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  • Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren by Matthias Dreyer
  • Kati Röttger (bio)
Matthias Dreyer. Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren. Paderborn: Wilhelm Fink 2014, 327 Seiten.

An Forschungsliteratur zur Tragödie herrscht bekanntermaßen kein Mangel. In Disziplinen wie den Literaturwissenschaften oder etwa auch der Philosophie werden Jahr für Jahr zahlreiche Beiträge aus verschiedensten, u. a. psycho-analytischen, ethischen oder auch postkolonialen Perspektiven vorgelegt. Vom bekannten Steinerschen Diktum des ‚Tods der Tragödie' kann in diesem Sinne keine Rede sein. Dennoch wird in jüngerer Zeit vermehrt darauf hingewiesen, dass die Tragödienforschung ein eklatantes Desiderat aufweist. So haben unter anderem Tina Chanter (2011), Page DuBois (2010) und zuletzt auch Hans-Thies Lehmann (2013) darauf aufmerksam gemacht, dass die Aufführungspraxis von Tragödien in der Forschung bislang kaum berücksichtigt [End Page 92] worden ist. Die traditionell allzu große Fixierung auf den Dramentext und damit verbundene poetologische Fragestellungen haben bislang den Blick auf die unmittelbare Zuschauererfahrung im Hier und Jetzt des Spiels verstellt. An diesem Punkt ist die Theaterwissenschaft gefragt. Hans-Thies Lehmann setzte den Ton, indem er in seinem beinahe 750 Seiten umfassenden Buch den Anspruch erhebt, eine neue Theorie der Tragödie zu entwerfen, welche die tragische Erfahrung in den Mittelpunkt rückt. Zwar bildet die Gegenwärtigkeit der Tragödie in Europa von der Antike bis zum postdramatischen Theater den Leitfaden des Buches. Allerdings bleibt auch in diesem Fall die Aufführungspraxis von Tragödien außen vor. Das Konzept der tragischen Erfahrung wird bei Lehmann vielmehr als poetologische Kategorie eingeführt, mittels derer die Geschichte der Tragödie anhand relevanter Texte revidiert wird.

Das besondere Verdienst von Matthias Dreyers Buch besteht vor diesem Hintergrund darin, vor allem die Aufführungspraxis von antiken Tragödien seit den 1960er Jahren in den Blick zu nehmen. Diesen innovativen Ansatz begründet er in erster Linie mit der seitdem explosiv angestiegenen Anzahl von Antike-Inszenierungen. Dass„im ganzen Zeitraum von der Antike bis zu den 1960er Jahren nicht annähernd so viele Inszenierungen griechischer Tragödien entstanden sind wie seit dieser Zeit" (S. 13) stellt er in einen direkten Zusammenhang mit dem Scheitern humanistischer Werte im Zuge der „Erschütterung westlicher Kultur durch die Shoah", die „einen radikalen Einschnitt im Verständnis von Bildung, Tradition und Historie" erforderte(S. 14). Die Gegenwärtigkeit der Tragödie in der Aufführungserfahrung wird damit zwar in den Vordergrund gestellt, aber direkt zurückgebunden an das Geschichtliche. Von zentraler Bedeutung für dieses Anliegen ist der bereits im Titel prominent genannte Begriff der Zäsur. Angelehnt an Hölderlins poetologische Kategorie der „Cäsur", die dieser in seinen berühmten Anmerkungen zur Antigonä und Anmerkungen zum Oedipus entwickelte, handelt es sich um eine Zusammenführung der zwei Dimensionen des „Denkens der Zäsur": die Zäsur im Sinne einer ästhetischen und im Sinne einer geschichtlichen Diskontinuität. Mit dieser Zusammenführung verbindet Dreyer verschiedene Ansprüche, die so bisher noch nicht an die Untersuchung von Tragödien herangetragen wurden. Zum einen geht es Dreyer darum, das Bewusstsein für die historische Bedingtheit von Theater mit der Ereignishaftigkeit von Aufführungen gedanklich zu verknüpfen. Zum anderen zielt er auf die Reflexion der Geschichtlichkeit des Theaters selbst in den ausgewählten AntikenInszenierungen ab. Damit verbindet sich geradezu selbstredend die Bedingung, dass Ereignishaftigkeit als emanzipatorischer Ansatz gewertet werden muss, denn sie steht Dreyer zufolge für die Erfahrung des Bruchs mit geschichtlichen Prozessen, von denen das Theater selbst auch einen Teil ausmacht. Dreyer zieht hier einen klaren Strich hinter die bis weit in die 60er Jahre herrschenden Tradition einer, wie er es nennt, universalistischen Auseinandersetzung mit der Antike, (für die ihm zufolge u. a. Namen wie Wolfgang Schadewaldt und Hans-Georg Gadamer stehen), die von Tendenzen der Aneignung und des Historizismus geprägt seien. Sein Interesse gilt hingegen dem Unzeitgemäßen und Diskontinuierlichen, die mit gegenwärtigen Inszenierungen altgriechischer Tragödien in das moderne Theater gebracht werden. Dass allerdings Gadamer und Schadewaldt hier in einem Atemzug genannt werden, ist insofern nicht ganz unproblematisch, als ja gerade Gadamer die Tragödie als hervorragendes Beispiel...

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