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Der Vorrang der Individualabrede

von Theresa Bauerdick (Autor:in)
©2022 Dissertation 300 Seiten

Zusammenfassung

Im Rechtsverkehr können zwischen den individuell ausgehandelten Abreden und den Allgemeinen Geschäftsbedingungen Widersprüche auftreten. In dieser Situation weist § 305b BGB den Individualabreden den Vorrang zu. Die Autorin untersucht umfassend die dogmatischen Grundlagen, den Tatbestand und die Rechtsfolgen dieses Vorrangprinzips unter Berücksichtigung der europäischen Einflüsse im Primär- und Sekundärrecht. Die Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass § 305b BGB das funktionale Rangverhältnis zwischen Individualabreden und Allgemeinen Geschäftsbedingungen zum Ausdruck bringt. Von seiner Rechtsnatur ist das Vorrangprinzip als negative Einbeziehungsvoraussetzung einzuordnen. § 305b BGB verhindert daher, dass die kollidierenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen zum Vertragsbestandteil werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright Page
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Problemstellung
  • II. Gang der Bearbeitung
  • B. Historische Entwicklung
  • I. Monografie von Ludwig Raiser
  • II. Frühere Rechtsprechung
  • 1. Rechtsprechung des Reichsgerichts
  • 2. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
  • III. Kodifikation des Vorrangprinzips
  • 1. Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung
  • a) Erster Teilbericht der Arbeitsgruppe beim Bundesminister der Justiz
  • b) Referentenentwurf eines Gesetzes über Allgemeine Geschäftsbedingungen
  • c) Gesetzesentwurf der Bundesregierung
  • 2. Der Gesetzesentwurf der CDU/​CSU-​Fraktion
  • a) Gesetzentwurf des Bundesarbeitskreises Christlich-​Demokratischer Juristen
  • b) Gesetzesentwurf der CDU/​CSU-​Fraktion
  • 3. Die parlamentarischen Beratungen im Bundestag
  • a) Die erste Lesung der Gesetzesentwürfe
  • b) Die Beratungen im Rechtsausschuss
  • 4. Der Gesetzesbeschluss des Bundestages
  • 5. Schuldrechtsmodernisierungsgesetz
  • 6. Bedeutung und Bewertung der Kodifikation
  • 7. Zusammenfassung
  • C. Grundlagen des Vorrangprinzips
  • I. Funktionales Rangverhältnis
  • 1. Rechtsnatur Allgemeiner Geschäftsbedingungen
  • a) Normentheorie
  • b) Die Vorzugswürdigkeit der Vertragstheorie
  • 2. Unterschiedliches Zustandekommen von Individualabrede und Allgemeiner Geschäftsbedingung
  • a) „Aushandeln“ als Ausdruck beidseitiger Vertragsfreiheit
  • b) „Stellen“ als Ausdruck einseitiger Vertragsfreiheit
  • 3. Zusammenfassung
  • II. Rechtsnatur des § 305b BGB
  • 1. Analyse der dogmatischen Ansätze
  • a) Kollisionsregel eigener Art
  • b) Ausdruck des Spezialitätsgrundsatzes
  • (1) Inhaltliche Spezialität
  • (2) Vertragliche und wirtschaftliche Funktion der Individualabrede
  • c) Ausdruck des Verbots „venire contra factum proprium“
  • d) Auslegungsregel
  • (1) Auslegung der Einbeziehungs-​ oder Individualabrede
  • (2) Inhalt und Geltungsanspruch der AllgemeinenGeschäftsbedingungen
  • e) Negative Einbeziehungsvoraussetzung
  • 2. Vereinbarkeit mit der Richtlinie 93/​13 EWG
  • a) Keine Änderung durch die Verbraucherrechterichtlinie
  • b) Anwendungsbereich der Klauselrichtlinie
  • c) Keine § 305b BGB entsprechende Regelung
  • d) Indirekte Ableitung des Vorrangprinzips
  • (1) Art. 4 Abs. 1 der Klauselrichtlinie
  • (2) Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 der Klauselrichtlinie
  • (3) Anhang der Klauselrichtlinie gemäß Art. 3 Abs. 3
  • (a) Nr. 1 lit. j, k
  • (b) Nr. 1 lit. n
  • e) Kein Ausschluss der Regelung der Einbeziehungsfrage
  • 3. Zusammenfassung
  • III. Verhältnis zu den anderen AGB-​Vorschriften
  • 1. Abgrenzung zu §§ 305 Abs. 2, 3, 305a BGB
  • 2. Abgrenzung zu § 305c Abs. 1 BGB
  • 3. Abgrenzung zu § 305c Abs. 2 BGB
  • 4. Abgrenzung zu §§ 307–​309 BGB
  • a) Verhältnis von Einbeziehungs-​ und Inhaltskontrolle
  • b) Tendenziell individualvertragswidrige Klauseln
  • IV. Auswirkungen auf die Prüfung der §§ 305 ff. BGB
  • D. Tatbestand des § 305b BGB
  • I. Abdingbarkeit des § 305b BGB
  • 1. Durch Allgemeine Geschäftsbedingungen
  • 2. Durch Individualabreden
  • II. Vorliegen einer Individualabrede
  • 1. Begriffsbestimmung
  • a) Anwendung der Grundsätze zu § 305 Abs. 1 S. 3 BGB
  • (1) Bedeutung des § 305 Abs. 1 S. 3 BGB
  • (2) Begriff des „Aushandelns“
  • b) Jede „spezielle“ Vereinbarung
  • c) Jede „verhandelte“ Vereinbarung
  • d) Negative Abgrenzung zu § 305 Abs. 1 S. 1 BGB
  • e) Stellungnahme
  • 2. Sonderfälle
  • a) Individuelle Zusätze und Streichungen im vorformulierten Text
  • b) Vertragsangebote
  • c) Sonstige einseitige Willenserklärungen und Rechtshandlungen
  • III. Wirksamkeit der Vertragsbestandteile
  • 1. Individualabrede
  • 2. Allgemeine Geschäftsbedingung
  • IV. Form der Individualabrede
  • 1. Schriftformklauseln
  • a) Individualvertragliche Schriftformklausel
  • (1) Einfache Schriftformklauseln
  • (2) Doppelte Schriftformklausel
  • b) Formularvertragliche Schriftformklauseln
  • (1) Historischer Hintergrund
  • (2) Meinungsstand im Schrifttum
  • (3) „Einfache“ Schriftformklausel
  • (4) „Doppelte“ Schriftformklausel
  • (5) Bestätigungsklauseln
  • c) Zusammenfassung
  • 2. Vollständigkeitsklauseln
  • 3. Beschränkungen der Vertretungsmacht
  • V. Inhaltliche Abweichung zwischen Allgemeiner Geschäftsbedingung und Individualabrede
  • 1. Auslegung der Individualabrede
  • a) Grundsätzliches
  • b) Individualabredekonkretisierende Funktion von Allgemeinen Geschäftsbedingungen
  • 2. Auslegung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen
  • a) Grundsatz der objektiven Auslegung
  • b) Auslegungsmittel und -​maßstab
  • c) Vorrang eines übereinstimmenden Parteiwillens
  • d) Die individualvertragskonforme Auslegung
  • 3. Feststellung des Widerspruchs
  • a) Unmittelbarer Widerspruch
  • b) Mittelbarer Widerspruch
  • c) Die Erweiterung des Funktionsbereichs des Individualvertrags
  • d) Anwendung zugunsten des Verwenders
  • (1) Keine teleologische Reduktion des § 305b BGB
  • (2) Aufklärungspflicht des Verwenders
  • 4. Zeitpunkt des Widerspruchs
  • a) Vor bzw. bei Vertragsschluss geschlossene Individualabrede
  • b) Nachträgliche Einbringung der Individualabrede
  • (1) Anwendung des § 305b BGB
  • (2) Anwendung des § 305 Abs. 1 S. 3 BGB
  • c) Nachträgliche Einbringung bzw. Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingung
  • 5. Zusammenfassung
  • VI. Erweiterung des Tatbestands
  • 1. Kollision von Allgemeinen Geschäftsbedingungen
  • 2. Kollision von Beschaffenheitsvereinbarung und Gewährleistungsausschluss
  • a) Individualvertragliche Beschaffenheitsvereinbarung und individualvertraglicher Gewährleistungsausschluss
  • (1) Wirksamkeit des Haftungsausschlusses bei gleichzeitiger Vereinbarung einer Beschaffenheit
  • (2) Auslegung des Haftungsausschlusses
  • b) Individualvertragliche Beschaffenheitsvereinbarung und formularvertraglicher Gewährleistungsausschluss
  • 3. Formularvertragliche Beschaffenheitsangabe und kaufrechtliche Beschaffenheitsfiktion
  • a) Beschaffenheitsfiktion als Individualabrede
  • b) Vorrang kraft gesetzlicher Fiktion des § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, S. 3 BGB
  • E. Rechtsfolgen und prozessuale Geltendmachung
  • I. Auswirkungen auf die Allgemeinen Geschäftsbedingungen
  • 1. Subsidiäre Fortgeltung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen
  • 2. Nichteinbeziehung der Allgemeinen Geschäftsbedingung
  • 3. Differenzierende Betrachtung bei Vorliegen eines „Wiederauflebewillens“
  • 4. Anwendung des § 306 Abs. 2, 3 BGB
  • II. Prozessuale Geltendmachung
  • 1. Individualprozess
  • 2. Verbandsklage gemäß § 1 UKlaG
  • a) Keine direkte Anwendbarkeit des § 305b BGB
  • b) Verknüpfung des § 305b BGB mit § 1 UKlaG
  • F. Besondere Sachprobleme
  • I. Verträge im unternehmerischen Verkehr
  • 1. Anwendung des § 305b BGB im Rahmen des § 310 Abs. 1 S. 1 BGB
  • 2. Begriff der Individualabrede i. S. d. § 305 Abs. 1 S. 3 BGB
  • a) „Verhandeln“ statt „Aushandeln“
  • b) Entwicklung eines Kriterienkatalogs
  • c) Feste Wertgrenzen
  • d) Individualvertraglicher Verzicht
  • e) Ergänzung des § 305 Abs. 1 BGB um einen Satz 4 und Satz 5
  • f) Stellungnahme
  • (1) De lege lata
  • (2) De lege ferenda
  • 3. Das kaufmännische Bestätigungsschreiben
  • a) Dogmatische Einordnung
  • b) Voraussetzungen
  • c) Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen
  • d) Kollision mit einer widersprechenden Individualabrede
  • (1) Kollision im kaufmännischen Bestätigungsschreiben
  • (2) Individualabrede nicht im kaufmännischen Bestätigungsschreiben enthalten
  • II. Verbraucherverträge i. S. d. § 310 Abs. 3 BGB
  • 1. Standardverträge gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB
  • 2. Einmalbedingungen gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB
  • a) Kollision von Individualabrede und Einmalbedingung
  • b) Richtlinienkonforme Auslegung des § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB
  • c) Grundsätze der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre
  • III. Bereichsausnahme gemäß § 310 Abs. 4 S. 1 BGB
  • IV. Das Vorrangprinzip im Arbeitsrecht
  • 1. Besonderheiten des Arbeitsrechts gemäß § 310 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 BGB
  • a) Grundsätzliches Verhältnis zu § 305b BGB
  • b) Verhältnis des § 305b BGB zum Günstigkeitsprinzip
  • c) Anwendung des § 305b BGB allein zugunsten des Arbeitnehmers
  • 2. Schriftformklauseln
  • a) § 2 NachwG
  • b) Anwendung zugunsten des Arbeitgebers
  • c) Verhältnis zur betrieblichen Übung
  • (1) Dogmatischer Hintergrund
  • (2) Individualabrede i. S. d. § 305 b BGB
  • (a) Meinungsstand im Schrifttum
  • (b) Stellungnahme
  • (c) Individualübung
  • (3) Inhaltliche Wirksamkeit gemäß §§ 307–​309 BGB
  • (a) § 307 Abs. 3 S. 1 BGB
  • (b) § 309 Nr. 13 BGB
  • (c) § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB
  • (d) § 307 Abs. 1 S. 2 BGB
  • (e) § 307 Abs. 1 S. 1 BGB
  • (4) Formulierungsvorschlag
  • d) Freiwilligkeitsvorbehalte
  • G. Fazit und Schlussbetrachtung
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis

←16 | 17→

A. Einleitung

Allgemeine Geschäftsbedingungen i.S.d. § 305 Abs. 1 S. 1 BGB sind in einer marktwirtschaftlich organisierten und hochtechnisierten Industriegesellschaft weit verbreitet. Um nicht jeden Vertrag einzeln aushandeln zu müssen, ist dazu übergegangen worden, gleichbleibende Vertragsbedingungen im Vorfeld zu formulieren und sie dem jeweiligen Einzelvertrag zugrunde zu legen. Dergestalt rationalisieren und vereinfachen Allgemeine Geschäftsbedingungen die Geschäftsabwicklung, spezialisieren die oftmals unzureichenden gesetzlichen Bestimmungen und dienen nicht zuletzt als Mittel zur Verlagerung von Risiken, die mit der Vertragsdurchführung verbunden sind.1 Infolgedessen haben sie in weiten Teilen der Industrie, des Handels sowie des Dienstleistungsgewerbes den vom bürgerlichen Vertragsrecht vorausgesetzten Typ des individuell zwischen den Parteien vereinbarten und ausgehandelten Vertrags verdrängt.2

I. Problemstellung

Allerdings erschöpft sich auch der Inhalt eines Formularvertrags in der Regel nicht ausschließlich in den darin enthaltenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die vorformulierten Verträge sind vielmehr auf eine Ergänzung durch individuelle Absprachen angelegt. Lücken weisen sie insbesondere für die nähere Bestimmung des Leistungsgegenstands sowie des hierfür zu entrichtenden Preises auf.3 Darüber hinaus können die Vertragsparteien besondere Absprachen treffen, mit deren Hilfe bestimmte Einzelpunkte abweichend vom vorformulierten Klauseltext geregelt werden sollen.4 Denn der Vertragspartner hat bei Vertragsabschluss ein signifikantes Interesse daran, einzelne ihm nachteilige und daher unliebsame Regelungen in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Verwenders individualvertraglich abzuändern. Schließlich ist denkbar, dass die Vertragsparteien nachträglich, das heißt erst im laufenden Vertragsverhältnis, von den einbezogenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen abweichende ←17 | 18→mündliche oder schriftliche Individualvereinbarungen treffen, die zu einer Änderung des ursprünglichen Vertragsinhalts führen sollen.5

Die zwischen den Vertragsparteien getroffenen Vereinbarungen sind daher häufig eine Kombination von individuellen und formularvertraglichen Regelungen. Bei Abschluss der individuellen Abreden verzichten die Vertragsparteien allerdings zumeist darauf, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf inhaltliche Widersprüche zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen.6 Neben angemessener Zeit fehlt es ihnen in der Regel auch an der notwendigen Rechts- und Geschäftskunde, das individuell Vereinbarte rechtlich richtig zu qualifizieren und in das vorformulierte Regelwerk einzuordnen.7 Treffen die Vertragsparteien erst nach dem ursprünglichen Vertragsschluss weitere (Änderungs-)Vereinbarungen, denken sie darüber hinaus oft einfach nicht mehr an die entgegenstehenden Klauseln in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen.8

Infolgedessen steht im Rechtsverkehr oftmals eine individuell von den Parteien getroffene Abrede mit einer Allgemeinen Geschäftsbedingung des Verwenders in Widerspruch. Lässt sich diese Kollision nicht mithilfe der allgemeinen Auslegungsgrundsätze auflösen, liegen hinsichtlich des betroffenen Regelungsgegenstands zwei sich inhaltlich widersprechende Konsense vor. Die Vertragsparteien scheinen sich sowohl auf die individuell getroffene Abrede als auch auf die entsprechende vorformulierte Klausel in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen geeinigt zu haben. Nach den Grundsätzen der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre hätte dies eigentlich zur Folge, dass die Individualabrede sowie die Allgemeine Geschäftsbedingung hinsichtlich des sich überschneidenden Teils aufgrund von Perplexität unwirksam sind.9

Handelt es sich bei dem betroffenen Regelungsgegenstand um eine wesentliche Vertragsbedingung, käme der Vertrag dementsprechend insgesamt nicht zustande. Betrifft der widersprüchliche Vertragsinhalt eine Nebenabrede, läge hingegen ein versteckter Dissens i.S.d. § 155 BGB vor, wenn den Vertragsparteien der Widerspruch zwischen der Individualabrede und den Allgemeinen ←18 | 19→Geschäftsbedingungen, wie üblich, unbekannt geblieben ist. Der übrige Vertrag bliebe damit zwar als solcher wirksam, sofern anzunehmen ist, dass die Parteien ihn auch ohne Einigung über den widersprüchlichen, das heißt nichtigen, Punkt geschlossen hätten. Die im Vertrag entstandene Lücke müsste allerdings entgegen dem erklärten Parteiwillen durch das dispositive Gesetzesrecht geschlossen werden.

Da dies von den Vertragsparteien im Regelfall nicht gewollt ist, hilft ihnen das Gesetz an dieser Stelle weiter und weist der Individualabrede gemäß § 305b BGB den Vorrang vor der kollidierenden Allgemeinen Geschäftsbedingung zu. Die Vorschrift ist die am kürzesten gefasste Norm im Abschnitt über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen und scheint auf den ersten Blick völlig klar und eindeutig zu sein. Es vermag daher nicht zu überraschen, dass in dem dort kodifizierten Vorrangprinzip vereinzelt eine bloße Selbstverständlichkeit gesehen wird, die kaum Erwähnung verdiene.10 Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch bis heute sowohl hinsichtlich der dogmatischen Grundlagen als auch rechtlichen Handhabung des § 305b BGB erhebliche Problematiken. Denn während es zu Schriftformklauseln, also einer Teilfrage des Tatbestands von § 305b BGB, eine Vielzahl an Äußerungen gibt,11 sind zum Vorrangprinzip selbst, neben den einschlägigen Kommentaren, nur wenige Beiträge erschienen. Es fehlt daher gegenwärtig, soweit ersichtlich, eine umfassende wissenschaftliche Betrachtung bezüglich der Beweggründe des Gesetzgebers für die gewählte Regelungstechnik und die inhaltlichen Anforderungen, die an eine nach § 305b BGB vorrangige Individualabrede zu stellen sind.

Zentraler Gegenstand der vorliegenden Arbeit soll demgemäß die Frage sein, wann und unter welchen Voraussetzungen Individualabreden tatsächlich ein „Vorrang“ einzuräumen ist. Ziel ist es, die Vielzahl an Einzelfallentscheidungen und verschiedenen Literaturansichten zu durchdringen und sich auf diesem Weg einer einheitlichen Handhabung des Vorrangprinzips zu nähern, unter die jegliche relevanten Fallgestaltungen gefasst werden können. Obwohl der Streit um die Interpretation des Vorrangprinzips und seines Anwendungsbereichs ←19 | 20→mittlerweile schon einige Jahrzehnte andauert, hat sich an seiner Brisanz und Aktualität nichts geändert. Neben den bislang ungeklärten Rechtsfragen lassen vor allem neue Aspekte in der Praxis sowie der europäischen Gesetzgebung eine Auseinandersetzung mit § 305b BGB selbst 40 Jahre nach seiner Einführung in der inhaltsgleichen Vorschrift des § 4 AGBG12 gerechtfertigt erscheinen.

Die Analyse beschränkt sich dabei auf das deutsche AGB-Recht in den §§ 305 ff. BGB13 unter Berücksichtigung der europäischen Einflüsse im Primär- und Sekundärrecht. An dieser Stelle soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass Europäische Impulse für die Entwicklung des Privatrechts inzwischen nicht mehr nur vom Primär- und Sekundärrecht der Europäischen Union ausgehen. So ist z.B. aufgrund der vielfältigen Regelungen auf dem Gebiet des Privatrechts durch europäische Richtlinien in den letzten Jahrzehnten die Idee eines europaeinheitlichen Zivilgesetzbuchs entstanden. Mithilfe europäischer Förderung und aus akademischer Motivation heraus haben sich Arbeitsgemeinschaften gebildet, die an seiner Entwicklung arbeiten und bereits entsprechende Entwürfe vorgelegt haben.14 Auch das in der vorliegenden Arbeit thematisierte Vorrangprinzip wurde darin immer wieder aufgegriffen und fand u.a. in Art. 5:104 PECL15 sowie wortgleich in Art. 6:202 der Acquis Principles (Contract I)16 und unter dem Abschnitt „Vertragsauslegung“ in Art. II. – 8:104 DCFR17 eine ausdrückliche Regelung. Danach haben individuell ausgehandelte Bestimmungen ebenfalls Vorrang vor solchen, die nicht individuell ausgehandelt sind. Weiterhin ←20 | 21→wurde das Vorrangprinzip mit unterschiedlichen Formulierungsvorschlägen in Art. 2.1.2118 der UNIDROIT-Prinzipien19 und Art. 6220 des Vorschlags für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht21 aufgenommen.

Angesichts der weltweit differenten Rechtssysteme und Rechtstraditionen bestehen überdies auch auf dem Gebiet des internationalen Handelsrechts deutliche Bestrebungen, die einzelnen Regelungen zu vereinheitlichen. Anders als die europäischen Entwürfe sieht das UN-Kaufrecht22 eine ausdrückliche Normierung des Vorrangprinzips allerdings nicht vor. Doch soll es dort im Ergebnis ebenfalls unbestritten sein, dass den Individualabreden ein Vorrang vor kollidierenden AGB-Klauseln einzuräumen ist.23 Im Wege der Auslegung sei aus dem vermuteten Willen der Parteien herzuleiten, dass die Vertragsparteien mit ihrer individuellen Vereinbarung in der Regel von der widersprechenden AGB-Klausel abweichen wollen.24

II. Gang der Bearbeitung

Im ersten Schritt der Arbeit wird die seit fast einhundert Jahren andauernde Diskussion und historische Entwicklung des Vorrangprinzips, die schließlich in ←21 | 22→der Kodifikation des § 4 AGBG (heute § 305b BGB) mündete, vorgestellt (B.). Im Anschluss daran folgt eine Bestandsaufnahme und Analyse der dogmatischen Bestimmungsansätze zur Einordnung des Vorrangprinzips in das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (C.). Dies dient zum einen der Beantwortung der Frage, ob es sich dabei tatsächlich um ein dogmatisch einheitliches Rechtsinstitut handelt, zum anderen können so die wesentlichen dogmatischen Kernfragen dieses Kontrollinstituts ermittelt werden. Hierzu ist zunächst das grundsätzliche Verhältnis von Individualabrede und Allgemeiner Geschäftsbedingung zu untersuchen. Es bedarf der Klärung, warum der Individualabrede abweichend von den Grundsätzen der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre ein „Vorrang“ vor den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einzuräumen ist und wie dies von § 305b BGB sichergestellt werden kann.

Maßgebend dafür ist insbesondere die der Vorschrift zugrunde liegende Rechtsnatur. Ihre Bestimmung bildet gleichzeitig die Vorfrage aller sich im Anschluss weiter stellenden Rechtsfragen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass auch dem europäischen Richtlinienrecht maßgeblicher Einfluss auf die mitgliedstaatliche und damit deutsche Gesetzgebung zukommt. Relevanz für die vorliegende Arbeit hat vornehmlich die Richtlinie 93/13/EWG25. Zwar sieht diese eine ausdrückliche Regelung für den vorliegend zu untersuchenden Grundsatz vom Vorrang der Individualabrede nicht vor, dennoch ist nicht auszuschließen, dass sich aus dem Kontext der Klauselrichtlinie gewisse Mindestanforderungen ergeben, die es im Rahmen des § 305b BGB zu berücksichtigen gilt. Die für das nationale Recht gefundenen Ergebnisse müssen folglich auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben der Richtlinie 93/13/EWG untersucht werden. Abschließend werden das Konkurrenzverhältnis von § 305b BGB zu den anderen AGB-rechtlichen Normen und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Prüfung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen herausgearbeitet.

Darauf aufbauend wird der Tatbestand von § 305b BGB untersucht und werden die wesentlichen Kriterien bestimmt, anhand derer der Vorrang einer Individualabrede festgestellt werden kann (D.). Ein Schwerpunkt liegt dabei in der Bestimmung des Begriffs der „Individualabrede“ i.S.d. § 305b BGB. Ferner ist zu überlegen, ob die bis dahin herausgearbeiteten Grundsätze über den allgemeinen Anwendungsbereich des § 305b BGB hinaus auf andere Kollisionsfälle angewendet werden können. Widersprüche treten nämlich nicht nur im Verhältnis zwischen AGB-Klauseln und Individualabreden auf, sondern sind ←22 | 23→auch zwischen einzelnen vorformulierten Teilen des Vertrags denkbar. Ob in dieser Situation – mit Ausnahme der auf Aufstellungs- und Formulierungsmängeln beruhenden Widersprüche, die mithilfe der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB zu lösen sind26 – zur Auflösung der Kollision zweier Allgemeiner Geschäftsbedingungen auf die Grundsätze des § 305b BGB zurückgegriffen werden kann, wird in Literatur und Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt und ist daher näher zu untersuchen.

Darüber hinaus ist zu prüfen, in welchem Verhältnis formular- und individualvertragliche Beschaffenheitsvereinbarungen i.S.d. § 434 Abs. 1 S. 1 BGB zu Gewährleistungsausschlüssen und das Vorrangprinzip in § 305b BGB zu gesetzlichen Fiktionen, wie in § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und S. 3 BGB stehen. Insbesondere ist zu klären, ob sich die kaufrechtlichen Beschaffenheitsfiktionen auch gegenüber solchen vorformulierten Beschaffenheitsangaben durchsetzen, mit deren Hilfe das gesetzlich vorgesehene Schutzniveau herabgesetzt werden soll. Im Anschluss daran erfolgt eine Analyse, welche Rechtsfolgen ein Verstoß gegen das Vorrangprinzip in § 305b BGB mit sich bringt und wie diese prozessual geltend gemacht werden können (E.).

Nach Ermittlung der allgemeinen Prüfungskriterien und Rechtsfolgen des Vorrangprinzips ist schließlich zu erörtern, ob diese im Anwendungsbereich des § 310 BGB, der in bestimmten Teil- und Spezialbereichen Sonderbestimmungen für die Anwendung der §§ 305 ff. BGB enthält, zu modifizieren sind (F.). § 310 Abs. 1 BGB regelt dabei zunächst die Anwendung des AGB-Rechts auf Unternehmer. In diesem Zusammenhang ist zu überprüfen, ob die Anforderungen an das Vorliegen einer Individualabrede aufgrund der unternehmerischen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung herabzusetzen sind. Daneben bereitet im Hinblick auf das Vorrangprinzip insbesondere der Vertragsschlussmechanismus mithilfe des sog. kaufmännischen Bestätigungsschreibens Probleme. Zu klären ist, in welchem Verhältnis Individualabreden zu derartigen inhaltlich kollidierenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen stehen, die mithilfe eines konstitutiven kaufmännischen Bestätigungsschreibens einbezogen werden sollen. Darüber hinaus sieht § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB keine Verweisung auf § 305b BGB vor. Fraglich ist, welche Bedeutung dies für die Anwendung des Vorrangprinzips auf Einmalbedingungen im Rahmen von Verbraucherverträgen hat.

Schließlich kommt auch dem Arbeitsrecht seit jeher eine Sonderstellung bei der AGB-Kontrolle zu. Zwar ist die Kontrolle von Allgemeinen Arbeitsbedingungen ←23 | 24→mittlerweile den §§ 305 ff. BGB unterstellt. Dessen ungeachtet sieht das Gesetz in § 310 Abs. 4 S. 2 BGB vor, dass die Besonderheiten des Arbeitsrechts bei der Anwendung dieser Vorschriften zu berücksichtigen sind. Ob sich daraus möglicherweise Modifikationen des Vorrangprinzips ergeben, bedarf im letzten Teil der vorliegenden Arbeit ebenfalls einer eingehenden Betrachtung. Dabei steht insbesondere das Verhältnis des Vorrangprinzips zum Günstigkeitsprinzip sowie seiner Anwendbarkeit zugunsten des Arbeitgebers im Mittelpunkt. Ferner ist zu erörtern, ob die betriebliche Übung als Individualabrede i.S.d. § 305b BGB einzuordnen ist und welche Auswirkungen dies auf die Verwendung von formularvertraglichen Schriftformklauseln hat, mit deren Hilfe das Entstehen einer betrieblichen Übung von vornherein verhindert werden soll.

1 Wolf/Neuner, BGB AT, § 47 Rn. 2 f.; Teske, Schriftformklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 23.

2 BT-Drucksache 7/3919, S. 9; vgl. auch Wendland in: Staudinger/Eckpfeiler, Kap. E Rn. 1.

3 Ghassemi-Tabar in: Gewerberaummiete/BGB, § 305b Rn. 1; Lehmann-Richter in: BeckOGK/BGB, § 305b Rn. 2; Stoffels, AGB-Recht, Rn. 344.

4 Stoffels, AGB-Recht, Rn. 344.

5 Ghassemi-Tabar in: Gewerberaummiete/BGB, § 305b Rn. 1.

6 Vgl. Schulte-Nölke in: HK/BGB, § 305b Rn. 1.

7 Basedow in: MüKo/BGB, § 305b Rn. 1; Locher, Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 49.

8 Stoffels, AGB-Recht, Rn. 344.

9 A. Stein, AGB-Gesetz, § 4 AGBG Rn. 1; Böhle, JuS 2019, S. 523 (526); zur Nichtigkeit von zwei gleichrangigen und in unlösbarem Widerspruch stehenden Bestimmungen, vgl. OLG Hamburg v. 29.1.1997, ZMR 1997, S. 350 (350 f.); zur Auslegungsfähigkeit widersprüchlicher Willenserklärungen, vgl. Arnold in: Erman/BGB, § 133 Rn. 13.

10 Vgl. etwa Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Erster Teilbericht, S. 49; BT-Drucksache 7/3919, S. 20; H. Schmidt in: BeckOK/BGB, § 305b Rn. 1; Thamm/Pilger, Taschenkommentar zum AGBG, § 4 AGBG Rn. 1; Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen, S. 402.

11 Vgl. etwa nur Teske, Schriftformklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen; Körnig, Schriftformklausel und mündliche Abreden: ein Beitrag zu § 125 Satz 2 BGB; Breitling, Bedeutung und Wirkung von Schriftformklauseln.

12 Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen vom 9.12.1976, BGBl. I, S. 3317.

13 Zur Sondervorschrift des § 5 VVG im Versicherungsrecht, vgl. Ulmer/Schäfer in: Ulmer/Brandner/Hensen, § 305b BGB Rn. 18; Schlosser in: Staudinger/BGB, 2013, § 305b Rn. 34; Mäsch in: Staudinger/BGB, 2019, § 305b Rn. 16; Lindacher/Hau in: Wolf/Lindacher/Pfeiffer, § 305b Rn. 13; Reiff in: MüKo/VVG, 50. Allgemeine Ver- sicherungsbedingungen Rn. 106 ff.; Kummer in: Niebling/AGB-Recht, § 305b Rn. 47.

14 Ausführlich dazu Spruß, Die Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen, S. 483 ff.; Arnold, Zum Verhältnis von Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und europäischem Vertragsrecht, S. 1 ff.; Pfeiffer, ZEuP 2008, S. 679 ff.; Sirena, ZEuP 2018, S. 838 ff.; Martens, EuZW 2010, S. 527 ff.; Meyer, BB 2004, S. 1285 ff.; Mittwoch, JuS 2010, S. 767 ff.; Taupitz/Wille, JA 2005, S. 385 ff.

15 Vgl. Lando/Beale, Principles of European Contract Law, S. 295.

16 Research Group on Existing EC Private Law (Acquis Group), Principles of the Existing EC Contract Law (Acquis-Principles), Contract I: pre-contractual obligations, conclusion of contract, unfair terms, abgedruckt in: ZEuP 2007, S. 896 ff., 1152 ff.

17 Abgedruckt in: Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law, S. 217.

18 Art. 2.1.21 der UNIDROIT-Prinzipien lautet: „Im Falle eines Widerspruchs zwischen einer allgemeinen Geschäftsbedingung und einer Bedingung, welche keine allgemeine Geschäftsbedingung ist, geht die letztere vor.“

19 UNIDROIT, Principles of International Commercial Contracts, 2004, abgedruckt in: ZEuP 2005, S. 470 ff.; ausführlich dazu auch Spruß, Die Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen, S. 584 f.

Details

Seiten
300
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631860595
ISBN (ePUB)
9783631860601
ISBN (Hardcover)
9783631849125
DOI
10.3726/b19145
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Oktober)
Schlagworte
Funktionales Rangverhältnis Widerspruch Negative Einbeziehungsvoraussetzung Einmalbedingungen Unternehmer Zeitpunkt Günstigkeitsprinzip Richtlinie 93/13/EWG
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 300 S.

Biographische Angaben

Theresa Bauerdick (Autor:in)

Theresa Bauerdick studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und Brighton, East Sussex, Großbritannien. Sie ist als Rechtsanwältin in München tätig.

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Titel: Der Vorrang der Individualabrede
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