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  • Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich
  • Gesa von Essen
Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich. Von Peter Sprengel. Berlin: Propyläen, 2009. 382 Seiten + 23 Abbildungen. €24,90.

Anfang April 1938 notierte Gerhart Hauptmann nach durchwachter Nacht in seinem Tagebuch: “Ich hatte ein Liebesweh. Ich sollte für ein Volk eintreten, das Jüdische. Eine Jüdin oder ein Jude? (Träume vereinigen Geschlechter) hing mir deshalb quälend schmerzlich an” (zit. nach 244). Nach ausgedehnten Aufenthalten in Österreich und Italien wieder nach Deutschland zurückgekehrt, hatte auch Hauptmann seine Augen [End Page 316] nicht länger vor der offenen Diskriminierung der Juden im Deutschen Reich verschließen können. Zwar verfolgten ihn diese Eindrücke zeitweilig offenbar geradezu “quälend” bis in seine Träume, veranlassten ihn aber keineswegs dazu, sich politisch zu exponieren und für die Rechte des jüdischen Volkes einzutreten. Wie Hauptmann überhaupt die von vielen erhoffte kritische öffentliche Stellungnahme zum nationalsozialistischen Regime schuldig blieb—der Gedanke gar, es Thomas Mann gleichzutun und ins Exil zu gehen, war ihm fremd.

Auch wenn Hauptmann also im Lande blieb und sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren wusste, wird man ihn kaum zur Gruppe der NS-Autoren rechnen können, da er zugleich zentrale Leitlinien nationalsozialistischer Politik wie etwa die Rassenhygiene im “Gestus eines anarchischen Individualismus” (84) dezidiert ablehnte. Umgekehrt hatten die Nationalsozialisten ihrerseits ein großes Interesse daran, Gerhart Hauptmanns Renommee als das eines national und international hoch geachteten Repräsentanten der deutschen Literatur propagandistisch für eigene Zwecke zu vereinnahmen. Seine Theaterstücke hatten daher (bis auf wenige—u.a. allerdings prominente: Die Weber!—Ausnahmen) weiterhin ihren Platz auf den Spielplänen der großen deutschen Bühnen, manche (Ur-)Aufführungen gerieten regelrecht zum nationalen Ereignis, und die Geburtstage des Dichters wurden öffentlichkeitswirksam mit gebührendem Aufwand—bis hin zur persönlichen Gratulation durch Reichskanzler Hitler—zelebriert. Schien Hauptmann also insbesondere in den Anfangsjahren des Regimes “eine goldene NS-Zukunft beschieden” (40) zu sein, so standen ihm führende Vertreter des Nationalsozialismus aber auch skeptisch gegenüber, da sie in ihm nach wie vor den Dichter der (naturalistischen) Moderne sahen, der vielen bis in die beginnenden dreißiger Jahre hinein als “Fels der Demokratie” (43) galt.

Das Verhältnis zwischen Gerhart Hauptmann und dem Nationalsozialismus lässt sich also keineswegs auf einen eindeutigen Nenner bringen, sondern ist auf beiden Seiten von vielfältigen Ambivalenzen geprägt. Nachdem die literaturwissenschaftliche Forschung lange Jahre dieses bis heute umstrittene Kapitel in Hauptmanns Biographie weitgehend gemieden hatte, haben in jüngerer Zeit vor allem Eberhard Hilscher (Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Frankfurt a. M. 1988, überarbeitete Neuauflage Berlin 1996), Jan-Pieter Barbian (“‘Fehlbesetzung.’ Zur Rolle Gerhart Hauptmanns im ‘Dritten Reich’” [1996]. In: Ders. Die vollendete Ohnmacht? Schriftsteller, Verleger und Buchhändler im NS-Staat. Ausgewählte Aufsätze. Essen 2008) und Rüdiger Bernhardt (“ . . . geschehen ist der Götter Ratschluss.” Gerhart Hauptmanns Delphi lag auf Hiddensee. Der Dichter in der Zeit von 1933 bis 1945. Halle 2006) erste kritische Annäherungen unternommen, die die wechselnden Interessenlagen und Erwartungshaltungen der beteiligten Protagonisten auszuleuchten suchten. Mit der 2009 erschienenen Monographie von Peter Sprengel über Gerhart Hauptmann im Dritten Reich (so der Untertitel) liegt nunmehr eine umfassende Gesamtdarstellung der späten Jahre des Dichters zwischen 1933 und 1945 vor, die schon allein angesichts der verarbeiteten Materialfülle, aber auch aufgrund ihrer differenzierten und ausgewogenen Urteilsbildung künftig als Standardwerk wird gelten können. Sprengel, zwei fellos einer der profundesten Kenner des Hauptmann’schen Œuvres, hat für seine Studie geradezu akribisch bisher unpublizierte Materialien aus dem Manuskript-und Briefnachlass Hauptmanns einschließlich der privaten Tagebuchaufzeichnungen (die Tagebücher aus den Jahren 1933 bis 1945 werden demnächst in einer von Sprengel und Bernhard Tempel betreuten Ausgabe erscheinen) ausgewertet sowie die ebenfalls [End Page 317] erhaltenen Bestände aus der Bibliothek des Dichters durchgesehen, die sich als sehr aufschlussreiche Quelle erwiesen, da Hauptmann besonders im Alter die Angewohnheit hatte, sich mit einer Fülle von Anstreichungen und kommentierenden Randbemerkungen in seine jeweilige Lektüre regelrecht “einzuschreiben” (23). Aus den Annotationen etwa zu Nietzsches Wille zur Macht, Hitlers Mein...

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