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Publicly Available Published by De Gruyter December 3, 2021

Wie die NATO auf den Aufstieg Chinas reagieren sollte

  • Markus Kaim EMAIL logo and Angela Stanzel EMAIL logo

Kurzfassung

Chinas weltpolitischer Aufstieg stellt andere Staaten und internationale Organisationen vor neue Herausforderungen, da er regional wie global etablierte Machtverhältnisse erschüttert und weltanschauliche Alternativen zu westlichen Ordnungsvorstellungen stärkt. Auch unter den NATO-Mitgliedern besteht ein zunehmender Konsens darin, sich mit den von China ausgehenden Herausforderungen beschäftigen zu müssen. Wie die NATO diese Herausforderung angehen sollte, wird unter den NATO-Mitgliedern jedoch unterschiedlich bewertet. Die NATO sollte ihre eigenen Möglichkeiten beim Umgang mit China realistisch einschätzen. Es sollte nicht darum gehen, ein alle Aktivitäten der Allianz überwölbendes, neues Handlungsparadigma zu definieren. Vielmehr sollte die NATO für sich einen Platz innerhalb des komplexen Gefüges euro-atlantischer Institutionen definieren, sodass mögliche Aktivitäten des Bündnisses Sinn ergeben, Planungen anderer Organisationen aber nicht dupliziert werden.

Abstract

China’s rise poses new challenges to other states and international organizations, as it shatters established regional and global power structures and strengthens ideological alternatives to Western notions of order. There is a growing consensus among NATO members that they have to deal with the challenges posed by China. However, NATO members have different assessments on how the Alliance should approach this challenge. NATO should be realistic about its own options in dealing with China. It should not be about defining a new paradigm for action that overarches all activities of the Alliance. NATO should rather define a place for itself within the complex structure of Euro-Atlantic institutions, so that possible activities make sense, but plans of other organizations are not duplicated.

Schlüsselbegriffe: China; NATO; Strategie

1 Einleitung

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte kurz vor dem NATO-Gipfel am 14. Juni 2021 in einem Interview mit dem kanadischen Sender CBC, die NATO-Mitgliedstaaten müssten ihre gemeinsame Politik gegenüber einem zunehmend aggressiveren China stärken.[1] Denn „China teilt nicht unsere Werte“ und Sorgen bereite auch der „Einsatz von moderner Technologie, sozialen Netzwerken und Gesichtserkennung zur Überwachung der Bevölkerung in einem bislang nicht gekannten Maß.“ Stoltenberg resümierte: „All dies bedeutet, dass es wichtig für die NATO ist, unsere Politik hinsichtlich China zu stärken.“

Damit vollzieht die Allianz endgültig eine Kehrtwende. Schließlich haben die Staats- und Regierungschefs der NATO der sicherheitspolitischen Bedeutung der Volksrepublik China erst vergleichsweise spät Aufmerksamkeit geschenkt. Lange Zeit dominierte eine Perspektive, der zufolge die Allianz und Peking eine Reihe von gemeinsamen Interessen in der internationalen Politik verfolgen, so etwa in den Bereichen Krisenmanagement, Pirateriebekämpfung und Einhegung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Letztlich aber blieben der Umfang der Zusammenarbeit und die Zahl hochrangiger diplomatischer Kontakte begrenzt aufgrund der Tatsache, dass sich die NATO als euro-atlantische Sicherheitsorganisation begreift, die Entwicklungen im indopazifischen Raum nur am Rande betreffen.[2]

Erst der weltpolitische Aufstieg Chinas in den letzten Jahren hat eine andere Wahrnehmung des Landes ausgelöst und bewirkt, dass Pekings Außenpolitik inzwischen auf der Agenda des Bündnisses steht. Mit dafür verantwortlich waren die veränderten amerikanischen Prioritäten weg von der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus hin zu einem systemischen Großmachtwettbewerb mit China. Bereits in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie von 2017 hatte die Trump-Administration Russland und China als die größten Bedrohungen für die globale Ordnung identifiziert und damit die Abkehr vom jahrelangen Kampf gegen den Terrorismus als höchster nationaler Sicherheitspriorität markiert.[3]

Die NATO widmete sich in ihrer Londoner Erklärung von 2019 erstmals der Volksrepublik und erklärte: „Wir erkennen an, dass Chinas wachsender Einfluss und die internationale Politik sowohl Chancen als auch Herausforderungen bieten, die wir als Allianz gemeinsam angehen müssen.“[4] Der jüngste Jahresbericht des NATO-Generalsekretärs vom März 2021 bekräftigte diese etwas ambivalente Position: „Der Aufstieg Chinas stellt für die NATO sowohl Herausforderungen als auch Chancen dar. Die NATO ist bestrebt, eine konstruktive Beziehung zu China aufrechtzuerhalten, die auf gegenseitigem Respekt und gemeinsamen Interessen beruht. Auf dieser Grundlage hat die NATO auch im Jahr 2020 den Dialog mit China fortgesetzt, um das gegenseitige Verständnis zu verbessern, Missverständnisse auszuräumen und einen Raum zu schaffen, in dem Meinungsverschiedenheiten angesprochen werden können.“[5] Gleichzeitig konstatierte er, nicht die NATO sei näher an China herangerückt, sondern China an die NATO durch seine Aktivitäten in der Arktis und in Afrika, durch Investitionen in kritische Infrastruktur in Europa sowie durch Aktivitäten im Cyber- und Informationsraum.

Das im November 2020 veröffentlichte Reflexionsdokument der NATO, NATO 2030: United for a New Era, hingegen stellte in Bezug auf die Anerkennung systemischer Rivalität weniger zweideutig fest, dass die NATO „offen für einen konstruktiven Dialog mit China sein muss, wenn er ihren Interessen dient“, sich jedoch zugleich darauf vorbereiten müsse, „eine Position der Sicherheit und Stärke zu schaffen, um die Beziehungen der Alliierten zu China zu stabilisieren und sich gegen alle Versuche Pekings zu schützen, Zwang auf sie auszuüben.“[6] Eine Empfehlung dieses Dokuments lautet: „Das Bündnis sollte die von China ausgehende Herausforderung durchgängig in den vorhandenen Strukturen berücksichtigen und erwägen, ein Beratungsgremium einzurichten, um alle Aspekte der Sicherheitsinteressen der Verbündeten gegenüber China zu diskutieren. Die NATO muss ihre Bemühungen verstärken, die Auswirkungen von Chinas technologischer Entwicklung zu bewerten sowie alle Aktivitäten Chinas zu beobachten und sich gegen mögliche Risiken zu verteidigen, die die kollektive Verteidigung, die militärische Einsatzfähigkeit oder die Widerstandsfähigkeit im Zuständigkeitsbereich des Obersten Alliierten Befehlshabers Europa (SACEUR) beeinträchtigen könnten.“[7]

Vor diesem Hintergrund war der Brüsseler Gipfel der NATO am 14. Juni 2021 besonders bemerkenswert, und zwar aus zwei Gründen: Präsident Bidens erstmalige Teilnahme an dem Treffen signalisierte, dass die Vereinigten Staaten nach der spalterischen, bündniskritischen Rhetorik der Trump-Jahre wieder eine aktivere Rolle bei der Gestaltung und Nutzung des Bündnisses – auch für ihre China-Politik – spielen wollen. Zweitens bezeichnete das Gipfel-Kommuniqué China in ungewöhnlicher Offenheit als destabilisierende Kraft und systemische Herausforderung, deren Agieren die regelbasierte internationale Ordnung bedrohe.[8]

 Auf dem NATO Gipfel 2021 war China ein wichtiges Thema

Auf dem NATO Gipfel 2021 war China ein wichtiges Thema

Obwohl die Erklärung vermied, China als direkte Bedrohung für das Bündnis darzustellen, ließ sie doch erkennen, dass unter den NATO-Mitgliedern ein zunehmender Konsens darin besteht, sich mit den von der Volksrepublik ausgehenden Herausforderungen beschäftigen zu müssen. Das neue strategische Konzept, das im kommenden Jahr vorgelegt werden wird, steht nun vor der Aufgabe, diesen Konsens in kohärente und angemessene Schritte umzusetzen.

Die Herausforderungen, die China für die NATO-Mitglieder darstellt, wie diese einzuschätzen sind, und wie die NATO darauf reagieren kann, wird im Folgenden weiter ausgeführt.

2 Die NATO-Mitglieder und China

Die Tagung der NATO-Staats- und Regierungschefs hat dem Bündnis die Gelegenheit geboten, auf die wachsende geopolitische Herausforderung seitens China zu reagieren. China sei eine systemische Herausforderung für den Westen – diese Sicht teilen die USA und die EU. So hatte die EU in ihrem Strategic Outlook von 2019 China nicht mehr nur als Kooperationspartner, sondern auch als wirtschaftlichen Wettbewerber und systemischen Rivalen bezeichnet.[9]

Ob und wie die NATO diese Herausforderung angehen sollte, ist in ihren Reihen jedoch strittig. Die Mitglieder bewerten diese Herausforderung graduell wie prinzipiell unterschiedlich. Es sind vor allem die USA, die sich bei der Austragung ihres systemischen Konflikts mit China die NATO zunutze machen möchten. Andere geben der Bedrohung durch Russlands revisionistische Außenpolitik Vorrang, wieder andere wollen die Gefährdung durch terroristische Gruppierungen und Cyberangriffe in den Mittelpunkt der NATO-Planungen stellen.[10] Die Perspektiven hinsichtlich China sind also sehr verschieden, und die sicherheitspolitische Sicht ist nur eine von vielen.

Politisch nachvollziehbar ist, dass die NATO-Mitglieder versuchen, die genannten Sicherheitsbedenken mit ihren jeweiligen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu China in Einklang zu bringen. Das ist insbesondere für die EU und für Deutschland eine schwierige Aufgabe. Dementsprechend vieltönig klangen die Staats- und Regierungschefs in Brüssel: Im Kontext des Gipfels vertrat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine weichere Linie gegenüber China und erklärte, dass „vor allem Russland die größte Herausforderung“ für die NATO und „China in vielen Fragen ein Rivale und gleichzeitig in vielen Fragen ein Partner“ sei.[11] Der französische Präsident Emmanuel Macron stellte derweil in Frage, ob die NATO überhaupt das richtige Format sei, um die Art von Herausforderungen zu bewältigen, die von China ausgehen. Er erklärte, dass „die NATO eine nordatlantische Organisation ist, China nichts mit dem Nordatlantik zu tun hat“ und „wir unsere Beziehung zu China nicht einseitig betrachten sollten – sie ist viel größer als nur das Militär.“[12]

Angesichts dieser unterschiedlichen Positionen hat die NATO bislang weder ihre politischen Zuständigkeiten in Bezug auf die Volksrepublik China festlegen können noch eine klar definierte Politik zur Bewältigung dieser sicherheitspolitischen Herausforderung. Dass China im NATO-Kommuniqué Erwähnung findet, signalisiert einen vorsichtigen, bislang aber lediglich rhetorischen Konsens über die Natur der Herausforderungen, die China für das Bündnis darstellt. Der nächste Schritt wird weit schwieriger sein, nämlich die Entscheidung darüber, wie man die von China ausgehenden Herausforderungen bewältigen will.

Die Besorgnis der NATO über Chinas wachsende Fähigkeiten der Machtprojektion und Einflussnahme ist nicht neu. Das Kommuniqué des Gipfels der Staats- und Regierungschefs baut auf früheren Erklärungen von Generalsekretär Jens Stoltenberg sowie auf dem erwähnten Bericht der NATO-Reflexionsgruppe 2030 aus dem Jahr 2020 auf. Sowohl die Abschlusserklärung als auch der Bericht listen die diversen Herausforderungen auf, die China nach Ansicht der Mitgliedstaaten für das Bündnis darstellt. Diese reichen von den geopolitischen Herausforderungen durch Russland und China, Pekings Einsatz von wirtschaftlichem Zwang und aggressiver Diplomatie über den indopazifischen Raum hinaus, der Gefährdung der Fähigkeit der NATO, kollektive Verteidigung zu organisieren und kritische Infrastrukturen zu schützen, über Chinas militärische Modernisierung, die Ausweitung seines Nukleararsenals und seine technologische Entwicklung bis hin zu seinen Desinformationskampagnen. Zudem stelle Pekings Umgang mit den Menschenrechten und dem Völkerrecht die grundlegenden Prämissen der regelbasierten internationalen Ordnung infrage.[13]

3 Dimensionen der chinesischen Herausforderung

Dass Chinas Aufstieg andere Staaten und internationale Organisationen vor neue Herausforderungen stellt, da er regional wie global etablierte Machtverhältnisse erschüttert und weltanschauliche Alternativen zu westlichen Ordnungsvorstellungen stärkt, ist an sich nichts Neues. Interessant ist, wie jeder einzelne Akteur in der internationalen Politik sich je nach spezifischem Aufgabengebiet, innerer Verfasstheit und unterschiedlicher Betroffenheit darauf einstellt. Der NATO, die sich aus Ländern Nordamerikas und Europas zusammensetzt, und ihren Mitgliedern könnten mehrere Aspekte von Chinas Verhalten zusetzen.

Da sind erstens Pekings Versuche, chinesische Technologieunternehmen in die digitale Infrastruktur westlicher Länder zu integrieren und so Einfluss auf diese zu nehmen. Dies ist besonders relevant für die anhaltende Debatte in Europa über die drahtlose Technologie der fünften Generation (5G). Ein Beispiel ist die Bundesrepublik: Laut des Verfassungsschutzberichts 2020 versucht die chinesische Staats- und Parteiführung, Chinas eigene technologische Lücken mithilfe des legalen oder illegalen Erwerbs von Know-hows bereits weiter fortgeschrittener Partner zu schließen. Ebenso weist der Bericht darauf hin, dass „angesichts der engen Kooperation zwischen Industrie und Militär (zivil-militärische Fusion), die unter Xi Jinping besonders forciert wird, davon auszugehen (sei), dass die Steigerung des technologischen Know-hows auch militärischen Anwendungen zugutekommen wird.“[14] Durch den Bau von 5G-Netzwerken könnte Huawei digitale Hintertüren schaffen, um chinesischen Sicherheitsdiensten Zugang zu verschiedenen Kommunikationsnetzen zu ermöglichen. Diese Befürchtungen wurden verstärkt durch ein 2017 in China verabschiedetes Gesetz, das chinesische Telekommunikationsunternehmen verpflichtet, die Regierung bei Ermittlungen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit zu unterstützen. Laut Bundesnachrichtendienst machen geopolitisch motivierte Investitionsziele und staatlicher Einfluss die Volksrepublik „aus nachrichtendienstlicher und sicherheitspolitischer Sicht zur größten Herausforderung in Bezug auf ausländische Direktinvestitionen in Deutschland. Die Befürchtungen, dass ausländische Technologie unmittelbar in staatlichen Besitz fällt und Chinas industriepolitische Ziele weiter vorantreibt, scheinen sich fortlaufend zu bewahrheiten.“[15]

Ein zweites Thema sind Chinas steigende Investitionen in kritische Infrastrukturen Europas. Neben Investitionen in Elektrizitätsnetze, 5G-Netzwerke, Smart-City-Projekte, Unterseekabel und vieles mehr zeigen chinesische Staatsunternehmen sowie deren teils als Privatfirmen getarnte Tochtergesellschaften ein hohes Interesse an Häfen – und dies ausgeprägt in europäischen NATO-Staaten. Die chinesische Staatsreederei COSCO und ihr Schwesterunternehmen China Merchant besitzen bereits in 14 europäischen Häfen eigene Terminals oder halten Anteile an Hafenbetreibern. Hierzu zählen auch Mehrheitsbeteiligungen an Mittelmeerhäfen wie Valencia, Bilbao und Madrid sowie Anteile an den Nordrange-Häfen Rotterdam, Antwerpen und Zeebrugge. Kürzlich (am 21. September) hat auch der börsennotierte Hamburger Hafenbetreiber HHLA mit COSCO eine Beteiligung von rund 35 Prozent an einem seiner Containerterminals ausgehandelt.

 Das Hauptquartier der HHLA in der Hamburger Speicherstadt

Das Hauptquartier der HHLA in der Hamburger Speicherstadt

Mit seiner Kontrolle über Hafenanlagen in Europa kann China zunächst sicherstellen, dass in der Volksrepublik produzierte Waren schnell in die europäischen Großräume gelangen. Zudem können so die Hafengebühren niedrig und in China produzierte Produkte wettbewerbsfähig bleiben. Da aber der Erwerb von Überseehäfen gleichzeitig mit einem chinesischen Flottenaufbau und einer Wende hin zu ausländischen Stützpunkten erfolgte, sind Chinas strategische Absichten durchaus zu hinterfragen. Prominentestes Beispiel einer chinesischen Hafeninvestition mit strategischem Ausmaß ist der Hafen von Piräus: Seit 2016 ist COSCO Mehrheitseigentümer und Betreiber des griechischen, strategisch günstig gelegenen Hafens. Peking kontrolliert dessen Eingang zur Weiterfahrt durch den Suez-Kanal auch mit einer Marinebasis in Dschibuti am Horn von Afrika. Die strategische Bedeutung des Suez-Kanals wurde zuletzt im Frühjahr 2021 deutlich, als ein Container-Schiff auf Grund lief und den Verkehr zum Erliegen brachte.

Offen ist, ob die NATO-Länder sich auf die Nutzung dieser Häfen verlassen können, sollte die Allianz Europa verteidigen müssen. Es ist zumindest nicht selbstverständlich, dass die chinesischen Eigentümer ihr erlauben werden, Schiffe in diesen Häfen aufzutanken, zu versorgen oder zu reparieren. Die europäischen NATO-Partner sind sich dieser potenziellen Beschränkung zunehmend bewusst.

Sorge bereiten den NATO-Mitgliedern drittens die Versuche, insbesondere europäische Positionen zu politischen Fragen zu beeinflussen und existierende Differenzen zwischen europäischen Ländern zu vertiefen, indem China beispielsweise die durch seine Seidenstraßeninitiative (Belt and Road Initiative – BRI) erzeugten wirtschaftlichen Abhängigkeiten ausnutzt. So dienen chinesische Bemühungen, europäische Regierungen mit chinesischen Investitionen zu locken, nicht zuletzt dazu, die EU nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch zu spalten. Mit Milliardeninvestitionen in die Infrastrukturen europäischer Länder versucht Peking, diese eng an sich zu binden, um ein „chinafreundliches Europa“ zu schaffen.

In Südosteuropa bedient China sich des 2012 ins Leben gerufenen sogenannten „17+1“-Formats, um wirtschaftliche Beziehungen und politischen Einfluss auszubauen. Dieses Bündnis setzt sich aus zwölf EU-Mitgliedstaaten Ost- und Südosteuropas sowie fünf Westbalkanstaaten plus China zusammen. Beobachter werten das „17+1“-Format als Teil einer langfristigen Strategie zur Untergrabung des europäischen Zusammenhalts und der europäischen Wettbewerbsregeln. Der BDI etwa warnte im Januar 2019 in einem Grundsatzpapier vor einer Spaltung der EU durch solche Formate, solange die Mitgliedstaaten keine gemeinsame Position gegenüber der Volksrepublik beziehen. Ungarn zum Beispiel, einer der größten Empfänger chinesischer Investitionen, hat wiederholt einvernehmliche kritische EU-Positionen gegenüber der Menschenrechtssituation in China blockiert.

Es stellt sich die Frage, wie sich die wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit eines europäischen Staates langfristig auf Chinas Einfluss in Europa auswirken könnte. Montenegro, das seit 2017 der NATO angehört und der EU beitreten will, ist bereits in die sogenannte Schuldenfalle getappt, weil seine öffentlichen Zahlungsrückstände vor allem gegenüber China steigen. Montenegro hatte 2014 einen Großkredit von fast einer Milliarde US-Dollar bei der chinesischen Exim-Bank aufgenommen und wird diesen mittelfristig wohl kaum begleichen können. China könnte sich seine Position der Stärke zunutze machen und Montenegro zum Beispiel nötigen, seine Kontrolle über strategisch wichtige Vermögenswerte abzugeben. Denkbar ist auch, dass die Schuldnerin ihren Adria-Hafen in Bar China übereignen muss.

Viertens haben chinesische Cyberangriffe auf europäische und amerikanische Firmen sowie andere Formen militärtechnischer Spionage massiv zugenommen. Laut dem Bericht 2020 des deutschen Verfassungsschutzes demonstrierten in den vergangenen Jahren „chinesische Cyberakteure eine beachtliche technologische Weiterentwicklung mit deutlichem Schwerpunkt auf die Verschleierung ihrer Angriffe. Hierbei besteht eine deutliche Kongruenz der Auswahl der Opfer in Wirtschaft und Politik mit den politischen und wirtschaftlichen Zielsetzungen der chinesischen Regierung.“[16] Weiter heißt es in dem Bericht: „In der Vergangenheit konzentrierten sich die Angriffe chinesischer Cyberakteure vor allem auf wirtschaftliche Ziele. (…) Seit 2019 konnte ein neuer und zusätzlicher Schwerpunkt chinesischer Cyberspionage auf politische Ziele durch mutmaßlich chinesische Akteure (…) beobachtet werden – bei gleichzeitig gleichbleibender Intensität von Cyberangriffen auf wirtschaftliche Ziele. (…) Durch die gesteigerte Digitalisierung und Nutzung von unterschiedlichsten Fernzugriffstools, beispielsweise für Homeoffice-Regelungen infolge der Corona-Pandemie, ist auch die Angriffsfläche für chinesische Cyberangriffe auf Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Forschung im Jahr 2020 global sprunghaft angestiegen.“[17]

Fünftens versetzen Pekings repressives Vorgehen und die Masseninternierung der uigurischen Bevölkerung in der Provinz Xinjiang sowie die Lage in Hongkong die Allianz in Unruhe. In Xinjiang sind nach Einschätzung von Menschenrechtlern und Wissenschaftlern bis zu eine Million Uiguren in Umerziehungslagern inhaftiert. Bei ihrem Treffen in Großbritannien vom 11.–13. Juni 2021 kritisierten die G7-Staaten China wegen seiner Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und forderten Peking auf, den Autonomiestatus Hongkongs einzuhalten.

Mehr als skeptisch sieht die NATO, sechstens, Chinas ambivalente Rolle bei der Klärung des Ausbruchs der COVID-Pandemie, die Milliarden von Euro und bis dato über vier Millionen Menschenleben gekostet hat. Da der Ursprung des SARS-CoV-2-Virus weiterhin ungeklärt ist, strebt die WHO weitere Untersuchungen an, die China mit seiner Weigerung, die Rohdaten herauszugeben, jedoch zu verhindern versucht. Die Führung in Peking hält die Forderungen für politisch motiviert. Bislang (Oktober 2021) konnten auch die US-Geheimdienste die Frage nach dem Ursprung des Coronavirus nicht abschließend klären. Konsens besteht darin, dass die chinesischen Behörden vor dem ersten Ausbruch von Covid-19 keine Kenntnis von dem Virus hatten.

Für weitere Bedenken, und zwar im engsten sicherheitspolitischen Sinne, sorgt, siebtens, Chinas zunehmende Nähe zu Russland – vor allem die militärische Zusammenarbeit der beiden Staaten. Es dürfte wenig verwundern, dass gerade dieses Thema im Fokus der Aufmerksamkeit der NATO steht. Bisher ist der Umfang der russisch-chinesischen militärischen Zusammenarbeit noch sehr begrenzt. Im Jahr 2015 schlossen sich drei Schiffe der chinesischen Marine dem russischen Flottenverband im östlichen Mittelmeer für eine fünftägige Marineübung an – der ersten Kooperation dieser Art von China und Russland. 2017 entsandte China im Rahmen einer achttägigen Übung einen Zerstörer, eine Fregatte und ein Versorgungsschiff in die russische Exklave Kaliningrad. In der Ostsee war dies die erste solche Militärübung und ist bislang die einzige geblieben. Ebenfalls überschaubar ist noch die Zusammenarbeit bei den Landstreitkräften: Im Jahr 2018 erregte Chinas Teilnahme an Russlands groß angelegter Militärübung Wostok-18 zwar erhebliche mediale Aufmerksamkeit, doch stellte China nicht mehr als 3.000 der 300.000 Soldaten, die an dem Manöver teilnahmen. Außerdem beschränkte sich Chinas militärische Präsenz während der Übung auf die Regionen östlich des Baikalsees.

Gleichwohl ist eine wachsende Interessenkonvergenz und strategische Koordination zwischen China und Russland nicht zu übersehen – vermehrt auch in Europa. Dies trifft nicht nur auf die militärische und militärtechnische Zusammenarbeit zu, sondern auch auf die Rohstoffförderung in der Arktis, den Ausbau von Internetzensur, die 5G-Netz-Entwicklung (für die Russland Huawei als vertrauenswürdigen Anbieter akzeptiert hat) sowie auf Dual-Use-Technologien wie Weltraumsysteme, Satellitennavigation, Softwareentwicklung und unbemannte Systeme. Russland und China öffneten zudem 2019 ihre strategische Kooperation erstmals für Drittländer. So erfolgte im November 2019 erstmals eine trilaterale russisch-chinesisch-südafrikanische Marineübung, gefolgt von einer russisch-chinesisch-iranischen Marineübung Ende Dezember, im Indischen Ozean.

 Die chinesische Fregatte Binzhou im Hafen von Kiel

Die chinesische Fregatte Binzhou im Hafen von Kiel

Darüber hinaus betreffen Chinas militärische Ambitionen in Asien und insbesondere im Indopazifik die NATO-Mitglieder, allen voran die USA. Während China seine verstärkte Beteiligung an UN-Friedensmissionen nutzt, um seinen Soldaten reale Kampferfahrung zu ermöglichen, und so zugleich in Krisenregionen (vor allem in Afrika) einen Beitrag zu Stabilität und Sicherheit leistet, ist in Chinas unmittelbarer Peripherie das Gegenteil der Fall. Hier ist die Volksrepublik Initiator von Konflikten mit ihren Nachbarn, zum Beispiel mit Indien in chinesisch-indischen Grenzgebieten, sowie im Ost- und Südchinesischen Meer und durch die aktive Bedrohung Taiwans. Das Potenzial einer Eskalation ist seit der Machtübernahme des chinesischen Staats- und Parteichefs Xi Jinping auffällig gestiegen, nicht zuletzt, weil es im Interesse der chinesischen Führung liegt, die Bewegungsfreiheit der USA und damit deren ordnungspolitische Rolle im Pazifik deutlich einzuschränken. Spannungen in Asien sind zur Normalität geworden – ein Novum in einer Region, in der es seit Ende des Vietnamkriegs weitgehend friedlich zuging. Im Brennpunkt stehen dabei Chinas maritime Machtverschiebung durch das historisch nahezu beispiellose Ausmaß seiner Aufrüstung sowie sein deutlich aggressiveres Verhalten in der indopazifischen Region. Das tangiert auch Europas Interessen, in erster Linie wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Schiffshandelsrouten im Indopazifik.

4 Der Blick aus Peking auf die NATO

Reaktionen aus Peking folgten dem NATO-Gipfel im Juni 2021 umgehend. Laut dem Kommentar von Chen Weihua, dem Chef des Brüsseler Büros der China Daily, könnte die Tatsache, dass der NATO-Gipfel erstmals auf seiner Agenda und in seinem Kommuniqué China eine prominente Rolle zugeteilt hatte, „ein Wettrüsten auslösen und den Weltfrieden untergraben.“[18] Er führte aus, dass China „seinen Verteidigungshaushalt auf 2 Prozent oder sogar 3,7 Prozent auf dem Niveau der USA aufstocken könnte. Oder es könnte sein Nukleararsenal auf 600 Sprengköpfe verdoppeln, was selbst dann nur 10 Prozent des US-Bestands ausmachen würde. In diesem Sinn könnte die Agenda der NATO ein Wettrüsten auslösen.“[19] Auch die Global Times warnte schon vor dem NATO-Gipfel, die NATO-Mitglieder könnten, „um den USA zu gefallen“, den Weltfrieden bedrohen, indem sie „imaginäre Feinde“ (nämlich China) schaffen.[20] Der Autor dieses Artikels erklärt zudem, die NATO habe seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts ihre Existenzberechtigung verloren. Dies passt ins dominante chinesische Narrativ, das mit Vorliebe den Niedergang der amerikanischen Hegemonie thematisiert und diesen „Befund“ zum Dreh- und Angelpunkt der eigenen Außenpolitik macht. Im Kontext des globalen Systemwettbewerbs wird so das Mantra „der Westen steigt ab und der Osten steigt auf“ immer häufiger wiederholt. Wenig überraschend werteten die chinesischen Medien den Abzug der USA und NATO aus Afghanistan im August 2021 als weiteren Beleg für die Schwäche der westlichen Allianz, ihre politische Unentschlossenheit und mangelnde Attraktivität.

In der chinesischen Lesart benutzen die USA überdies die NATO als Instrument, um die EU zu dominieren. Diesem Narrativ zufolge wollten die USA die Systemkonfrontation mit der Volksrepublik verschärfen und die EU und andere Verbündete gegen China aufbringen. Chen Weihua etwa geht davon aus, dass viele NATO-Mitglieder die Haltung der USA nicht teilen würden, wonach man sich im Kalten Krieg mit China befinde. Er ruft sie auf, sich nicht von den USA manipulieren zu lassen.[21]

Hier muss man allerdings unterscheiden zwischen der offiziellen Rhetorik und den tatsächlichen Sorgen der chinesischen Führung hinsichtlich der NATO. Denn die chinesischen Überlegungen folgen einer simplen, aber zutreffenden Analyse: Je mehr militärische Fähigkeiten insbesondere die USA aus dem euro-atlantischen Raum abziehen, um sie in den Indopazifik zu verlegen, desto weniger Raum verbleibt für Chinas Aufstieg. Pekings größte Befürchtung ist, dass die NATO eines Tages ein militärisch global agierender Akteur werden und Chinas Präsenz im Indopazifik als Teil der militärischen Bedrohung für den euro-atlantischen Raum definieren könnte.

Europa spielt in der chinesischen Wahrnehmung bislang eine untergeordnete Rolle, weckt aber verstärkt Pekings Wachsamkeit. Die Führung um Präsident Xi Jinping nimmt durchaus wahr, dass Frankreich, Großbritannien und die Niederlande inzwischen eigene Flottenverbände in der indopazifischen Region stationiert haben oder dorthin entsenden. Im August 2021 hat auch die Bundesmarine die Fregatte „Bayern“ in den Pazifik entsandt, um ein Signal gegen die dortigen chinesischen Machtansprüche zu setzen, auf die Regelbasiertheit der internationalen wie regionalen Ordnung zu pochen und sich als sicherheitspolitischer Partner asiatischer Staaten anzubieten. Als freundliche Geste in Richtung Peking war ein Besuch der deutschen Fregatte in China geplant. Diesen lehnte die chinesische Führung jedoch ab – ein Zeichen, dass Peking ein verstärktes sicherheitspolitisches Engagement Deutschlands im Indopazifik grundsätzlich zurückweist.[22]

5 Die Grenzen der NATO

Die Vorstöße der europäischen NATO-Staaten in den indopazifischen Raum werden vor allem von Beobachtern und Autoren befürwortet, die nach einer (militärischen) China-Strategie der NATO-Allianz rufen. Europa sind jedoch militärisch enge Grenzen gesetzt. So werden die europäischen NATO-Mitglieder mit Ausnahme von Großbritannien und Frankreich keine gewichtige militärische Rolle im indopazifischen Raum spielen können – nicht, weil sie dessen politische Bedeutung nicht anerkennen wollen, sondern vor allem weil sie nicht in der Lage sind, den amerikanischen Verbündeten wirksame militärische Unterstützung zu bieten. Eine militärische Rolle in Asien würde eine gewaltige Anstrengung bedeuten, die mit den derzeitigen maritimen Fähigkeiten und Verteidigungsbudgets der europäischen Staaten in den kommenden Jahren nicht zu bewältigen ist. Ebenso wenig erreichbar wäre die politische Einigkeit der Europäer für ein militärisches Engagement in Asien. Weder die EU noch der europäische Pfeiler der NATO sollten versuchen, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken, solange dies nur symbolische Schlagkraft besitzt und auf starken innereuropäischen Widerstand stößt.

Chinas militärischer Aufstieg im Indopazifik ist zunächst auch keine direkte militärische Bedrohung für die NATO und Asien ist nicht Teil des geographischen Einflussgebiets der Allianz. Dies begrenzt die Ziele der USA, die NATO-Mitglieder stärker sicherheitspolitisch in Asien einzubinden. Nicht einmal Chinas Vorrücken in die europäische Peripherie, insbesondere im militärischen Schulterschluss mit Russland, stellt eine unmittelbare Bedrohung dar.

Neben der angehenden militärischen Zusammenarbeit von Russland und China beunruhigen vielmehr die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die sich aus Pekings Vorgehen im euro-atlantischen Raum ergeben. Chinas Investitionen in Häfen und andere Infrastrukturen gehen einher mit dem Streben, westliche Wirtschaftsprozesse zu beeinflussen, indem es, wenn auch schrittweise und subtil, Abhängigkeiten schafft, um von diesen zu profitieren. Peking beweist dabei große Geduld und plant seinen Wettbewerb mit dem Westen auf lange Sicht. Chinesische Investitionen sollen ein Einflusspotenzial aufbauen, auf das sich zu einem späteren Zeitpunkt zurückgreifen lässt und das in der Zwischenzeit die demokratischen politischen Systeme anfälliger Nationen untergraben kann.

Pekings Politik, in wichtige europäische Häfen und technologische Infrastrukturen zu investieren und diese teilweise zu besitzen, erfordert vor allem eine wirtschaftliche oder politische Reaktion – wofür die NATO nicht gut gerüstet ist. Die Allianz sollte vorsichtig sein, etwas Anderes zu suggerieren und China so ungewollt zu einer militärischen Gefahr für den euro-atlantischen Raum zu überhöhen. Einzelne NATO-Mitgliedstaaten und vor allem die EU mit ihren jeweiligen politischen Kompetenzen verfügen über mehr Instrumente, um mit einem außenpolitisch ambitionierten China umzugehen, als die NATO als Institution. Bis China tatsächlich eine militärische Bedrohung im Nordatlantikraum darstellen könnte, vermag die NATO als Institution, die zum Zweck der regionalen kollektiven Verteidigung geschaffen wurde, eine nur begrenzte, dennoch nicht unwichtige Rolle bei der Bewältigung der Pekinger Herausforderung zu spielen.

6 Vorschläge für eine China-Agenda der NATO

Die NATO sollte (1) ihre eigenen Möglichkeiten beim Umgang mit den nichtmilitärischen Bedrohungen seitens China realistisch einschätzen. Es geht nicht darum, ein alle Aktivitäten der Allianz überwölbendes, neues Handlungsparadigma für die kommenden Jahre zu definieren. Vielmehr sollte die NATO für sich einen Platz innerhalb des komplexen Gefüges euro-atlantischer Institutionen definieren, sodass mögliche Aktivitäten des Bündnisses funktional Sinn ergeben, entsprechende Planungen anderer Organisationen aber nicht dupliziert werden. Das sollte ihre Mitgliedstaaten ermutigen, mehr außerhalb des NATO-Rahmens zu unternehmen. Zwar müssten sich die politischen Entscheidungsträger der Mitgliedstaaten weiterhin auf eine robuste konventionelle und nukleare Abschreckung durch die Allianz verlassen können, doch über die politischen und wirtschaftlichen Instrumente, um den von China ausgehenden wirtschaftlichen und politischen Risiken zu begegnen, verfügen vornehmlich die nationalen Hauptstädte und in einigen Fällen die EU.[23]

Die Allianz sollte sich (2) weder verzetteln noch ablenken lassen, sondern die existenten sicherheitspolitischen Herausforderungen klar priorisieren. Angesichts des Einflusses, den China mit der BRI in Europa nimmt, und in Anbetracht der vermeintlichen Entstehung der COVID-19-Pandemie in China, der Masseninternierung der uigurischen Bevölkerung und der anhaltenden 5G-Debatte in Europa überrascht es nicht, dass für viele westliche Politiker China als zentrale Herausforderung in der internationalen Politik gilt. Für die NATO bleibt jedoch bis auf Weiteres, allein aufgrund der geografischen Nähe, Russlands aggressive und revisionistische Außenpolitik die direkteste Bedrohung.[24] Die militärische Herausforderung durch Moskau entspricht genau einer jener Aufgaben, für die man das Bündnis vor über 70 Jahren geschaffen und die entsprechenden Instrumente entwickelt hat. Die NATO sollte die russisch-chinesische militärische Zusammenarbeit durchaus aufmerksam verfolgen, aber kein Missverständnis darüber aufkommen lassen, dass Russland die größere Wachsamkeit verlangt.[25] Alles andere wäre für eine Vielzahl von Mitgliedern nicht akzeptabel, würde einen Keil in die Allianz treiben und somit die notwendige innere Geschlossenheit gefährden. Gleiches gilt für die chinesische Herausforderung – die NATO darf sich in dieser Frage nicht spalten lassen. Wie ausgeführt, besteht bislang in der NATO eine vorsichtige, nahezu formelhafte Einigkeit darin, welchen Part sie gegebenenfalls im Umgang mit Peking einnehmen sollte. Vieles bleibt im Vagen, existierende Differenzen werden mit diplomatischen Floskeln überspielt, hauptsächlich, weil niemand die „Wiederentdeckung“ der NATO durch die Regierung von Präsident Biden gefährden möchte. So wie die Einheit des Bündnisses angesichts der russischen Aggression von entscheidender Bedeutung ist, so sollte die NATO auch in der China-Frage eine Spaltung vermeiden.

Chinas Entwicklung als strategischer Akteur wird auch sicherstellen, dass die Allianz weiterhin ein nukleares Bündnis bleiben wird. Sie könnte (3) mittelfristig allerdings eine Anpassung der NATO-Nuklearstrategie erfordern. China ist eine Atommacht mit strategischer Reichweite. Erst im Sommer 2021 wurden Berichte bekannt, denen zufolge China mit dem Bau von mehr als 250–300 neuen Silos für Interkontinentalraketen begonnen hat – was auf eine bedeutende Erweiterung von Pekings nuklearen Fähigkeiten hinweisen könnte.[26] Solange die Länder des euro-atlantischen Raums von irgendeinem Punkt der Welt, Asien inklusive, einer atomaren Bedrohung ausgesetzt sind, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben. Zugleich sollte man die Bestrebungen intensivieren, China in Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen einzubeziehen. So hat auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seinem Gespräch mit dem chinesischen Außenminister am 27.09.2021 nicht nur grundsätzlich die Beziehungen zwischen der NATO und China erörtert und den sich ausweitenden Dialog zwischen beiden Akteuren begrüßt. Stoltenberg forderte China daneben auf, sich in Bezug auf seine nuklearen Fähigkeiten und seine Doktrin sinnvoll am Dialog, an vertrauensbildenden Maßnahmen und an Transparenzmaßnahmen zu beteiligen. Er betonte, dass sowohl die NATO als auch China von einem Dialog über Rüstungskontrolle profitieren würden.[27] US-Präsident Biden hatte bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2021 angekündigt, den New-START-Vertrag zwischen den USA und Russland um weitere fünf Jahre zu verlängern. Schon lange verlangen die USA Chinas Teilnahme an den Verhandlungen um das New-Start-Abkommen.[28] Die Volksrepublik weigert sich aber bis heute, über ihr wachsendes Atomwaffenarsenal zu verhandeln. Umso mehr sollten die EU-Mitglieder in ihrem Dialog mit der Volksrepublik ebenfalls versuchen, China mit an den Tisch der nuklearen Rüstungskontrollverhandlungen zu holen.

Angesichts der skizzierten internen Differenzen erscheint es fraglich, ob die NATO eine Militärstrategie eigens für China formulieren wird. Sie sollte aber (4) die Mitgliedstaaten ermuntern, ihre jeweiligen Strategiedokumente zum Thema China zu koordinieren. Denn für einige ihrer Mitglieder ist China ein wichtiger Treiber der Außen- und Sicherheitspolitik. Dies gilt insbesondere für die USA und in geringerem Maß für Kanada, Frankreich und Großbritannien. Militärische Übungen im Indopazifik und Operationen für freie Schifffahrt im Südchinesischen Meer sollten die Mitgliedstaaten auf multilateraler oder bilateraler Ebene koordinieren und dabei auch NATO-Partnerländer wie Australien, Finnland, Japan, Neuseeland, Schweden und Südkorea einbeziehen.[29]

Die NATO sollte außerdem (5) ihre Beziehungen zu ihren bereits bestehenden Partnern im pazifischen Raum – Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan – vertiefen. Die politisch-konsultative Dimension dieser Verbindungen sollte sie erweitern durch regelmäßigere militärische Übungen (insbesondere Luft-, See- und Spezialkräfteübungen) und Operationen, darunter auch solche, die der Freiheit der Schifffahrt dienen. Derartige Unternehmungen unter der Flagge der NATO wären eine sinnvolle Ergänzung zu den amerikanischen See- und Luftübungen im Pazifik, an denen seit Langem auch europäische Verbündete teilnehmen. An früheren RIMPAC (Rim of the Pacific)-Übungen der USA waren beispielsweise Militärflugzeuge, Schiffe und Stäbe aus Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, den Niederlanden und Norwegen beteiligt.

Für eine optimierte Lagebildgewinnung und einen entsprechenden Informationsaustausch wäre es (6) ferner von Vorteil, im indopazifischen Raum, vielleicht in einem der Partnerstaaten der Region, ein Center of Excellence einzurichten und Offiziere ausgewählter Partnerstaaten in die Kommandostruktur des Bündnisses zu integrieren. Eine solche Initiative würde dazu beitragen, das Verständnis der Allianz für den indopazifischen Raum zu verbessern, ihre Präsenz in der Region zu institutionalisieren und die Partner mit den Aufgaben, Strukturen und Abläufen der NATO besser vertraut zu machen. Gegebenenfalls könnte man auch, um die Übungen und Operationen der NATO zu koordinieren, ein kleines militärisches Hauptquartier im indopazifischen Raum einrichten und zum Beispiel in das Center oder das Pazifikkommando der Vereinigten Staaten einbetten. Diese Maßnahme könnte ebenfalls zur Information der NATO über Entwicklungen in der Region beitragen und die Zusammenarbeit mit China fördern.

In diesem Zusammenhang gilt es (7) die Form und die Themen des direkten Austausches mit China zu definieren. Ausgangspunkt ist, dass die Volksrepublik es anzustreben scheint, auf Dauer eine europäische Macht zu werden. Einige Vorschläge zu einem NATO-China-Dialog oder gar einem permanenten NATO-China-Rat sind vor diesem Hintergrund bereits unterbreitet worden. Auch Angela Merkel hat im Kontext des Brüsseler Gipfels dafür plädiert, China ein institutionalisiertes Dialogangebot zu machen. Dieses würde analog zum NATO-Russland-Rat gebildet werden, dessen Wurzeln bis ins Jahr 1997 zurückreichen. Damit würden die Realität von Chinas wachsendem Einfluss und zunehmender Reichweite anerkannt. Die Bündnismitglieder würden angespornt, sich mit den von China ausgehenden Herausforderungen koordiniert, ernsthaft und umfassend zu befassen. Ein solches Forum würde unterstreichen, dass diese Dimension des Großmachtwettbewerbs nicht zwischen China und den Vereinigten Staaten besteht, sondern zwischen China und der transatlantischen Gemeinschaft, die durch gemeinsame Werte, Interessen und Geschichte verbunden ist. Es könnte ebenso dazu dienen, Möglichkeiten einer konstruktiven Zusammenarbeit mit China zu ermitteln und zu fördern, etwa bei der Bekämpfung von Piraterie. Noch erscheint dies verfrüht und angesichts der existierenden Spannungen unter den NATO-Partnern unpassend. Einstweilen wäre es verdienstvoll, die Koordinierung der chinapolitischen Strategiedebatten in der NATO und der EU in Gang zu bringen.[30]

Als Fehlschlag einer solchen Koordination muss das im September 2021 verkündete trilaterale Militärbündnis zwischen Australien, Großbritannien und den USA im Indopazifik gewertet werden. AUKUS (Kompositum aus den Buchstabenkürzeln der Staaten Australien, Vereinigtes Königreich und USA) traf zusammen mit Australiens Entscheidung, nuklear betriebene (jedoch nicht nuklear bewaffnete) U-Boote aus amerikanischer statt, wie ursprünglich geplant, französischer Fertigung zu erwerben. Die mangelhafte oder gänzlich fehlende Kommunikation von AUKUS mit Frankreich und der EU hat der transatlantischen Allianz einen diplomatischen (Frankreich auch wirtschaftlichen) Schaden zugefügt, den der Sicherheitsgewinn am Pazifik nur schwer ausgleichen dürfte. Die Ankündigung des AUKUS-Bündnisses erfolgte zeitgleich mit der am 16. September 2021 vorgelegten Indopazifik-Strategie der EU-Kommission und des Hohen Vertreters der EU.[31] Eine neue NATO-Strategie wäre ein erster Schritt zur Verbesserung der Präsenz der EU in der indopazifischen Region und Türöffner für ein kombiniertes Vorgehen der EU-Mitglieder bei der Bewältigung der entstandenen Herausforderungen. Sie könnte einen Ansatz bieten, die Indopazifik-Strategie der EU mit jener der USA zu koordinieren, und ein entsprechender künftiger Austausch dazu beitragen, den durch die AUKUS-Entscheidung entstandenen Schaden abzumildern. In einer Zeit, in der die NATO und die EU ein aufeinander abgestimmtes Engagement in der indopazifischen Region anstreben, sollten unkoordinierte und potenziell konkurrierende sicherheitspolitische Schritte tunlichst vermieden werden.

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Published Online: 2021-12-03
Published in Print: 2021-11-25

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 30.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2021-4003/html
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