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Schreibratgeber für die Hochschule

Eine Buchsorte zwischen Wissenschaft und Markt

von Katrin Burkhalter (Band-Herausgeber:in) Bernadette Rieder (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 360 Seiten

Zusammenfassung

Schreibratgeber für die Hochschule sind eine prosperierende, schreibwissenschaftlich aber umstrittene Buchsorte. Dieser Band unternimmt eine Gegenstandsbestimmung und diskutiert Grenzen und Potenzial von Schreibratgebern aus den Perspektiven von Wissenschaft und Markt: Er umfasst schreibwissenschaftliche Untersuchungen einerseits und Erfahrungsberichte entlang der Produktionskette der Ware Schreibratgeber andererseits. Diese Verknüpfung ist erhellend, da die wissenschaftliche Diskussion über den Gegenstand Schreibratgeber erst beginnt und damit auch auf Impulse aus der Praxis angewiesen ist. Der Band zeigt auf, inwiefern Schreibratgeber die Erkenntnisse der Schreibwissenschaft berücksichtigen und welchen Stellenwert sie in der Vermittlung von Schreibkompetenz an der Hochschule innehaben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Table of Contents
  • Warum uns Schreibratgeber interessieren (müssen)
  • Sektion I Der Forschungsgegenstand Schreibratgeber: Schreibwissenschaftliche Annäherungen
  • Ratgeber als Genre – auf Papier und digital Textuelle und sprachliche Merkmale von Schreibratgebern (Otto Kruse)
  • Ratgeberliteratur als Spiegel der forschenden Schreibdidaktik Themen, Didaktik und Wissenschaftlichkeit zwischen 1990 und 2020 (Cristina Loesch)
  • Wie viel Schreibwissenschaft steckt in Schreibratgebern? Konstruktionen von Schreiben, Schreibentwicklung und didaktischen Genres (Anika Limburg)
  • Wer berät wen wozu und auf welcher Grundlage? Zur Kommunikationssituation und wissenschaftlichen Fundierung von Schreibratgebern (Sarah Brommer)
  • Verständlichkeit, Attraktivität und Redlichkeit Wie sich Schreibratgeber an ihren Adressaten orientieren (Katrin Burkhalter & Bernadette Rieder)
  • Rat ist gut, Übung ist besser Das Schreiben anspruchsvoller Texte setzt intelligentes Üben voraus (Katrin Burkhalter)
  • Schreibratgeben in einer digitalen Kultur der Wissenschaftskommunikation (Digitale) Ratgeber für digitales wissenschaftliches Schreiben (Gunhild Berg)
  • Ohne Lesen nichts gewesen! Warum strategisches Lesen multipler Dokumente in den Kernbereich des wissenschaftlichen Schreibens (und damit in Schreibratgeber) gehört (Maik Philipp)
  • Gibt es an der Hochschule denn nur eine Art von Text? Wie und welche Textsorten in Schreibratgebern thematisiert werden (Bernadette Rieder)
  • Wissenschaftlich formulieren nach Rezept? Das didaktische Potenzial von Schreibratgebern im Lichte von Lernforschung und Neuropsychologie (Sarah Brommer)
  • Sektion II Die Ware Schreibratgeber: Erfahrungsberichte
  • Ratgeber schreiben, um das Schreiben zu erkunden (Otto Kruse)
  • Schreibratgeber – die Verlagsperspektive (Barbara Budrich)
  • Schreibratgeber in Hochschulbibliotheken (Ladina Tschander)
  • „Mit Verkehrsregeln bringe ich niemandem wissenschaftliches Schreiben bei“ Zum Umgang mit Schreibratgebern an einem Schreibzentrum (Carmen Mertlitsch)
  • „Wo kann ich das nachlesen?“ Nutzung von Schreibratgebern im Kontext (Stefan Jörissen)
  • „Es ist wie bei Spider-Man: Aus großer Macht folgt große Verantwortung“ Doppelinterview mit Stefanie Exner und Nils Kopf über den Nutzen von Schreibratgebern (Stefanie Exner, Nils Kopf & Katrin Burkhalter)
  • Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Warum uns Schreibratgeber interessieren (müssen)

Wie finde ich meinen Beruf und meine Berufung? Geld richtig anlegen! Wie man Freunde gewinnt. Jedes Kind kann schlafen lernen. So wird’s gemacht! – Ratgeberliteratur boomt und ihre thematische Bandbreite ist groß: Sie kümmert sich um Politik und Unternehmen, Hobby und Beruf, Beziehung und Erziehung, Haushalt und Garten, Einrichtung und Mode. Auch Schreiben ist ein Gegenstand der Beratungsbranche, und Schreibratgeber für die Hochschule sind eine Buchsorte mit vielen Neuauflagen und Neuerscheinungen. Wie viele deutschsprachige Schreibratgeber für die Hochschule tatsächlich auf dem Markt sind, lässt sich schwer feststellen, da Titel und Verschlagwortung uneinheitlich sind, zudem einige unter falscher Flagge segeln, indem Titel oder Vorwort einen Inhalt versprechen, der nicht eingelöst wird, andere hingegen gewissermaßen undercover schreibberaterisches und schreibdidaktisches Wissen vermitteln – etwa fremdsprachendidaktische Lehrmittel, auf die man auf der Suche nach Schreibratgebern fast nur zufällig stoßen kann. Einige Hundert Schreibratgeber dürften aber auf dem Markt sein,1 und zwischen der Niederschrift dieser Einleitung im Mai 2021 und dem Erscheinen unseres Sammelbandes dürften noch einige dazukommen.

Rat geben ist eine prototypisch mündliche Sprachhandlung, die mit konkretem Beratungsbedarf situativ verknüpft ist. Ratgeberbücher hingegen antizipieren diesen Beratungsbedarf, konstruieren die Beratungssituation und vervielfältigen den singulären Ratschlag zu einem ganzen Bündel aus Informationen, Anleitungen und Tipps und geraten damit in die Nähe von Nachschlagewerken. Der Rat, den sie geben, kommt häufig aus beruflicher Praxis (die Ratgeberautorin kennt den Beratungsbedarf und weiß Rat, hat meist auch Beratungserfahrung) oder persönlicher Betroffenheit (der Ratgeberautor hat zuvor selbst Rat zum Thema gesucht). Ratgeberbücher beschränken sich aber nicht auf das Plaudern aus dem Nähkästchen, sondern tragen auch viele Inhalte zusammen und bereiten bestehendes Wissen zielgruppengerecht auf. Sie sind „Informationsraffer“ (Helmstetter 2014: 109), was durchaus als Service an den ←11 | 12→Ratsuchenden zu betrachten ist. Woher die Informationen aber stammen und wie gesichert sie sind, bleibt meist offen: Der Rat basiert auf der (Erfahrungs-)Expertise des Ratgebers und wird als ‚Vertrauenssache‘ behandelt. Nach der Definition des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels sind Ratgeber „handlungs- oder nutzenorientiert für den privaten Bereich“ und Fachbücher „handlungs- bzw. wissensorientiert mit primär beruflichem oder akademischem Nutzwert“ (Börsenverein 2006: 2). Im Unterschied zu Lehrmitteln für den Unterricht sind Ratgeber für das Selbststudium als ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ gedacht. Nach Sauer stehen sie damit in der Tradition der an Mündigkeit und Selbstverantwortung appellierenden Aufklärung sowie in jener der Erwachsenenbildung, die auf lebenslanges Lernen abseits vom Schulbetrieb zielt (vgl. Sauer 2012: 30).

‚Informationsraffer‘, ‚Vertrauenssache‘, ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ sind holistische Charakterisierungen, die widerspiegeln, was Sauer in seiner Untersuchung Beratung zwischen Buchdeckeln: Aufklärung und Heilsversprechen über das Genre schreibt: „Überhaupt weiß man wenig Gesichertes über diese Buchgattung, in der es irgendwie um die Dialektik von Wissen und Alltagshandeln geht […] Es gibt ein Alltagswissen zum Ratgeber im Verlags- und Medienbetrieb und es gibt gewohnheitsmäßige Erwartungen“ der Leserinnen und Leser, aber „Klarheit gibt es nicht“ (Sauer 2012: 21).

Ziel dieses Sammelbandes ist es, für größere Klarheit immerhin über den Schreibratgeber für die Hochschule zu sorgen. Wir sind der Meinung, dass die Schreibwissenschaft, die sich mit dieser Buchsorte den Gegenstand ‚Schreiben‘ teilt, allein durch deren starke Marktpräsenz zu einer solchen Klärung herausgefordert ist. Wenn sich die Schreibwissenschaft als Disziplin weiter herausbilden will (vgl. Huemer et al. 2021: Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin), muss sie sich zu anderen Akteuren im Feld, und dazu zählt auch der Schreibratgeber, positionieren.

Unsere ursprüngliche Motivation für die Beschäftigung mit der Buchsorte war es, einen Kriterienkatalog zur Beurteilung der Qualität einzelner Schreibratgeber zu entwickeln. Dieser sollte helfen, Pauschalurteile zu vermeiden und das Angebot, das in dieser Menge an Texten vorliegt, produktiv für Unterricht, Coaching, Beratung usw. zu nutzen. Wir haben dann aber gesehen, dass der Kriterienkatalog frühestens der zweite Schritt sein kann – davor bedarf es einer Art Bestandsaufnahme, die das Phänomen von mehreren Seiten beleuchtet, beschreibt, kritisch reflektiert und in seinem Verhältnis zu anderen Formen der Schreibberatung sowie zur Schreibwissenschaft verortet. Dieser Bestandsaufnahme liegt ein Verständnis vom Schreibratgeber für die Hochschule zugrunde, das wir im Folgenden erläutern.

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Schreibratgeber für die Hochschule sind eine hybride Buchsorte. Sie zeigen typische Merkmale der Ratgeberliteratur sowie Merkmale von Lehrbüchern, die Grundlagenwissen vermitteln. Sie stehen zwischen Markt und Wissenschaft, weil sie auf einen Bedarf reagieren, der aus der Hochschule erwächst. Zudem vermitteln sie Praktiken, die, weil diese wissenschaftlich sind, eine theoretische Fundierung erwarten lassen. Diese Hybridität spiegelt sich auch in der Warengruppensystematik des Börsenvereins wider: Ratgeber zum „Verfassen von wissenschaftlichen Arbeiten“ sind einerseits der Warengruppe (= WG) Ausbildung, Beruf, Karriere (Gruppe 497) zugeordnet, andererseits gibt es dort den Hinweis, sie könnten auch den Fachbereichen in den Warengruppen der Wissenschaft zugeordnet sein, also z.B. den Einführungen und Studienbüchern im Bereich der Geistes- oder Naturwissenschaften. Eine Warengruppe für Schreibratgeber im Allgemeinen gibt es übrigens nicht: „Schriftstellerei“ ist der WG Praktische Anleitungen (485), „Korrespondenz“ der WG Briefe, Rhetorik (498) zugeordnet. Diese Hybridität der Schreibratgeber für die Hochschule wird uns in diesem Sammelband immer wieder begegnen, und sie trägt dazu bei, dass eine eindeutige Definition der Buchsorte kaum möglich scheint. Wir wollen uns einer solchen daher aus mehreren Richtungen nähern.

Zunächst betrachten wir Schreibratgeber als Buchsorte. Dies macht eine Abgrenzung von anderen Medien wie Podcasts, Schreiblernvideos sowie von Nachbartextsorten wie Stilratgebern oder Übungsbüchern definitorisch relevant. Wir meinen mit Ratgebern in diesem Band immer Ratgeberbücher2, nicht die Vielzahl an Handouts, Briefings, Checklisten usw., die im Kontext von Schreibberatung ebenfalls erstellt werden und als Lehrmittel oder Online-Materialien publiziert sind. Ebenso abzugrenzen ist der Schreibratgeber für die Hochschule von Schreibratgebern für andere Domänen oder Schreibhaltungen wie das berufliche oder kreative Schreiben. Als Buchsorte lässt sich der Schreibratgeber außerdem subklassifizieren:3 So unterscheidet etwa Brommer in diesem Band anhand der in den Ratgebern behandelten Gegenstände solche für das wissenschaftliche Arbeiten von jenen für das wissenschaftliche Schreiben und jenen für den Wissenschaftsstil. Burkhalter unterscheidet zwischen ‚Reiseführern‘, die Orientierung verschaffen, und ‚Ermutigungsbüchern‘, die Entwicklungen anstoßen und motivieren. Rieder unterscheidet Schreibratgeber ←13 | 14→nach deren Ausrichtung in personen-, prozess- und produktorientierte. Mertlitsch schließlich unterscheidet Schreibratgeber nach Inhalt (Fokus auf dem Schreibprozess oder auf der Sprache), Zielgruppen sowie Disziplinenspezifik. Die Kategorien der Schreibberaterin Mertlitsch sind aus der praktischen Arbeit mit sowohl Ratsuchenden aus verschiedenen Fächern als auch einer großen Bandbreite an Schreibratgebern erwachsen. In der Tat lässt sich eine Entwicklung hin zu mehr Disziplinarität der Schreibratgeber feststellen, die den unterschiedlichen Bedarfen in den Fächern entgegenkommt. Diesen zielgruppenspezifischen stehen überfachliche Schreibratgeber gegenüber, die wir als die ‚Schreibratgeber schlechthin‘ verstanden und daher in unserem Call zentral gesetzt hatten, nicht zuletzt deshalb, weil diese Bücher marktmächtig sind. Die vorliegenden Untersuchungen machen nun allerdings deutlich, dass die disziplinunabhängig angelegten Schreibratgeber tendenziell geistes- und sozialwissenschaftliches Schreiben im Blick haben. Auch stammen die Ratgeberautoren und -autorinnen vornehmlich aus den Feldern der Geistes- und Sozialwissenschaft. Wir erkennen also eine implizite Gleichsetzung von geisteswissenschaftlichem Schreiben mit Schreiben an der Hochschule schlechthin. Überfachlichkeit mag zwar ein hehres Ziel (und ein Verkaufsargument) sein, ist aber offenbar kaum zu erreichen. Wir gehen davon aus, dass künftige schreibwissenschaftliche Studien die disziplinenspezifischen Schreibratgeber etwa für den MINT-Bereich, die Rechtswissenschaften, die Gesundheitswissenschaften und so weiter vermehrt berücksichtigen.

Zurück zur Frage der Definition, der wir uns aus verschiedenen Richtungen nähern wollen. Betrachtet man die Buchsorte Schreibratgeber als Sonderfall der Schreibberatung, rückt eine Dimension ins Blickfeld, die vom monologischen Setting des Buches gar nicht unterstützt werden kann: die Interaktion zwischen Ratgebenden und Ratsuchenden. Dennoch geben Strategien des prototypisch mündlichen Beratens wie die Fokussierung auf ein Problem und dessen Lösung auch Ratgeberbüchern eine Richtung vor. Wenig aufschlussreich ist die Herleitung des Schreibratgebers von seinen Bezugsdisziplinen: Funktional und inhaltlich speist er sich aus der Schreibwissenschaft, Textlinguistik, Beratung, Lernpsychologie und Didaktik. Die Breite dieser Bezüge schärft das Profil kaum. Etwas klarer fassen lässt sich dieses Profil über die Bestimmung von Ziel und Zweck der Buchsorte: Handlungsorientierung respektive Förderung einer Grundkompetenz für die Domäne Hochschule. Realisiert wird dies in unterschiedlicher Gewichtung mit der Vermittlung von Grundwissen über den Gegenstand des wissenschaftlichen Schreibens, Handlungsanleitungen und Lösungsangeboten für antizipierte Probleme.

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Nicht zuletzt unternehmen wir den Versuch, den prototypischen Schreibratgeber zu beschreiben. U.E. zeichnet sich dieser durch folgende Merkmale aus: Er

  • enthält strategische und technische Aussagen zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben für die Herstellung studienbezogener Texte,
  • bietet Enkulturation in die Domäne Hochschule durch implizite oder explizite Information über Strukturen und Aufgaben von Universität und Wissenschaft an,
  • strebt die Vermittlung von (rezeptivem) Verständnis für den Funktionalstil der Wissenschaftssprache Deutsch und der (produktiven) Aneignung dieses Stils an.

Über diese definitorische Bestimmung hinaus trägt die historische und gesellschaftliche Verortung des Schreibratgebers zur Annäherung an das Phänomen bei.

„Schreiblehren“ und „Schreibmeisterbücher“ kennt der deutsche Sprachraum schon seit dem 16. Jahrhundert.4 Historisch dominieren Anleitungen zum literarischen Schreiben und zum Schreiben von Briefen. Ratgeber zum wissenschaftlichen Schreiben erscheinen erst mit dem Wandel der Universitäten zu offenen Bildungseinrichtungen, der seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu vollen Hörsälen und einem Ende der individuellen Betreuung aller Studierenden führte. Einer der Ersten, der die dadurch entstandene Lücke erkannte, war Umberto Eco, der 1977 mit seinem Ratgeber Wie man eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreibt besonders Studierenden aus bildungsfernen Schichten, die im Massenbetrieb unterzugehen drohten, helfen wollte (vgl. Nerlich 2010: 106).

Schreibratgeber haben ihren Platz nicht nur in der Massenuniversität, sondern auch in den zahlreichen neuen tertiären Ausbildungsgängen in Fachhochschulen, Colleges oder Akademien, die infolge der Akademisierung vieler Berufe entstanden sind und noch immer entstehen. Zum einen müssen durch diese Veränderung von Ausbildungen heute wesentlich mehr Studierende wissenschaftlich schreiben lernen. Oft wird etwas verlangt, das der Ausbildung bzw. dem angestrebten Beruf eigentlich wesensfremd ist, weil diese gar nicht wissenschaftlich und sprach-/textbezogen sind. Es wird hier also auch ein Beratungsbedarf gezüchtet. Zum anderen ziehen gerade praxisorientierte ←15 | 16→Ausbildungen auch viele Studierende an, die nicht den direkten Weg über das Gymnasium mit seiner immer noch breiten sprachlichen Bildung auf die Hochschulen wählen. Die Studierendenschaft ist durch zahlreiche Optionen, Zutritt zum tertiären Bildungssektor zu erlangen, wie Berufsabitur, Meisterprüfung, Berechtigungsprüfungen usw. heterogener geworden, und je heterogener eine Gruppe, desto expliziter müssen die für diese Gruppe geltenden Regeln und Normen gemacht werden. Das gilt auch für die Konventionen und Normen der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Schreibens.

Schreibratgeber für die Hochschule reagieren also auf einen Beratungsbedarf. Ketzerisch fragen wir: Hatten Studierende früher diesen Bedarf nicht? Haben sie so viel besser geschrieben? Oder andersherum: Wurde früher etwa – weil unberaten – viel schlechter geschrieben? Oder waren die Anforderungen geringer? Wenn wir an unsere eigene Schreibbiographie an der Hochschule zurückdenken, so sehen wir vor allem eines: große Unbekümmertheit, wenigstens am Anfang. Das Bewusstsein für die Tücken wissenschaftlichen Schreibens stieg erst mit den Anforderungen. Irgendwie war da – gefühlt – mehr Zeit, Schreibreife zu entwickeln. Möglicherweise fehlt den durchmodularisierten Studiengängen ein wenig Gelassenheit oder Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit oder den Entwicklungswillen junger Studierender. Die BA-Arbeit soll bereits alle Standards wissenschaftlicher Texte erfüllen, und ihr stehen heute Publikationsmöglichkeiten offen, die vordigital nicht einmal für Dissertationen selbstverständlich waren. Diese Ungeduld, kombiniert mit unmittelbarer Intervention beim Aufdecken von Defiziten, scheint uns ein Zeitgeistphänomen zu sein. Ebenso lässt sich ein alltäglich gewordener Beratungsbedarf feststellen. Die Wochenendbeilage NZZ Stil der Neuen Zürcher Zeitung enthält eine Rubrik für Leserfragen: „Hat das Stil?“. Dort werden mit (uns) verblüffender Ungeniertheit Fragen gestellt, deren Beantwortung (eigentlich) auf der Hand liegt, etwa: Darf man (im Restaurant) stehen gelassene Gerichte der Tischnachbarn fertig essen? (vgl. bellevue.nzz.ch). Dies macht die Absurdität des Beratungsbedarfs von Menschen selbst in Bezug auf alltägliche Verrichtungen in schrillsten Tönen deutlich. Wir sind eine „beratene Gesellschaft“ (Schützeichel/Brüsemeister 2004). Die Soziologie benennt Orientierungslosigkeit und Differenzierung von Gesellschaften als treibende Kräfte für den Beratungsbedarf. Beratungen stellen aber weder Eindeutigkeit noch Homogenität her, sondern erhöhen die Unsicherheit „gerade dadurch, dass sie die Kontingenz des Entscheidens beobachtbar und kommunizierbar machen“ (Schützeichel 2004: 284). Was für den Beratungssektor insgesamt gilt, gilt auch für Ratgeberbücher: Sowohl ihre große Menge als auch die Fülle der Ratschläge in jedem einzelnen Buch können Ratsuchende überfordern, sodass sie möglicherweise ←16 | 17→„die Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit, derenthalben man nach Rat sucht, verstärken“ (Helmstetter 2014: 110). Auch unter den Schreibratgebern hat bislang noch kein Exemplar Klarheit verschafft. Wäre das so, bräuchte es nicht ständig neue.

Details

Seiten
360
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631863220
ISBN (ePUB)
9783631863237
ISBN (Hardcover)
9783631818596
DOI
10.3726/b18772
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Schreibdidaktik Schreibwissenschaft Buchmarkt Schreibtraining Schreibberatung Studium Hochschuldidaktik Schlüsselkompetenz Schreiben Hochschullehre
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 360 S., 12 s/w Abb., 9 Tab.

Biographische Angaben

Katrin Burkhalter (Band-Herausgeber:in) Bernadette Rieder (Band-Herausgeber:in)

Katrin Burkhalter ist freie Hochschullehrerin sowie Redaktorin der Zweimonatsschrift «Sprachspiegel». Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Deutsch als Fremdsprache, die Sprachsituation der (deutschen) Schweiz, Textverständlichkeit und Didaktik des (wissenschaftlichen) Schreibens. Bernadette Rieder ist Senior Lecturer im Kompetenzbereich Schreiben und Mündliche Interaktion an der Universität Innsbruck. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind wissenschaftliches Schreiben, Textoptimierung und Textlinguistik. Sie ist außerdem Schulbuchautorin für das Fach Deutsch.

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