Liraglutid bei Adipositas

Unter der Bezeichnung Saxenda® ist neu ein Liraglutid-Präparat zur adjuvanten Behandlung bei Übergewicht erhältlich.

Chemie/Pharmakologie

Liraglutid ist einer der GLP-1-Rezeptoragonisten, die zur parenteralen Behandlung des Typ-2-Diabetes verwendet werden können. Diese auch als Glutide bezeichneten Medikamente imitieren die Wirkung des «glucagon-like peptide type 1» (GLP-1), eines Inkretins, das bei Nahrungsaufnahme im Darm freigesetzt wird. GLP-1 bindet sich an Rezeptoren der Beta-Inselzellen im Pankreas, was zu einer Zunahme der Insulinsekretion führt. Die Glukagonsekretion wird reduziert und die Magenentleerung verlangsamt. Die gentechnologisch hergestellten Glutide stimmen in ihrer Polypeptid-Struktur teilweise mit dem menschlichen GLP-1 überein; bei Liraglutid wird mittels der Veresterung mit einer Fettsäurekette eine verlängerte Wirkungsdauer erreicht. Liraglutid führt häufig zu einer Abnahme des Körpergewichts; der Mechanismus dieser Wirkung ist nicht völlig geklärt.

Pharmakokinetik

Nach subkutaner Injektion erfolgt die Resorption von Liraglutid langsam; maximale Plasmaspiegel sind nach etwa 12 Stunden erreicht. Die Bioverfügbarkeit soll 55% betragen. Liraglutid wird ähnlich wie körpereigenes GLP-1 von Peptidasen abgebaut; nur kleine Mengen von Metaboliten sind im Urin und im Stuhl nachweisbar.(1) Die Plasmahalbwertszeit beträgt etwa 13 Stunden.(2)

 

Klinische Studien

Die Wirksamkeit von Liraglutid bei Übergewicht ist in mehreren Doppelblindstudien geprüft worden, die unter der Bezeichnung «SCALE» («Satiety and Clinical Adiposity – Liraglutide Evidence») liefen.

Die weitaus grösste dieser Studien wurde bei 3731 Personen (78% Frauen) mit einem BMI ≥30 kg/m2 oder einem BMI ≥27 kg/m2 in Kombination mit einer Hypertonie oder einer Hyperlipidämie durchgeführt. Zwei von drei wurden mit 3 mg Liraglutid (subkutan) täglich behandelt, die anderen erhielten eine entsprechende Placebo-Injektion. Alle wurden hinsichtlich einer hypokalorischen Ernährung und körperlicher Aktivität instruiert. Die aktiv Behandelten waren nach 56 Wochen durchschnittlich 8% leichter, diejenigen unter Placebo nur 2,6%. Bei Patientinnen und Patienten, die keinen Prädiabetes hatten, wurde die Studie nach 56 Wochen beendet; es folgte eine 12-wöchige Anschlussphase, während der ein Teil der Liraglutidgruppe randomisiert Placebo erhielt. Bei diesen Personen (die neu statt Liraglutid Placebo erhielten) stieg das Gewicht innert 12 Wochen wieder um knapp 3% an.(3)

61% der an dieser grossen Studie Teilnehmenden hatten einen Prädiabetes. Bei diesen wurde die Studie um zwei Jahre verlängert. Über drei Jahre konnten jedoch nur 791 Personen unter Liraglutid und 337 unter Placebo beobachtet werden, da rund die Hälfte der anfänglich Beteiligten die Studie vorzeitig abbrach. Gegenüber den Resultaten nach 56 Wochen war die Gewichtsabnahme nach 160 Wochen etwas geringer (6% unter Liraglutid gegenüber 2% unter Placebo). Unter Liraglutid wurde bei 2%, unter Placebo bei 6% ein Diabetes manifest. Zu den Personen, die vorzeitig ausgeschieden waren, wurden aber später keine Daten mehr erfasst.(4)

Eine andere SCALE-Studie wurde bei Diabeteskranken durchgeführt: 846 übergewichtige Personen (BMI ≥27 kg/m2) mit einem Typ-2-Diabetes (HbA1c zwischen 7 und 10) nahmen teil. Eine Tagesdosis von 3 mg Liraglutid wurde gegen die Dosis von 1,8 mg und gegen Placebo getestet. Unter 3 mg war die Gewichtsabnahme am grössten (6% nach 56 Wochen), mehr als unter 1,8 mg (4,7%) und unter Placebo (2%). Die höhere Liraglutid-Dosis ergab auch bei mehr Personen eine Abnahme von mindestens 5 oder 10 kg. 12 Wochen nach Absetzen der aktiven Medikation fand sich jedoch auch hier ein erneuter Gewichtsanstieg.(5)

An einer weiteren Studie nahmen Übergewichtige teil, die dank Diät und vermehrter körperlicher Aktivität innerhalb von 12 Wochen um wenigstens 5% abgenommen hatten. In dieser sogen. «Maintenance»-Studie erhielten 422 Personen für 56 Wochen entweder Liraglutid (3 mg/Tag s.c.) oder Placebo. Während unter Placebo nur knapp 50% ihr (reduziertes) Gewicht halten konnten, war dies in der Liraglutid-Gruppe bei rund 80% der Fall. Unter Liraglutid nahm zudem das Körpergewicht bis zum Studienende um durchschnittlich 6% ab.(6)

359 Übergewichtige mit einem obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom erhielten in einer 32-Wochen-Studie Liraglutid (3 mg/Tag) oder Placebo-Injektionen, wobei auch hier alle bezüglich Diät und körperlicher Aktivität instruiert wurden. Unter Liraglutid nahm der Apnoe-Hypopnoe-Index im Durchschnitt signifikant stärker ab (um 12 Ereignisse pro Stunde gegenüber einer Reduktion um 6 Ereignisse/Stunde unter Placebo). Ob diese Änderung einer klinisch bedeutsamen Verbesserung der Auswirkungen einer Schlafapnoe entspricht, ist jedoch nicht gesichert. Unter der aktiven Behandlung fand sich ferner das mittlere Körpergewicht stärker reduziert (um 5,7%) als unter Placebo (1,6%).(7)

In den genannten Studien ergab sich unter Liraglutid auch eine Senkung des Blutdrucks sowie (soweit überprüft) des HbA1c.

Unerwünschte Wirkungen

Liraglutid verursacht sehr häufig Übelkeit und Erbrechen; im Laufe einer längeren Behandlung nehmen diese Beschwerden teilweise ab. Andere gastro-intestinale Symptome (Obstipation oder Durchfall) sind ebenfalls häufig. In den SCALE-Studien sind unter Liraglutid 7 Fälle von akuter Pankreatitis beobachtet worden (unter Placebo: 1 Fall).(8) Unter der 3-mg-Dosis von Liraglutid wurden Gallenblasenerkrankungen zwei- bis dreimal häufiger als unter Placebo manifest.(8) Liraglutid kann zu einem Anstieg der Ruhe-Herzfrequenz führen. Lokale Hautreaktionen sind nicht selten. Ausserdem wurde über Schlafstörungen, Schwindel sowie erhöhte Lipase- und Amylasewerte berichtet. Die gastro-intestinalen Probleme können im Einzelfall zu relevanten Flüssigkeitsverlusten und deshalb auch zur Beeinträchtigung der Nierenfunktion führen. In den Studien wurde pro Jahr bei 3‰ der mit Liraglutid Behandelten ein Brustkrebs beobachtet.(8) Da das Krebsrisiko bei Übergewichtigen wohl allgemein höher liegt als in der Durchschnittsbevölkerung, kann dieser Befund nicht zuverlässig Liraglutid angelastet werden. Dies gilt auch für andere Malignome (Kolon, Schilddrüse), die unter Liraglutid häufiger als unter Placebo auftraten.

Interaktionen

Da Liraglutid die Magenentleerung verlangsamt, kann es eventuell die Resorption gleichzeitig eingenommener Medikamente beeinträchtigen. Es gibt aktuell keine Anhaltspunkte, dass das Medikament die Zytochrome beeinflusst. Sicherheitshalber soll dennoch die INR bei Personen, die mit Vitamin-K-Antagonisten antikoaguliert werden, zu Behandlungsbeginn engmaschig überprüft werden. Bei gleichzeitiger Verabreichung von Insulin oder Sulfonylharnstoffen erhöht Liraglutid möglicherweise das Hypoglykämie-Risiko.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Das Liraglutid-Präparat Saxenda® steht als Fertigpen mit 3 ml, die total 18 mg Liraglutid enthalten, zur Verfügung. Es ist zugelassen als Ergänzung «einer kalorienreduzierten Ernährung und verstärkter körperlicher Aktivität» bei übergewichtigen Erwachsenen (BMI ≥30 kg/m2 bzw. ≥27 kg pro m2, sofern zusätzliche Risiken wie Prädiabetes, Hypertonie oder Hyperlipidämie vorhanden sind).

Die Tagesdosis beträgt initial 0,6 mg (subkutan) und kann dann nach jeweils frühestens einer Woche um 0,6 mg gesteigert werden, bis die übliche Dosis von 3 mg/Tag erreicht ist. Liraglutid soll abgesetzt werden, wenn die Dosissteigerung zweimal nicht gut vertragen wird. Wenn nach 12 Wochen Behandlung mit täglich 3 mg nicht ein Gewichtsverlust von mindestens 5% erreicht worden ist, wird zum Absetzen des Präparates geraten. Dieses Präparat ist nicht zur Behandlung eines Diabetes gedacht und darf jedenfalls nicht mit einem anderen Glutid zusammen verwendet werden. Bei Kindern, Jugendlichen, schwangeren und stillenden Frauen sowie bei Personen mit fortgeschrittenen Funktionseinschränkungen von Leber oder Niere soll es nicht verwendet werden. Die monatlichen Kosten (für die Dosis von 3 mg/Tag) betragen ungefähr 350 Franken.

Kommentar

Mit nicht-medikamentösen Massnahmen, Programmen, die zu einer starken Veränderung der Lebensweise führen, kann das Körpergewicht zwar nicht dramatisch, aber doch recht nachhaltig gesenkt und so einem Diabetes vorbeugt werden.(9,10) Auch mit Metformin (Glucophage® u.a.) lässt sich eine Gewichtsreduktion von 5 oder mehr Prozent und eine entsprechende Verminderung des Diabetesrisikos erreichen.(9) Liraglutid ist aber nur mit Placebo verglichen worden – die begleitenden Empfehlungen (für alle Studienteilnehmenden) zur Kalorienreduktion und vermehrter körperlicher Aktivität können nicht als intensive Intervention bezeichnet werden. Damit fehlen uns für die neue Option, die nach aktuellem Wissen offensichtlich mehr unerwünschte Wirkungen hat als z.B. Metformin, die notwendigen Vergleichsdaten. Lohnt es sich, ein weniger gut verträgliches, mehr als 20mal teureres Medikament anzuwenden, um das Gewicht vielleicht 1-2% stärker zu senken? Trifft es überhaupt zu, dass man mit Liraglutid langfristig mehr als mit Metformin erreicht? Wir wissen es nicht.

Standpunkte und Meinungen

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Liraglutid bei Adipositas (7. Juli 2017)
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pharma-kritik, 39/No. 4
PK1022
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