Nebiha Guiga: SOZIALE LEBENSWELTEN UND DER ALLGEMEINE HUMANITARISMUS

Abb. 1: Farbige gusseiserne Spendenbüchse in Form eines überdachten Rettungsbootes der Hospitaliers Sauveteurs Bretons, Rennes, Musée national de la Marine, Paris, CC BY-SA 4.0

Frankreichs Seenotrettungsgesellschaft, die Société Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM), geht auf einen Zusammenschluss zweier Einrichtungen zurück, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ursprünglich unterschiedlichen Zielsetzungen entstanden sind: Die Société Centrale de Sauvetage des Naufragés (SCSN) wurde 1865 unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Eugénie speziell zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Der 1873 im bretonischen Rennes gegründeten Société des Hospitaliers Sauveteurs Bretons (SHSB) hingegen ging es allgemein um die Rettung von Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren (Abb. 1, Spendenbüchse). Die Seenotrettung war für diese Gesellschaft also nur Teil eines weit größeren Projekts. So sahen die umfangreichen Regularien der SHSB den Aufbau einer Verwaltung vor, zu der auch Priester und Ärzte gehörten, die sich um das Wohlergehen aller Beteiligten kümmern sollten. Eine eigene Sektion zu Disziplinarmaßnahmen legte sogar Strafen für Gewalt gegen Tiere oder Mangel an Höflichkeit fest. Doch schon nach wenigen Jahren konzentrierte sich die SHSB entgegen ihrer ursprünglichen Zielsetzung fast ausschließlich auf die Rettung schiffbrüchiger Seeleute. In dieser Entwicklung zeigt sich eine Spannung, ein erklärungsbedürftiges Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen, allgemeinen humanitären Anspruch und der praktischen Umsetzung konkreter Maßnahmen.

Dieses Missverhältnis ist von Bedeutung, weil es auf ein weit größeres Problem verweist, und zwar das Verhältnis zwischen der Universalität des Anspruchs und der Begrenzung des Einzelanliegens, das für humanitäre Bewegungen kennzeichnend ist. Um zu verstehen, wie solche Spannungsverhältnisse in einer robusten humanitären Praxis aufgefangen werden, ist es erforderlich, sowohl die an der Rettungsbootbewegung beteiligten Personengruppen, vornehmlich Unterstützer und Rettungskräfte, als auch die Netzwerke verschiedener Akteure, die daraus entstanden sind, zu untersuchen. Die Jahresberichte der SCSN sind hierfür eine ergiebige Quelle, denn sie enthalten nicht nur namentliche Aufstellungen aller Spender, sondern auch Angaben zu deren Beruf und Wohnort und mitunter sogar zur Höhe des gespendeten Betrags.

Mithilfe einer im Rahmen des Teilprojekts eigens eingerichteten Datenbank, die über 5000 Namen ab 1865 verzeichnet, ist es uns mittlerweile möglich, ein genaueres Bild der SCSN in ihrer Anfangszeit zu erstellen: Die Spender wurden von der Gesellschaft selbst in zwei Gruppen eingeteilt, in fondateurs (Gründungsmitglieder), die mehr als 100 Francs gespendet haben bzw. einen Jahresbeitrag von 20 Francs leisteten, und in donateurs (Spender), die weniger spendeten. Zusätzlich gab es ein Statut für Mäzene, die noch größere Summen stifteten, die sogenannten bienfaiteurs (Wohltäter). Unter allen Spendern gab es Menschen aus unterschiedlichen Berufsgruppen, doch die meisten von ihnen waren in irgendeiner Form in der Seefahrt tätig, etwa in der Fischerei, im Seehandel oder Versicherungswesen. Hinzu kamen zahlreiche Marineoffiziere und Matrosen, wobei letztere vor allem Sammelspenden entrichteten. Dabei gab es mindestens drei voneinander zu unterscheidende Spenderprofile: 1) wohlhabende Spender aus dem städtischen Raum, die in die politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen eingebunden waren, 2) Beamte und Militärangehörige (einschließlich Diplomaten und Kolonialverwalter) und 3) Spender aus den Küstenorten. Obwohl diese vermutlich wohlhabender waren als die Rettungsleute selbst, die wahrscheinlich sogar ebenfalls spendeten (Spenden unter 5 Francs wurden nicht einzeln registriert), dürften sich die beiden Gruppen nicht allzu sehr voneinander unterscheiden. Die SCSN zeichnete sich zudem durch enge Verbindungen zum französischen Staat sowie durch ihre Einbindung in die Netzwerke des Seehandels aus. Diese Netzwerke scheinen sowohl auf lokaler, als auch auf globaler Ebene bestanden zu haben, da zahlreiche Spenden aus den Kolonien oder dem Ausland kamen.

Was die Rettungsleute selbst anbelangt, so existieren für die Zeit bis in die 1950er Jahre kaum Personalverzeichnisse. Die für das 19. Jahrhundert verfügbaren Informationen deuten jedoch darauf hin, dass die Besatzungsmitglieder der Rettungsboote aus Küstengemeinden stammten und meist in der kommerziellen Seefahrt tätig waren, und zwar vor allem als Fischer. Um die Bedeutung des Humanitarismus im Allgemeinen für ihr Leben als Freiwillige besser einschätzen zu können, empfiehlt sich ein mikrohistorischer Ansatz. So lässt sich besser nachvollziehen, wie die Rettungsstationen in die Gemeinschaften vor Ort integriert waren und wie sie mit Vertretern anderer humanitärer Einrichtungen auf lokaler Ebene zusammenarbeiteten.

Die Aufzeichnungen der Carro-Station bei Marseille zeigen beispielsweise, dass die Besatzung der Boote von den 1860er Jahren an bis zum Ende der Aufzeichnungen 1936 größtenteils aus Fischern bestand. Da das örtliche, für die Rettungsstation verantwortliche Komitee in der Regel vom Pfarrer geleitet wurde und der Sekretär häufig der örtlichen Küstenwache angehörte, ist anzunehmen, dass eine zweifache Verbindung bestand, nämlich zu anderen humanitären Akteuren genauso wie zu den staatlichen Behörden. Die Einsatzberichte, die mitunter von den Rettungsbootfahrern selbst verfasst wurden, vermitteln einen Eindruck der Gefahren, denen sie auf See ausgesetzt waren. Und sie verdeutlichen, dass sie nicht als einzige für die Rettungsaktionen verantwortlich waren. Die Fischer, die Hafenbehörden sowie die lokale Bevölkerung spielten dabei ebenfalls eine bedeutende Rolle. Während der Humanitarismus im Allgemeinen in diesen Berichten nur selten erwähnt wird, spiegelt er sich dennoch in der Würdigung der Lebensretter wider, und das auch außerhalb der Rettungsbootbewegung.

Übersetzung: Dirk Naguschewski

Die Historikerin Nebiha Guiga ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL im Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Die englische Originalfassung ihres Beitrags erschien auf dem Faltplakat »Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800« (2022), wo alle Projektmitarbeiter*innen ihre aktuellen Forschungen vorstellen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Nebiha Guiga: Soziale Lebenswelten und der allgemeine Humanitarismus, in: ZfL Blog, 6.12.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/12/06/nebiha-guiga-soziale-lebenswelten-und-der-allgemeine-humanitarismus/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221206-01

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