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  • Biographismus und Anti-Biographismus in philosophischen Goethe-Deutungen des 20. Jahrhunderts
  • Bernd Hamacher and Myriam Richter

Hans-Harald Müller zum 65. Geburtstag

I

Sowohl in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik allgemein als auch speziell in der Geschichte der Goethe-Forschung markieren die Jahre um 1910 eine Schwellenzeit,1 die vor allem durch den methodischen Paradigmenwechsel vom “Positivismus” zur “Geistesgeschichte” geprägt war. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser theoretischen Neuorientierung schien die Abkehr von der biographischen Methode zu sein. So sehr das wis-senschaftshistorische Stereotyp von der repräsentativen Gegensätzlichkeit jener Methoden inzwischen relativiert wurde,2 über den geistesgeschichtli-chen “Anti-Biographismus” scheint in der Forschung Konsens zu herrschen. Galin Tihanov zufolge markiere Wilhelm Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung (1906) den “turning point for German literary studies and the interpretation of Goethe, for it liberates literary criticism from the agenda of scrupulous biographical investigation and shifts the emphasis onto the study of those distinctive and stable features of the writer’s perception of the world which underlay his entire oeuvre.”3 Jörg Judersleben macht geltend, dass die lebensphilosophische “Absicht, Goethe zum Anti-Bürger . . . zu stili-sieren,” sich “durch nüchternen Rekurs auf Lebenstatsachen, Selbstzeugnisse und historische Bezüge” kaum habe verwirklichen lassen: “dem großspuri-gen Bekenntnis zum enthistorisierenden Wesensbild mag die stille Einsicht vorausgegangen sein, daß der historische Goethe einer solchen Apotheose allzuoft widersprechen würde. Ein biographischer Ansatz im traditionel-len Sinn mußte also schon auf Grund des eigenen Anliegens vermieden werden. . . .”4

Die Verschiebung von der “positivistischen” Biographie zum “geistege-schichtlichen” Wesensbild ging einher mit einer Verlagerung des Schwerpunkts der Goethe-Gesamtdarstellungen von der Germanistik zur Philosophie, was bereits aus zeitgenössischer Perspektive von Harry Maync in der zweiten Auflage seiner Geschichte der deutschen Goethe-Biographie konstatiert wurde.5 So kam es, dass schließlich einige der wichtigsten Goethe-Deutungen [End Page 193] des 20. Jahrhunderts von Philosophen stammten. Dass Goethe immer wieder im Verdacht stand, “philosophisch behindert[]”6 zu sein, hinderte die Philosophen keineswegs daran, sich mit ihm zu beschäftigen, im Gegenteil. Dass die philosophische Goethe-Konjunktur mit der Konjunktur der Geistesgeschichte korrelierte, legt unmittelbar den Schluss nahe, dass die philosophischen Goethe-Deutungen jener Zeit eher anti-biographistisch orientiert gewesen sein dürften. Und in der Tat: Als ihren kleinsten gemein-samen Nenner könnte man bezeichnen, dass es ihnen nicht um Goethes Biographie ging. “Die Absicht dieser Schrift ist weder eine biographische, noch geht sie auf Deutung und Würdigung der Goetheschen Dichtung.”7 So lautet der programmatische Eingangssatz von Georg Simmels 1912 (mit der Jahresangabe 1913) erstmals erschienener Goethe-Monographie, der ihm so wichtig ist, dass er ihn schon zu Beginn des folgenden Absatzes noch ein-mal variiert: “Es ist der völlige Gegensatz zu einer Darstellung, die den Titel: Goethes Leben und Werke—führen könnte.”8 Der geradezu apotropäische Gestus hätte misstrauisch machen können. Hans-Martin Kruckis behandelt Simmels Buch immerhin in seiner Darstellung der Goethe-Biographik bis Gundolf und schreibt, dass Simmel trotz der “deutlichen Rollenabgrenzung” “natürlich” immer wieder Biographisches einbringen müsse.9 Bereits 1914 bezeichnete es der Literarhistoriker und Goethe-Forscher Richard M. Meyer, der wohl klarsichtigste Kritiker Simmels,10 als “Selbsttäuschung,” wenn der Philosoph sein Ziel “ohne allen ‘Biographismus’ zu erreichen” glaube. Er habe vielmehr gut reden, “weil er von dem, was er prinzipiell für überflüs-sig erklären mag, hinter seinem eigenen Rücken doch wieder Gebrauch zu machen imstande ist.”11

Gleichwohl scheint die Arbeitsteilung zwischen Philologen und Literarhistorikern hier, Philosophen dort auf den ersten Blick ebenso klar wie die Opposition Positivismus—Geistesgeschichte. Aber vielleicht, wie schon Meyers Einwand deutlich macht, ist sie auch ebenso fragwürdig: Grund genug, die These vom vermeintlichen philosophischen Anti-Biographismus anhand zweier repräsentativer Beispiele—Georg Simmel und Ernst Cassirer—zu überprüfen. Den aktuellen Anknüpfungspunkt liefern uns rezente Fälle, bei denen jene Arbeitsteilung von philosophischer Seite überraschenderweise unterlaufen wird, nämlich in Form von philosophischen Stellungnahmen zu Goethes Biographie und vor allem zu seinem autobiographischen Projekt. Im Goethe-Jahrbuch 2006 schreibt der Philosoph und Idealismus-Experte Vittorio Hösle über Dichtung und Wahrheit und siedelt die “Identität . . . zwischen erzählendem und erzähltem...

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