Gesundheitswesen 2016; 78 - A77
DOI: 10.1055/s-0036-1586587

Verwirklichungschancen in der zweiten Lebenshälfte: Zusammenhänge zwischen Gesundheit und positiven Freiheiten

NA Götz 1, B Babitsch 1
  • 1Universität Osnabrück, Osnabrück

Hintergrund: Vertikale soziale Ungleichheitsmaße werden vor allem mit Indikatoren wie Einkommen, Bildung und berufliche Stellung erhoben. Allerdings wird schon länger die Aussagekraft dieser vertikalen Dimensionen sozialer Ungleichheit in Frage gestellt. Ein ergänzender Ansatz zur Beschreibung sozialer Ungleichheit ist der „Capability Approach“ (CA), auch als Verwirklichungschancen-Ansatz bezeichnet. Nach dem CA werden positive Freiheiten im Sinne von Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten als Maßgröße für Wohlergehen betrachtet.

Ziel der Fragestellung: Im Rahmen der quantitativen Studie sollte der Zusammenhang zwischen Verwirklichungschancen und unterschiedlichen Gesundheitsvariablen im höheren Lebensalter betrachtet werden sowie die generelle Verteilung der Verwirklichungschancen (auch nach soziodemographischen Aspekten).

Methodik: Da der CA bisher nicht mittels Primärdaten für die deutsche ältere Bevölkerung operationalisiert worden ist, wurde ein sequenzielles qualitatives-quantitatives Studiendesign gewählt. Nach der Identifikation von Indikatoren im Sinne von Verwirklichungschancen, mittels neun qualitativer Interviews mit älteren Personen und einer anonymen Expertenbefragung (n = 4) zur Validierung und Reduktion des Indikatoren-Sets, wurde eine quantitative Pilotstudie im November und Dezember 2015 durchgeführt, innerhalb der Bevölkerung (≥61 Jahren) aus der Stadt Osnabrück. Der Rücklauf der Einwohnermeldeamtsstichprobe lag bei 647 Fragebögen von 2.968 versandten Fragebögen.

Ergebnisse: Die Analyse der Verteilung von Verwirklichungschancen zeigte ein sehr heterogenes Bild. Es gaben z.B. nur 33,5% (n = 647) der Personen an, „etwas bewegen und mitwirken zu können in der Gesellschaft“, jedoch 87,2% (n = 647) „sich über Leistungen des Gesundheits- und Pflegesystems informieren zu können“. Weitere Auswertungsergebnisse zeigen, dass positive Freiheiten einen entscheidenden Zusammenhang mit Gesundheitsmerkmalen haben, insbesondere im psychischen Gesundheitsbereich (PHQ9 Screening). Des Weiteren scheinen insbesondere nichtfinanzielle Faktoren eine immense Bedeutung für die psychische Gesundheit zu haben.

Diskussion/Fazit: Positive Freiheiten im Sinne von Verwirklichungschancen scheinen in einem engen Zusammenhang mit (insb. psychisch) wahrgenommener Gesundheit zu stehen, so dass aus lebenskontextnahen Verwirklichungschancenindikatoren, im Gegensatz zu abstrakteren Schichtindikatoren, ein präventionspolitischer Handlungsbedarf potenziell sinnvoll abzuleiten scheint. Mit seiner anti-paternalitischen Ausrichtung und der Fokussierung auf Freiheiten, anstatt auf Verhalten oder Nutzen, ist der CA damit ein anschlussfähiges Konzept zur Verwendung im Public Health Bereich. Referenzen beim Verfasser.