Grégoire Bigot, Rechtshistoriker an der Universität Nantes, ist wie Pierre-Laurent Frier und François Burdeau, denen er beiden verbunden ist,1 Spezialist für die Geschichte der französischen Verwaltung und des Verwaltungsrechts vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts.2 Seine beiden Bände »L’Administration française« sind heute das maßgebende Handbuch für die Zeit bis 1944 – ein dritter Band wird erwartet.3 Im vorliegenden Sammelband vereint er nun acht große Artikel aus den Jahren 2000 bis 2012, die sich mit Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart befassen. In einer sehr informativen Einleitung von fast 50 Seiten werden das Forschungsfeld selbst sowie dessen Wissenschaftsgeschichte entfaltet. Die Studien sind nicht europäisch vergleichend angelegt, sondern – von kurzen Seitenblicken auf Italien und Deutschland abgesehen – ganz auf Frankreich konzentriert.
Wie in Deutschland setzen sich in Frankreich seit dem späten 18. Jahrhundert die Ausdrücke »droit constitutionnel« (Konstitutionsrecht) und »droit administratif« (Administrativrecht) durch. In den Staaten des Deutschen Bundes wandeln sie sich ab etwa 1830 in »Verfassungsrecht« und »Verwaltungsrecht«, und Letzteres wird in den ersten Lehrbüchern, wie nicht anders möglich, länderspezifisch dargestellt. Die süddeutschen Verfassungsstaaten gehen dabei voran. Auch in Frankreich erscheinen um diese Zeit die ersten Professuren für Verwaltungsrecht. Aber der verfassungspolitische Hintergrund und die Wissenschaftsgeschichte des Verwaltungsrechts beruhen auf ganz anderen Grundlagen. Das zentralistisch organisierte Frankreich bleibt trotz der Revolutionen und des Wechsels der Staatsformen im Wesentlichen in der gleichen administrativen Spur. Die von Napoleon geprägte Verwaltung sperrt sich lange und erfolgreich dagegen, gerichtlich kontrolliert zu werden, jedenfalls von einer unabhängigen Judikative. Frankreich ist das Land der Gesetzgebung und der Exekutive. »La loi« und der »service public« als Arm der zweiten Gewalt bleiben das Maß aller Dinge. In Deutschland dagegen bauen das liberale Bürgertum und die Judikative eine Front gegen die monarchische Verwaltung auf, setzen die Unabhängigkeit der Justiz durch und realisieren am Ende den materialen »Rechtsstaat«, der Verfassungsqualität erlangt.4 Die Justiz wird die eigentliche Beschützerin der Rechte – und schließlich der Grundrechte – des Bürgers »gegen« den Staat. Das sei, sagt Bigot zu Recht, eine »idée allemande«, aber auch er betrachtet heute die Frage »Qui garantit les droits subjectifs contre la puissance de l’État?« (XLII) als den roten Faden seines Buchs.
Man versteht die immer noch spürbaren Unterschiede zwischen beiden Ländern nur, wenn man mit Bigot auf die Gründungsgeschichte von Verwaltung und Verwaltungsrechtsschutz zurückgeht (Kap. 1). Sie beginnt 1789 mit generellem Misstrauen gegenüber der Justiz des Ancien Régime und deren Zurückdrängung, um die Ergebnisse der Revolution gegen Restitutionsforderungen zu sichern. Es gibt nur Legislative und Exekutive, während die Justiz als Teil der Exekutive nur für »l’application pure et simple de la loi« zuständig war, wie der Abgeordnete Cazalès 1790 sagte. Rechtsschutz gegen die Verwaltung gab es in Fällen von »excès de pouvoir«, wofür vor allem ab 1852 der zum zentralen Verwaltungsgericht sich wandelnde Conseil d’État zuständig war (Kap. 2).5 Angesichts der Dominanz von Staatswille (Gesetz) | und dessen Durchsetzung (Exekutive) kam es auch nicht zu der für das Deutschland des 19. Jahrhunderts so typischen scharfen Zweiteilung in Gesellschaft (Privatrecht) und Staat (öffentliches Recht), so dass sich der französische Bürger in allen wesentlichen Rechtsschutzfragen an die Zivilgerichtsbarkeit zu halten hatte. Die Exekutive behielt ihre Handlungsfreiheit (Kap. 3). Der erste Teil des Buchs schließt mit einer Abhandlung zur religiösen Verankerung der Legitimität hinter wechselnden Verfassungskulissen. Wurde die Verwaltung einst durch die Sakralität des Königtums gestützt, so trat nun an die Stelle des Königs das sakralisierte »Gesetz«, der zum Text geronnene Wille der Nation.6 Dass das Gesetz eine fiktive oder quasireligiöse Zuschreibung an die aus Wille und Vorstellung gemachte mystische Person »Staat« darstellt, haben Pierre Bourdieu und Pierre Legendre mehrfach unterstrichen.7 Auf die damit verbundenen »Fiktionen«, darunter auch die des Staates als »juristische Person«, geht Bigot in den letzten drei Artikeln seines Buches ein.
Der zweite Teil des Buchs widmet sich der Einrahmung und allmählichen Stützung von Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit durch Verfassungsrecht. Nur »allmählich«; denn das Modell der dominanten Exekutive konnte sich lange gegenüber wechselnden Verfassungen immunisieren. Das Verwaltungsrecht blieb das Recht der »puissance publique«, und zwar auch während der Restaurationsepoche und der Julimonarchie, ja mit dem Tribunal des Conflits sogar über die Revolution von 1848 hinaus und erst recht mit der Konzentration der Exekutive in der Hand des Chef de l’État Napoléon III. Zögerlicher als in Deutschland bildete sich eine Opposition gegen eine nur verwaltungsinterne und letztlich vom Ministerium gesteuerte Kontrolle, die dem Bürger von vornherein verdächtig war, wenn er sich effektiv gegen seinen Staat wenden wollte. Erst die Dritte Republik setzte mit dem Gesetz vom 24. Mai 1872 und mit dem berühmten Fall Blanco vom 8. Februar 1873 eine Zäsur zugunsten einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit.8 Das implizierte eine Stärkung des Gedankens der bürgerlichen Freiheit gegen das Vertrauen auf das »Gesetz« und gegen die doktrinäre Égalité von 1789.
Wie zögerlich dieser Prozess verlief, zeigt sich auch an der Lehre des Verwaltungsrechts an den Universitäten, die wie in Deutschland mit den 1830er Jahren einsetzte (Poitiers, Toulouse, Rennes, Grenobles, Aix, Strasbourg, Dijon, Caen). Die aus ihr entstehenden ersten Handbücher waren aber kaum mehr als Zusammenstellungen des geltenden Rechts. Das änderte sich erst unter den anderen Verfassungsbedingungen der Dritten Republik. Von da an schien es möglich, Verwaltungsrecht als eigene wissenschaftliche Disziplin zu entfalten, etwa in den zentralen Werken von Léon Duguit und Maurice Hauriou.9 Dass sich dieser Prozess auch am Ende des 19. Jahrhunderts zeitlich parallel in Deutschland vollzog (F.F. Mayer, O. v. Sarwey, E. Loening, O. Mayer, W. Jellinek) und dort mit der Begründung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zusammenfiel,10 ist frappierend, sollte aber nicht die weiter wirkenden Unterschiede beim Rechtsschutz des Individuums verwischen. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verlieren sie sich, so dass auch in Frankreich von einem Übergang des État de loi zum materialen verfassungsgebundenen État de droit mit verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz gesprochen werden kann.11 Der genannte »rote Faden« des Buchs von Bigot, wer die subjektiven Rechte des Einzelnen gegen die Macht des Staates schützen könne, impliziert eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des 19. Jahrhunderts. Es geht um die Rolle der Justiz als unabhängige Dritte Gewalt, um die Unterordnung der Exekutive nicht nur unter das Gesetz, sondern auch unter die Verfassung und deren Verzahnung mit dem Gesetzesrecht. Die Rechtsgeschichte des Verwaltungsrechts, zu der das diffe | renzierte und gedankenreiche Buch von Bigot wesentlich beiträgt, kann, wie man sieht, die retrospektive Aufklärung derjenigen aktuellen Fragen voranbringen, die bei der Homogenisierung des europäischen Rechtsschutzes gegen die Administrationen im »Mehrebenensystem« auftreten.