW. Stärkung der Versorgungsforschung in der Schweiz. Konzept zuhanden des Bundesamtes für Gesundheit. Basel, 2014.
5 Pfaff H. Versorgungsforschung – Begriffsbestimmung, Gegenstand und Aufgaben. In: Pfaff H, Schrappe K, Lauterbach W, Engelmann U, Halber M (Hrsg.).Gesundheitsversorgung und Disease Management. Grundlagen und Anwendungen der Versorgungsforschung. Bern: Verlag Hans Huber; 2003.
6 SAMW. Versorgungsforschung: Vom SAMW-Förderprogramm zum Nationalen Forschungsprogramm. Interview mit Prof. Thomas Rosemann. SAMW-Jahresbericht 2015.
7 Crameri K. Versorgungsforschung in der Schweiz: Standortbestimmung und Perspektiven. Masterarbeit zur Erlangung des Masters of Public Health im Rahmen des Weiterbildungsstudiengangs Public Health der Universitäten Basel, Bern und Zürich. Zürich, 2016 (online verfügbar unter http://www.samw.ch/de/Foerderung/Versorgungsforschung-in-der-Schweiz.html)