Der Sammelband von Claudia Garnier und Christine Vogel widmet sich vormoderner interkultureller Ritualpraxis. Dafür haben die beiden Historikerinnen ein einigermaßen abgegrenztes Feld gewählt, nämlich die im Untertitel genannte »diplomatische Interaktion an den östlichen Grenzen der Fürstengesellschaft«, was vor allem das Großfürstentum bzw. Zarenreich Moskau sowie das Osmanische Reich umfasst. Garniers und Vogels Einführung (7–17) umreißt knapp und lesbar die Forschungsfragen des Bandes, der aus einer 2012 an der Universität Vechta abgehaltenen Tagung hervorgegangen ist. Dass der kompakte Band zwei Schwächen aufweist, ist Ergebnis der kongruenten Perspektiven seiner Beiträge, die zugleich seine Qualität begründen.
Garnier und Vogel interessieren sich für die Konfrontation der europäischen Zeremonialord | nung mit fremdartigen Zeichensystemen (9). Denn Gesten diplomatischer Ehrerweisung können und konnten historisch in interkulturellen Kontakten neue Bedeutungen infolge regional abweichender Regeln erfahren. Der Band bietet anschauliche Beispiele für unterschiedliche, ähnliche und frappierend gleiche Auslegungen symbolischer Kommunikation. Als Avantgarde einer Ritualgeschichte des vormodernen diplomatischen Zeremoniells liefert er somit auch einen Beitrag zum Verhältnis von Europa und dem »Anderen«. Immer wieder wird von den Autorinnen und Autoren daher die Wirksamkeit bzw. Nichtwirksamkeit von Stereotypen diskutiert, wobei die Zuschreibungen aus westlicher Sicht dominieren: »Ordnung«, »Reichtum«, »Galanterie« machten die Europäer bei sich selbst aus, »Prunk«, »Dekadenz«, »Barbarei«, »Bestialität« hefteten sie den anderen an (10, 73, 133f., 136).
»(West)Europa« taucht im Band wiederholt als rituell relativ homogener politisch-geographischer Raum auf. Titulaturen, Empfangszeremonielle und andere symbolische Ehrenzeichen hatten sich in der politischen Öffentlichkeit der europäischen Fürstenhöfe homogenisiert und im Druck verbreitet. Als Rituale konstituierten sie gerade deswegen auch Europa als politisch-kommunikative Gemeinschaft. Ein mehrfach im Band aufscheinendes Beispiel ist die westeuropäische Vorstellung, Gesandte als »Ebenbilder ihrer Fürsten« anzusehen und daher mit fürstlicher Ehre behandeln zu müssen (13, 58, 100, 107f.). Demgegenüber betrachtete man sie im Osmanischen Reich als bloße Funktionsträger des Sultans und maß ihnen im Ritual einen niedrigeren Rang zu (173).
Die Differenzen zwischen Europa und jenem Anderen konnten teils konfliktentschärfend wirken, teils eskalierten sie Konflikte. Verschärfend wirkten sich identische Leseweisen dort aus, wo in gleich verstandenen Ritualpraktiken Rangkonflikte ausgetragen wurden (84). Solche gleichen, vermutlich universellen Leseweisen traf man insbesondere bei räumlichen Ober- und Unterordnungen (59). Herausgeberin Garnier interpretiert die »Ritualpraxis am Moskauer Hof aus der Perspektive westlicher Gesandter« (41–69) und weist auf die »Treppen als besonders sensible Stätten der Begegnung« hin (41). Nicht minder delikat und interkulturell verständlich war die Frage, wer sich wem zu Pferd oder zu Fuß näherte (43) oder gar das pathetische Niederwerfen zu Boden als Geste der Unterordnung (59). Lesenswert sind Garniers schöne Analysen der politischen Strategien der Gesandten, die Gegenseite zu täuschen und performativ zu übertölpeln, indem man Erwartungshaltungen antizipierte und durch Nicht-Mitwirkung am Ritual unterlief. Parallel dazu bestand die Erwartung an die Diplomaten, sich in fremdes höfisches Zeremoniell zu integrieren (56). Die richtige Balance zu finden, gehörte ins Aufgabenportfolio des vormodernen Diplomaten. Seine zeremoniellen Antagonisten fand dieser nicht nur am empfangenden Hof, sondern auch in den europäischen Amtskollegen und sogar in manchem Vorgänger, der es über Nicht-Anerkennung von Abberufungsschreiben und durch Zeremonialblockaden listig vermied, seinen Posten zu räumen. Denn wenn keine Antrittsaudienz des Neuen beim Sultan stattgefunden hatte, konnte man selbst noch ein bisschen im Amt verharren (Kühnel, 112).
Jan Hennings widmet sich scharfsinnig dem frühneuzeitlichen Gesandtschaftsritual in vergleichender Perspektive und untersucht den englischen und den russischen Überlieferungsstrang (71–94). Er beobachtet die Verschriftlichung und ständige Reiteration zeremonieller Normen im zwischenhöfischen Austausch (80) und analysiert Unterschiede der Organisation und Dokumentation (83). Florian Kühnel wählt ein besonders originelles Thema, nämlich die »Übertretung der diplomatischen Rituale und die Stellung der Gesandten am osmanischen Hof« (95–122). Denn die Quellen verraten, dass Botschafter immer wieder und beinahe stereotyp behauptet haben, von den Osmanen ganz besonders und über das übliche Maß hinaus geehrt worden zu sein (96). Kühnel interpretiert diesen literarischen Topos als gezielte kommunikative Strategie westlicher Diplomaten, sich der ihnen zugemuteten Zeremonien als Unterwerfungsrituale zu entziehen (106). »Zuviel der Ehre!« war daher eine Abwehr anstößig scheinender Zumutungen im Mummenschanz eigener Bescheidenheit. Doch dies ist laut Kühnel überflüssig gewesen, denn aus osmanischer Sicht blieben die Gesandten reine Bevollmächtigte und galten eben nicht als Abbilder fremder Herrscher (109f.). Die westlichen Diplomaten waren in dieser Leseweise gewissermaßen Opfer ihrer eigenen Vorstellung von »embedded diplomacy«: Sie betteten ihr Handeln semiotisch exklusiv in symbolische Codes des Westens ein, deren politische Konsequenzen sie fürchteten. Ihre Berichte nach | Hause sollten eine alternative Leseweise propagieren, die freilich auf einer interpretatorischen Verkürzung beruhte.
Der Band überzeugt durch eine konsequent durchgehaltene Forschungsfrage und eine hohe, gleichmäßige Vertrautheit der AutorInnen mit dem derzeitigen Stand von historischer Ritualpraxis und -theorie. Immer wieder wird auf die Schriften Barbara Stollberg-Rilingers, Christian Windlers und André Krischers rekurriert. Diese einheitliche Fokussierung in Frage und Beantwortung kann man unter zwei Gesichtspunkten zugleich als Desiderat lesen:
Erstens nähert sich der Band der interkulturellen Ritualpraxis beinahe ausschließlich aus deutscher Perspektive. Und eines der interessantesten Ergebnisse ist, dass gerade »keine klare Trennung zwischen europäisch-westlicher auf der einen und russischer Diplomatie auf der anderen Seite« identifiziert werden kann (Hennings, 84). Umso mehr hätte interessiert, wie die gleichen oder andere Quellen von russischen oder türkischen HistorikerInnen gelesen worden wären. Welche Narrative hätten sie mit den Zeremonialkonflikten verbunden? Wären sie sich auch einig über historische Unter- und Überordnungspraktiken gewesen, und wie hätten sie die Begegnung von Europa und seinem »Anderen« konstruiert? Die am Ende der Einführung programmatisch formulierte Absicht, »die eurozentrische Sicht auf die vormoderne Diplomatie zu überwinden« (14), hätte durch die Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer besser umgesetzt werden können. So ist es am ehesten der Budapester Historiker Gábor Kármán unter den AutorInnen, den man mit einiger Vorsicht als Repräsentanten einer nicht-deutschen Forschungstradition anführen kann; allerdings verbrachte auch Kármán sechs Jahre am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) an der Universität Leipzig, bevor er 2013 nach Budapest zurückkehrte. Sein origineller Beitrag widmet sich siebenbürgischen Gesandten in Ofen (145–180), von denen das Küssen der Hände oder des Ärmels des Gewandes des dortigen osmanischen Statthalters erwartet worden war. Auch Kármán weist darauf hin, dass an der Peripherie des osmanischen Reiches regionale Ordnungssysteme »mit je eigenen, von allen Mitgliedern akzeptierten Regeln und Gebräuchen« bestanden (146). Damit wird erneut die Gegenüberstellung von Europa und dem osmanischen Reich als dem Anderen als Fiktion enttarnt. Hand- und Gewandkuss zählten eigentlich zum normalen zeremoniellen Prozedere (169), aber der Pascha von Ofen hatte anders als die Hohe Pforte selbst nicht die Macht, die habsburgischen Gesandten dazu zu zwingen (170). Außerdem bestand die Deutungsmöglichkeit, die unterwürfige Geste als im eigenen Namen, nicht in dem des Fürsten vollzogen zu haben (171). Anders gesagt: Abweichende Vorstellungen über Repräsentation und Hierarchie ermöglichten hier, an der Peripherie des osmanischen Reiches, musterhaft eine diplomatische Konfliktentschärfung in der interkulturellen Begegnung.
Zweitens führt die fachliche Geschlossenheit der im Band ausschließlich schreibenden Historikerinnen und Historiker zu einem Desiderat juristischer Natur. Fragen von Normativität und juristischer Geltung werden immer wieder gestreift, aber nicht wirklich vertieft. Gerd Althoff (Rituale als lingua franca im Hochmittelalter?, 19–39) unterstreicht, dass die rituelle Kommunikation Rechte und Pflichten bekräftigte und Aussagen über deren Gültigkeit auch in der Zukunft traf (21). Garnier wiederum meint: »Die Geste des Hutabnehmens selbst war Element eines interkulturell verstandenen Kommunikationscodex« (47). Hennings erinnert daran, dass zeremonielle Normen »der Wahrung des ›Herkommens‹, wie es im Deutschen oder des ›Precedent‹, wie es im Englischen heißt [, dienten]« (80). Die manifesteste Verbindung des Herkommens zum Recht besteht in der Vorstellung eines Präzedenzrechts (Kühnel, 101, Vogel, 128), die zugleich in Einklang mit der Norm der Gleichheit der Völkerrechtssubjekte (104) zu bringen war.
Rechte und Pflichten, Herkommen, Codex, Präzedenz: Diese – zugegebenermaßen aus den Kontext der Darstellungen gerissenen – Begriffe mögen in ihrer semantischen Breite das normative Problem illustrieren. Denn die diplomatische Ritualpraxis der Vormoderne beschäftigte sich mit einem vielfältigen Ensemble sozialer Verhaltensweisen. Dabei lässt sich relativ leicht erkennen, dass gemeinsame Vorstellungen über die performative Wirkung bestimmter Gepflogenheiten bestanden, deren Geltungsgründe aber umso schwerer anzugeben sind. Der Begriff des »Herkommens« wirkt hier vermutlich als ein Bindeglied zwischen Recht und sozialen Konventionen. Dennoch scheint es, dass einige Konfliktfelder eine stärkere Affinität zu juristischen Deutungen aufwiesen, andere eher als Ausdruck von bloßer Höflichkeit | und damit von geringerer Verbindlichkeit betrachtet wurden – und zwar schon von den zeitgenössischen Akteuren selbst. Zeremonielle Herabsetzungen ebenso wie Anerkennungen konnten im gleichen Medium ausgesprochen und von der höfischen Öffentlichkeit verstanden werden. Aber waren sie dennoch das Gleiche? Man wird den Verdacht nicht los, dass hier ein weites Feld bestand, in dem verschiedene normative Ordnungen zusammenwirkten, und nicht jede Frage der zeremoniellen Ehre hatte Rechtsstatus. Auch die Frage, ob Konfession und Religion eine Rolle gespielt haben, hätte in dieses Feld von Multinormativität gehört.