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GABRIELLE BERSIER Ottilies verlorenes Paradies. Zur Funktion der Allegorie in den Wahlverwandtschaften: Wieland—Brentano—Goethe ι Wohlbekannt ist die spur, die von der Hauptfigur der Wahlverwandtschaften zur blinden Nonne aus dem Elsaß, Sankt Odilia, der Schutzpatronin der Blinden und Augenleidenden führt. Diese fromme Spur legte Goethe selber, als er in Dichtung und Wahrheit seine Wallfahrt auf den Odilienberg während der Straßburger Zeit in Zusammenhang mit der Entstehung seiner Romangestalt brachte. "Das BUd, das ich mir von ihr machte, und ihr Name prägte sich tief bei mir ein," schrieb Goethe. "Beide trug ich lange mit mir herum, bis ich endlich eine meiner zwar spätem, aber darum nicht minder geliebten Töchter damit ausstattete."1 Wie andere seiner Äußerungen zu seinem rätselhaften Roman schuf Goethes gezielter Hinweis für die Mit- und Nachwelt sowohl Verwirrung als auch Klärung. Eben an dieser lange gesch ürten Heiligenlegende und an der christlichen Erhöhung der entsagenden Ottilie zur Madonna und Märtyrerin nährt sich in jüngerer Vergangenheit das steigende Unbehagen an Ottilie und den Wahlverwandtschaften . 2 Eine andere, irdischere, doch nicht minder selige Spur soll hier gezeichnet werden, da sie ebenfalls in ein Paradies führt. Namen- und Seelenverwandte zu Goethes enigmatischer Romanfigur verbergen sich bezeichnen- 138 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA derweise im Bereich der Idylle. Von der OttiUe der Wahlverwandtschaften über die Otilie, genannt auch TUie in Clemens Brentanos Godwi oder das steinerne Bild der Mutter (1801), führt diese literarische Spur zur arkadischen Tilia in Wielands Erfolgsroman Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian (1772). Daß diese Namensverwandtschaft nicht rein zufällig ist, dafür spricht die große Behutsamkeit des Autors bei der Benennung oder Nichtbenennung seines gesamten Romanpersonals. Man hat in Bezug sowohl auf Eduard, Charlotte, Mittler, Luciane, als auch auf den namenlosen Hauptmann von "Ironie," "Abgründigkeit," ja sogar "auktorialer Selbstherrlichkeit " der Namengebung gesprochen.3 Ebenso bedeutend dürfte auch der Name der Hauptgestalt OttUie sein. Er beinhaltet mehr als die Affinität zum Kind Otto. So beachtenswert, wie die geheime Konvergenz der vier Individualitäten im identischen Gattungsnamen Otto ist,4 so auffällig mutet die gemeinsame Herkunft der drei wichtigsten Namenträger Charlotte, Eduard und OttiUe in der literarischen Kultur des 18. Jahrhunderts an. Wenn Charlottens Name auf kühle, rationalistische Salonkultur anspielt und Eduards gewählter Name englische Vorromantik wachruft, so deutet Ottiliens versteckter Name TUia auf IdyUik und Utopie der Aufklärungszeit hin. In Wielands Goldnem Spiegel erscheint Tilia als die "junge Schäferin" und "Tochter eines gemeinen Landmannes," die dem messianischen Erlöser, dem Idealprinzen Tifan zur Gattin ausersehen wird. Dort steUt die Vermählung des neuen Gesetzgebers mit TUia, der "Tochter der Natur," die letzte Stufe und den Gipfel der rousseauistischen Erziehung des aufgeklärten Idealherrschers dar. "Tifan wurde Gemahl, ohne weniger Liebhaber zu seyn," heißt es bei Wieland; "er wurde Vater, und in dem Augenblick, da er die ersten Früchte einer keuschen Liebe an seine Brust drückte, fühlte er, daß er selbst in den Armen der schönen TUia die süßeste Regung der Natur noch nicht gekannt hatte."5 Die typisch wielandsche ironische Überspielung der IdyUe hebt keineswegs ihren programmatisch-utopischen Charakter auf. Hier wird das naturrechtliche Credo der Aufklärung in ein vereinigendes FamilienbUd gefaßt. Gefühl und Vernunft, Natur und Gesellschaft , Liebe und Ehevertrag, Familie und Staat erscheinen als harmonisches Ganzes, als TotaUtätsvision. Die Tilia-Tifan Idylle ist eine geschichtsphUosophische AUegorie, welche den aufklärerischen Glauben an die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs von Naturzustand zur ZivUisation, vom 'Code de la Nature' zum 'Code CivU,' ausdrücken soU. Doch wenngleich der idyllische Identitätspunkt von Natur und Gesellschaft Hoffnung und Utopie der Aufklärung versinnbildlicht,6 zeigt sich die Allegorie auch als eine patriarchaUsch-defensive. Diese Ambivalenz liegt der Modelosung "Tochter der Natur" zugrunde, die die biologische Naturgebundenheit der Frau in den Vordergrund stellt als eine wesensmäßige, natürliche Unschuld im naturrechtlichen Sinne, und damit impUzit auch die Befangenheit, Gabrielle Bersier 139 Gefährdung, Schutz- und Gesetzbedürftigkeit der Frau als Naturwesen unterstreicht. Weibliche Unschuld bedarf patriarchalischer Schranken, denn sie ist eine latent zweideutige. Sie bedarf des Gesetzes als eines äu...

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