Das Bleistift-Experiment
Skill-Training Folge 3

Das Bleistift-Experiment

Arbeitsalltag
Ausgabe
2020/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10173
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(03):107-108

Affiliations
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, spez. Psychosomatische Medizin SAPPM, Senior Editor PHC

Publiziert am 04.03.2020

Ich lege meinen Kugelschreiber an den Rand meines Schreibtischs und stelle fest, dass der Stift hier sicher liegt. Analog zur Sicherheit, in der sich die Patientin wiegt, die sich nichts traut.

Die Intervention

Ich lege meinen Kugelschreiber an den Rand meines Schreibtischs und stelle fest, dass der Stift hier sicher liegt. Analog zur Sicherheit, in der sich die Patientin wiegt, die sich nichts traut. Dann schiebe ich den Stift über die Kante hinaus und versichere der etwas staunenden Patientin, dass auch hier der Stift in stabiler Lage verweilt. Jetzt beginne ich zu experimentieren. Ich schiebe meinen Kugelschreiber Stück um Stück ­immer weiter vor, selbst überrascht und zur grossen Verwunderung meiner Mitbeobachterin, wie weit dies möglich ist, bevor der Stift in Schieflage gerät, leicht schwankt, aber auch dann noch nicht herunterfällt. Erst wenn ich ihn noch weiter schubse, fällt mein Stift und ich fange ihn meistens noch auf – manchmal fällt er doch zu Boden.

Die Indikation

Gerade depressive und ängstliche Patient/-innen haben eine grosse Hemmung «an die Grenzen» zu gehen. Sie verharren in einer Komfortzone, die gar nicht komfortabel ist und in der sich auch rein gar nichts bewegt. Bedrängen hilft bekanntlich nicht, und Druck ausüben noch weniger. Dieses Bleistift-Experiment fasziniert meine Patientinnen und Patienten immer wieder. Seine Symbolik überzeugt und lässt sie bis zum nächsten Mal etwas ausprobieren, etwas Neues versuchen oder gar riskieren.
Eine Komfortzone ist der durch Gewohnheiten definierte Bereich eines Menschen, in der er sich wohl und sicher fühlt und es ihm deswegen leicht fällt, mit der Umwelt zu interagieren. Die Komfortzone ist bei jedem Menschen unterschiedlich und individuell, ebenso wie die Folgen und Anstrengungen, die Komfortzone zu verlassen. Der Begriff wird häufig in der Populärpsychologie für träges, versteiftes und immer gleiches Verhalten verwendet. Die Gewohnheiten entstehen durch eine Umwelt und/oder ein soziales Umfeld, die für die Personen bereits bekannt sind und, aufgrund fester Rituale und Routinen sowie Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensweisen, als gewöhnlich empfunden werden. Die Konfortzone endet bei signifikanten Veränderungen oder Tätigkeiten, die Überwindung oder Anstrengung erfordern oder mit Ängsten verbunden sind und daher nicht mehr als bequem, sondern als unangenehm empfunden werden. Ängste, Stress und andere psychische Symptome können daher ein Signal für das Verlassen der Komfortzone sein – und damit zu Veränderung, zu neuen Erfahrungen.

Die Theorie

Motivational Interviewing hat sich als Grundhaltung im Umgang mit Verhaltensänderung durchgesetzt. «Tanzen statt kämpfen», «überzeugen statt überreden» (es ist einfacher, einen Esel zu führen als einen Esel zu stossen) oder wie im bekannten Film «Pferdeflüsterer» mit Robert Redford, wie partnerschaftliche Arbeit eher zum Ziel führt als klassische Dressur mit autoritären Drohgebärden [1–4].
Dieses einfache Bleistift- oder Kugelschreiber-Experiment verblüfft durch den didaktischen Eindruck, den es hinterlässt und meine Patientin motiviert, etwas Neues zu versuchen, ein kontrolliertes Risiko einzugehen. Auch die Worst-Case-Option, der aufgefangene oder gefallene Stift, verleitet und überzeugt, dass auch der schlimmste Fall – als Experiment betrachtet – keine irreparable irreversible Katastrophe darstellt, sondern ganz im Gegenteil, nur einen misslungenen Versuch in einer ganzen Experimentenreihe mit dem Ziel, eine Veränderung einzuleiten. Und überhaupt, einen Versuch riskiert zu haben, erfüllt ihn oder sie mit einem gewissen Stolz, etwas gewagt zu haben. QED – quod erat demonstrandum.

Die Geschichte

Ein 40-jähriger Geiger mit Vorliebe für barocke Musik spielt in verschiedenen Orchestern. Er ist schüchtern, aber unter seinen Kolleginnen und Kollegen sehr geschätzt. Wird ihm eine jüngere Virtuosin vor die Nase gesetzt, nimmt er das diskussionslos hin, er spiele ja genauso gern die zweite Geige … Aber sein eigentliches geheimes Ziel ist ein eigenes Ensemble zu gründen, wo er genau die Musik spielen könnte, die ihm gefällt und mit der er experimentieren möchte. Dank seiner anspruchslosen Art hat man ihn schon in die Orchesterleitung gewählt, dort musste er sich unterordnen und wollte es allen recht machen. Zunehmend litt er unter seiner Arbeit und wurde depressiv, schliesslich tritt er aus dem Vorstand aus. Das war dann auch der «Beweis», dass ein eigenes Ensemble ein geheimer Traum bleiben sollte.
Doch das Bleistiftexperiment hat es ihm angetan. Er fand es so einleuchtend, wie Experimentieren Spass machen kann und er fühlte sich herausgefordert, es nochmals zu versuchen und nach Kolleginnen und Kollegen zu suchen, die sich ihm anschliessen könnten. Ein knappes Jahr später hatte sein neues Ensemble Premiere.

Die Übung

Versuchen Sie es einmal. Sie werden staunen, wie spielerisch ansteckend das ist, mit ihrem Stift auf Pultes Kante zu spielen. Spielen Sie vor und mit dem Patienten oder der Patientin. Testen Sie Ihre eigene Geschicklichkeit. So ein praktisches Experiment bringt eine neue Dimension in das meist stagnierende Gespräch, speziell wenn es um energielose depressive erlahmte Situationen geht.

Skill-Trainings

In der Skill-Training-Reihe von Primary and Hospital Care möchten wir einfache Kommunikationshilfen für den Alltag vorstellen, die jedem Hausarzt, jeder Hausärztin in der Sprechstunde helfen, die psychosomatisch-psychosoziale Achse näher zu verfolgen. Feedbacks und Fragen zu dieser Serie sind willkommen in der Kommentarfunktion unterhalb des Textes in der Online-Version des Artikels auf primary-hospital-care.ch.
2014 wurde bereits eine erste Serie des Skill-Trainings publiziert. Sie finden sie im Archiv (primary-hospital-care.ch/archiv), indem Sie in der Volltextsuche den ­Namen des Autors ­Pierre Loeb und «skill» eingeben.
Dr. med. Pierre Loeb
Facharzt für Allgemein­medizin FMH, Psycho­somatische Medizin SAPPM
Winkelriedplatz 4
CH-4053 Basel
loeb[at]hin.ch
1 Loeb P. Ambivalenz. PrimaryCare. 2014;14(05):80-81.
2 Loeb P. Vom Umgang mit Rückfällen. PrimaryCare. 2014;14(14):219
3 Loeb P. Kurzinterventionen und «harm reduction» bei risiko­reichem Alkoholkonsum. PrimaryCare. 2014;14(19):304
4 Loeb P. «Eu… di(e)s-(er) Stress!» Empowerment-Strategien bei Disstress. PrimaryCare. 2014;14(23):362.
Zu diesem Experiment habe ich keine weitere Literatur gefunden, jedoch zu Motivational Inteviewing gibt es sehr gutes Material, wie hier stellvertretend: Stephen Rollnick, Pip Mason, Chris Butler: Health Behaviour Change – a Guide for Practitioners, Churchill Livingstone, 1999.