Justiz ist nicht allein Sache der staatlichen Gerichtsbarkeit. Gegenwärtig rückt dies immer stärker ins Bewusstsein. Über internationale Wirtschaftsschiedsgerichte, islamische »Friedensrichter«, Sportschiedsgerichte oder justizähnliche Gremien an amerikanischen Universitäten, die über Fälle sexueller Gewalt entscheiden, kann man mittlerweile in den Tageszeitungen lesen. Justizmäßige Entscheidungsinstitutionen, in denen nichtstaatliche Akteure eine – im wahrsten Sinne des Wortes – entscheidende Rolle spielten, sind inzwischen auch in der Rechtsgeschichte ein beliebtes Thema. In der deutschen rechtshistorischen Forschung sind dies vor allem die Schwurgerichte,1 die Gewerbegerichte (bzw. ihre Vorläufer)2 und die Schiedsgerichte,3 bei anderen Spielarten, z.B. den vielfältigen Ausprägungen der Handelsgerichtsbarkeit,4 fehlt es noch an eingehenderen Untersuchungen – ganz zu schweigen von jenen spezialisierten und teilweise kurzlebigen paritätischen Gremien, in denen die sozialen und ökonomischen Konflikte des Interventions- und Sozialstaats austariert wurden.5
Was aber ist »popular justice« oder – wie der Titel der Tagung lautete, aus dem die Beiträge des hier rezensierenden Bandes hervorgegangen sind6 – »Volksjustiz«? Die Überlegungen, die die Herausgeber in der Einleitung des Bandes hierzu anstellen, zeugen durchaus vom Bewusstsein um die Ambiguität des Begriffs. Einer recht knappen, schneidigen und auf den ersten Blick eingängigen Definition, nämlich »exercise of justice by ›the people‹« (8) (die mehr Fragen provoziert als Antworten bietet), folgt eine Auflistung von Untersuchungsperspektiven: Unter dem Dach von »popular justice« lassen sich volkstümliche Reaktionsszenarien auf Regelabweichungen – oder schlicht auf unpopuläres Verhalten – untersuchen oder Interaktionsmuster zwischen staatlicher Justiz und betroffenen Bevölkerungsgruppen oder staatlich organisierte und eingehegte Konfliktlösungseinrichtungen, in denen nichtstaatlichen Akteuren ein wesentlicher Entscheidungsanteil eingeräumt ist. Kernfragen sind dann: Wie nimmt man Abgrenzungen zu Nicht-Volksjustiz vor? Inwiefern lässt sich »Volksjustiz« als Dialogforum zwischen Staat (bzw. Eliten) und Bevölkerung konturieren? Inwiefern konstituierte sich Volksjustiz als europäisches Phänomen, ist also zu einem Gutteil als Rezeptionsresultat und als Effekt wegweisender Gestaltungskonzeptionen, die von einem nationalstaatlichen, gleichwohl aber universale Geltung beanspruchenden Zentrum ausgingen, verständlich? Zeitlich fokussiert sind diese Fragestellungen auf das 18. und 19. Jahrhundert, also jene Zeit, in der sich das staatliche Rechtsprechungsmonopol immer stärker Geltung verschaffte.
Damit wird ein weites Feld eröffnet, welches erst einmal dadurch strukturiert wird, dass man die Beiträge nach Organisationsformen bzw. Praxisfeldern ordnet. Für die ersten beiden Abschnitte leuchtet dies unmittelbar ein: Friedensrichter und Schwurgerichte werden hier behandelt. Darauf soll zunächst eingegangen werden.
Den Friedensrichtern widmen sich die Beiträge von Michael Broers und Giuseppina D’Antuono. Ersterer konzentriert sich auf die Frage, wie sich die Friedensrichter funktionell in jenes Modell von Staatlichkeit einordnen ließen, welches sich im von Napoleon beherrschten Europa durchzusetzen | versuchte. Ein Aspekt scheint hier besonders interessant. Auch in jenen (französisch besetzten) Gebieten, die schon vorher moderne Kodifikationen und Gerichtssysteme geschaffen hatten, erstreckte sich deren Wirkung oft nicht auf das ländliche Hinterland, in dem weiter traditionelle Ordnungen der Konfliktlösung herrschten. Die Aufgabe der Friedensrichter, die gerade auch die ländliche Welt verwalten sollten, war es, Streitigkeiten zunächst vor allem durch Schlichtung beizulegen. Gelang dies jedoch nicht, hatten sie die modernen Codes zur Anwendung zu bringen. Sie waren Agenten des Staates in der Peripherie, sollten Verstaatlichung aber unter den Bedingungen der Peripherie vorantreiben. So gesehen handelte es sich um Staatsjustiz im Gewande der Volksjustiz (soweit man hierbei auf die »Nähe zum Volk« und auf die Berücksichtigung der lokalen Gesichtspunkte im Rahmen der Schlichtung abstellt). Eine etwas andere Perspektive wählt D’Antuono, die die Einführung dieses Instituts im Königreich Neapel behandelt. Der Ruf nach dem Friedensrichter als Element einer freiheitlichen und volkstümlichen Verfassung war zunächst einmal auch Programmpunkt der einheimischen liberalen Eliten. Aus dieser Perspektive, die die Verfasserin größtenteils nachzeichnet, wurde Volksnähe auch dadurch gewährleistet, dass Eliteangehörige als Friedensrichter fungierten.
Auf ein breiteres Fundament wird Volksjustiz in den Beiträgen über die Schwurgerichte von Emmanuel Berger, Bram Delbecke und Martin Löhnig gestellt. Berger zeichnet die Entstehung der Jury in Frankreich nach, zeigt die Vorbildrolle Englands, aber auch, in welch verschiedenen Richtungen sich die sich oberflächlich gleichenden Jurymodelle entwickelten: In England verblieb es bei einem starken Einfluss der privaten Parteien, in Frankreich dominierten staatliche Akteure das Geschehen; in England arbeiteten Jury und Richter in flexibler Weise kooperativ zusammen, in Frankreich etablierte sich eine strikte Arbeitsteilung zwischen Vorsitzendem und Geschworenenbank. Delbecke befasst sich mit der Debatte über das Geschworenengericht in den Vereinigten Niederlanden bis 1831, also in den Gebieten des heutigen Belgiens und der Niederlande. Hier zeigt sich, wie unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven unterschiedliche Haltungen zur Jury hervorbrachten. In den südlichen Niederlanden waren es die französischen Richtungskämpfe der nachnapoleonischen Zeit und die dortige Aufladung des Geschworenengerichts mit Freiheitspathos, welche viele belgische Liberale in ihrer Haltung zu diesem Institut beeinflussten; in den nördlichen Niederlanden orientierte man sich eher an der frühen deutschen Debatte, die doch noch stark von der skeptischen Haltung Feuerbachs bestimmt war (der Meinungsumschwung in den Rechtswissenschaften kam erst später, in den 1840er Jahren). Die Diskussion und die gesetzliche Entwicklung in Deutschland, speziell in Bayern, lassen sich im Beitrag von Löhnig nachverfolgen. Mit Recht verweist er auf den wichtigen Einwand Feuerbachs gegen die Hochstilisierung der Jury als Forum, in dem Gleiche über Gleiche entscheiden. Denn dies würde eine kaum praktizierbare – und so von den Befürwortern auch nicht ins Auge gefasste – von der sozialen Zugehörigkeit des Angeklagten abhängige fallweise Besetzung der Geschworenenbank erfordern. Damit ist auch ein wichtiger Aspekt angesprochen, der die Einstufung von Schwurgerichten als »Volksjustiz« betrifft. Der Bildung der Geschworenenliste war ein Zensus vorgeschaltet, der einen Großteil des Volkes exkludierte, nämlich jene, die nicht die gesetzlichen Mindestanforderungen bezüglich Vermögen oder Bildung erfüllten. Das Schwurgericht des 19. Jahrhunderts war wohl Laiengericht, aber nicht »Volksgericht«.
Demgegenüber auf eine breitere soziale Basis gestellt sind jene Justizformen, die im dritten Abschnitt von David Churchill und Peter King sowie von Émilie Delivré behandelt werden. Churchill und King befassen sich mit einer Form von Justiz, von der es schwer fällt, sie als solche zu bezeichnen: dem »ducking«. Bezeichnet wird damit die englische Praxis, auf frischer Tat ertappte Straftäter einer Art Waterbording in Flüssen oder noch unappetitlicheren Gewässern zu unterziehen. In irgendeiner Weise justizförmig geregelt war dies nicht. Ankläger, Richter und Vollstrecker in einem war eine zufällig zusammengesetzte Volksmenge, von einem geregelten Verfahren, mit Beweisaufnahme oder gar Angeschuldigtenrechten, konnte keine Rede sein und auch bei welchen Delikten diese Praxis zur Anwendung kam, hing eher von lokalen Bedingungen ab, in Großstädten waren es meist Taschendiebstähle – wohl weil auch der typische Fall der handhaften Tat. Um formalisierte Praktiken handelte es sich dagegen bei den von Delivré behandelten Verfahren vor den »Rügegerichten«, wie sie auch im 19. Jahrhundert noch in einigen deutschen Staaten existierten. Rügegerichte traten | jährlich oder in größeren Abständen zusammen, zusammengesetzt aus einem staatlichen Beamten, Angehörigen der lokalen Elite und weiteren Repräsentanten der Ortsbevölkerung. In aller Regel an den Anfang gestellt waren die Verlesung von neuen Gesetzen und Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Landesherrn. Dann folgte der Aufruf zur Meldung justizrelevanter oder aus anderen Gründen öffentliches Eingreifen erfordernder Vorkommnisse. Die Beurteilung und Sanktionierung erfolgte meist unmittelbar. Hier verbanden sich noch frühneuzeitliche Bestrebungen zur Durchsetzung obrigkeitlicher »Polizey« mit traditionellen Formen genossenschaftlicher Rechtsverfolgung.
Lässt man all diese Spielarten von »Volksjustiz« Revue passieren, zeigt sich die Vielfalt der Phänomene einerseits und offenbart sich die Unbestimmtheit dieses Terminus andererseits. Will man Abstufungen auf einer Skala vornehmen, die sich am Grad der Staatsintegration ausrichtet, ist an einem Ende das »ducking« anzusiedeln, am anderen Ende der Friedensrichter. Richtet man sich nach dem Grad der Formalisierung, haben wir es wieder mit dem »ducking« am einen Ende, dann aber mit den Schwurgerichten am anderen Ende zu tun. Gleichzeitig lassen sich solche Skalen aber auch in jede Richtung erweitern, was die Frage nach Grenzziehungen auslöst. Ist jede Volkszornentladung gegenüber Missetätern oder auch nur missliebigen Zeitgenossen Volksjustiz? Auf der anderen Seite: Wie stark muss das Laienelement sein, um noch von Volksjustiz sprechen zu können? Diese Frage zielt in zwei Richtungen. Zum einen stellt sie auf die Laieneigenschaft von Richtern, hier von Friedensrichtern, ab. Denn diese wiesen durchaus kein einheitliches Profil auf. Mussten die französischen Friedensrichter überhaupt keine juristische Ausbildung vorweisen, so war für die rheinländischen mindestens das Referendarexamen vorgeschrieben.7 Und zum anderen fragt sich, welches Gewicht die Laienbeteiligung in kollegialen Gremien haben muss. Ist die Grenze überschritten, wenn die Laien nicht mehr in der Mehrzahl sind oder keinen eigenständigen Entscheidungsanteil mehr haben? Wie »volkstümlich« muss ein staatlicher Beamter sein, um ihn noch in diese Kategorie einordnen zu können? Und sind hochprofessionelle Schiedsgerichte, die in einem bis ins Detail geregelten Verfahren ausdifferenzierten materiellen Entscheidungsvorgaben folgen, Institutionen der Volksjustiz, bloß weil es sich um nichtstaatliche Akteure handelt?
Diese Unsicherheiten bei der Anwendung des Begriffs machen ihn aber nicht rechtsgeschichtlich untauglich. Vielmehr wird die Aufmerksamkeit – und darin liegt auch der über die Einzelstudien hinausgehende Verdienst des Sammelbandes – gelenkt auf rechtshistorische Untersuchungsrichtungen, die durchaus lohnenswert erscheinen. Dies sind m.E. vor allem vier.
Erstens ist das 18./19. Jahrhundert jene Zeit, in der »vormoderne« Residuen traditioneller Konfliktlösung noch weiterwirkten, auch wenn sie zunehmend in die Defensive gerieten. Inwiefern sich diese noch behaupten konnten, gar die Debatten um »moderne« Justiz prägen konnten, wäre eine Forschungsfrage, der man vertieft nachgehen sollte.
Zweitens war Volkstümlichkeit ein integraler Bestandteil von Modernisierungsbestrebungen. Dies mag ein Kompromiss gewesen sein, um modernen Konzeptionen in moderater Weise zur Realisierung zu verhelfen, oder ein dezidierter Programmpunkt, weil sich damit Demokratievorstellungen verbinden ließen.
Drittens war Volkstümlichkeit auch ein Problem von »access to justice«. Waren Verfahren zu kompliziert und wurden hierdurch jene sozialen Schichten, die sich keine Anwälte leisten konnten, von einer effektiven Rechtsverfolgung ausgeschlossen, litt Justiz an einem Legitimationsproblem. Solchen Stimmungslagen hat z.B. Gierke Ausdruck verliehen: »Deutsch ist unser geltender Civilprozess nicht. Volksthümlich ist er auch nicht. Und am wenigsten ist er sozial.«8 Die Diskussion um Volkstümlichkeit konnte somit auch die Debatte um die Reform der staatlichen Justiz erfassen.
Und viertens wird der Blick auf gesellschaftliche Differenzierungen gelenkt, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen treten Vorstellungen von »Volk« hervor, wie sie in bürgerlichen Konzeptionen von Volksjustiz deutlich werden: Volk nicht als Gesamteinwohnerschaft eines Territoriums, sondern als derjenige Teil der Population verstanden, dem aufgrund wirtschaftlicher Selbständigkeit | oder formaler Intelligenzbescheinigung Verantwortung und damit auch Teilhabe an der Justiz zugewiesen werden kann. Zum anderen wird Volk funktional ausdifferenziert. Als volkstümlich gilt auch das Recht einzelner, funktional abgrenzbarer sozialer Gruppen – Beselers Verortung von Volksrecht (auch) im Recht der Kaufleute und sein Votum für Handelsgerichte verdeutlichen dies schon.9 Volksjustiz wird dann zur Justiz von »Teilvölkern«, für deren interne Angelegenheiten oder für deren Konflikte mit anderen Gruppen spezielle Gerichtsbarkeiten geschaffen werden müssen. – Dies ist auch ein Rationalitätskern von Volksjustiz: Recht nach den Vorstellungen derer durchsetzen, die davon betroffen sind. In Volksjustiz ist dann auch die Konsequenz von judicial pluralism angelegt.