Z Sex Forsch 2024; 37(01): 47-48
DOI: 10.1055/a-2227-1842
Bericht

Zwischen Online-Forum, Hotelbesuch und Pflegeheim: Bericht über den 2. Fachtag „Sexarbeit in Thüringen“ am 4. Oktober 2023 in Erfurt

Nicola Döring
Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft, Technische Universität Ilmenau
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Exakt ein Jahr nach dem 1. Fachtag „Sexarbeit in Thüringen“ lud die Fachberatungsstelle Allerd!ngs: Support Sexwork Thüringen am 4. Oktober 2023 zum zweiten Fachtag ein. Der Zuspruch war sogar noch größer als beim ersten Mal: Rund 50 Fachkräfte aus unterschiedlichen Thüringer Institutionen hatten sich vor Ort eingefunden. Vertreten waren beispielsweise regionale Gesundheits-, Bürger- und Ordnungsämter, Stadtverwaltungen, regionale Stellen von pro familia und der Aidshilfe sowie von queeren Netzwerken und nicht zuletzt die regionale Presse. Der Veranstaltungsort lag im politischen Herzen der Landeshauptstadt Erfurt – direkt gegenüber vom Landtag und in Sichtweite der Beratungsstelle Allerd!ngs: Das Eissportzentrum Erfurt hatte bei laufendem Betrieb seinen im oberen Stockwerk gelegenen Tagungsraum für die Veranstaltung geöffnet. Die Raumtemperatur über den Eisbahnen war etwas niedriger, dafür konnten wir in den Pausen durch die Fenster das Training im Eishockey, im Eisschnelllauf und schließlich auch das öffentliche Schlittschuhlaufen beobachten.

Eröffnet wurde der Fachtag mit einem Grußwort von Gabi Ohler, der Thüringer Beauftragten für die Gleichstellung von Frau und Mann (https://www.gleichstellungsbeauftragte-thueringen.de/). Sie übt qua Amt die Fachaufsicht über die Beratungsstelle aus und ließ erkennen, dass sie die Arbeit und Expertise von Allerd!ings sehr schätzt.

Den ersten fachlichen Input lieferte die Sexualwissenschaftlerin, Journalistin und Gründerin der Gemeinnützigen Stiftung Sexualität und Gesundheit (GS:SG) Harriet Langanke (https://www.stiftung-gssg.org/die-stiftung/stifterin/). Sie berichtete von Ergebnissen eigener empirischer Studien mit Freiern. Dabei hat sie erfolgreich verschiedene Forschungsmethoden umgesetzt: Durch langjährige Kontakte zu Online-Freier-Foren und deren Administratoren konnte sie die dortigen Diskussionen – mit informierter Einwilligung der Forumsmitglieder – anonymisiert auswerten. Gleichzeitig war es ihr möglich, mit einigen Freiern aus den Foren Gruppendiskussionen durchzuführen, um die Befunde der Forenanalysen zu untermauern. Nicht zuletzt konnte sie Ergebnisse einer im Freier-Forum durchgeführten Fragebogen-Erhebung mit mehreren Hundert Teilnehmenden präsentieren. Die Daten geben anschauliche Einblicke in die Sichtweisen der Sexarbeitskunden, ihre Erwartungen, Befürchtungen und etwa ihre Haltung zu Hygiene und Gesundheitsprävention im Kontext Sexarbeit. Die ausdifferenzierten Ergebnisse stehen im Widerspruch zu Narrativen der Anti-Sexarbeits-Bewegung, die grundsätzlich alle Freier als potenzielle Gewalttäter einordnet. Im Sinne der Gesundheitsprävention ist es wichtig, die Sichtweisen der Freier gut zu kennen, etwa um sie zielgerichtet durch Online-Informationsangebote darüber aufzuklären, wie sie sexuell übertragbaren Infektionen beim Bezahlsex durch Eigeninitiative vorbeugen können (z. B. Projekt www.sexsicher.de).

Es folgte ein Vortrag von Nicola Döring, Professorin für Medienpsychologie und Medienkonzeption an der Technischen Universität Ilmenau (www.nicola-doering.de). Als Spezialistin für psychosoziale Aspekte der digitalen Kommunikation befasst sich die Wissenschaftlerin seit vielen Jahren unter anderem auch mit Fragen der Sexualität und Sexarbeit in Online- und Offline-Kontexten. Sie wies zunächst darauf hin, dass Sexarbeitsforschung keineswegs eine Nische darstellt, sondern führende wissenschaftliche Literaturdatenbanken wie PubMed oder Web of Science inzwischen Tausende von Studien zu Sexarbeit bzw. Prostitution nachweisen. Um hier Übersicht zu behalten, sei der Studientyp der systematischen Literaturübersicht (engl. systematic review) besonders wichtig. Denn in öffentlichen Debatten sei oft das Narrativ zu finden, es gebe zu jeder Studie, die einen bestimmten Effekt postuliert, ebenso eine Studie, die das Gegenteil behauptet. Doch eine solche Beliebigkeit existiert in der seriösen Wissenschaft eben nicht. Vielmehr kann anhand von systematischen Literaturübersichten genau ermittelt werden, in welche Richtung die Mehrzahl der methodisch seriösen Studien weisen und was somit den wissenschaftlichen Konsens bzw. die aktuelle Evidenzlage ausmacht. So gibt es – wie die Referentin anhand von Beispielstudien aufzeigte – einen klaren wissenschaftlichen Konsens, der von der Schädlichkeit der Kriminalisierung von Sexarbeit für die Gesundheit, Lebens- und Arbeitsbedingungen der Sexarbeitenden ausgeht. Weiterhin ging der Vortrag darauf ein, was bei qualitativen Interviewstudien, bei quantitativen Umfragen sowie bei Dokumentenanalysen von Presseartikeln oder Gerichtsakten zu beachten ist, um methodisch saubere und aussagekräftige Studien im Bereich Sexarbeitsforschung zu erkennen bzw. umzusetzen.

Nach den zwei wissenschaftlichen Inputs berichteten die Mitarbeiterinnen der Fachberatungsstelle Allerd!ngs, Delia Dancia und Lena Kunert, (https://allerdings-thueringen.de/) von ihren praktischen Erfahrungen in zwei Jahren Fachberatung. Dabei spielten nicht Klagen über die Kunden oder über die Sexarbeit als solche eine Rolle, wie Außenstehende vielleicht vermuten würden. Vielmehr seien die Hauptprobleme der ratsuchenden Sexarbeitenden damit verbunden, sich gemäß Prostituiertenschutzgesetz behördlich anzumelden, die gesundheitliche Pflichtberatung zu absolvieren, sich beim Arbeitsamt abzumelden, sich beim Finanzamt anzumelden, trotz teilweise länderübergreifender beruflicher Mobilität die Steuererklärung zur richtigen Zeit beim jeweils zuständigen Finanzamt einzureichen, sich bei einer Krankenkasse anzumelden oder bei fehlender Krankenversicherung dennoch die notwendige medizinische Versorgung zu erhalten. Lebenspraktische und bürokratische Fragen sind gemäß Erfahrung der Beraterinnen prägend und verlangen nach pragmatischen Lösungen. Dabei sei gerade auch die gute Vernetzung der Beratungsstelle wichtig, um Ratsuchende bedarfsgerecht mit Informationen und Verweisen auf weitere Ansprechpersonen versorgen zu können.

Nach der Mittagspause nahm die Sexarbeiterin Lydia (www.versuchung-lydia.de) das Fachpublikum mit in ihren Arbeitsalltag. Unaufgeregt und anschaulich schilderte die studierte Sozialarbeiterin, wie und warum sie sich vor zwanzig Jahren entschied, in die Sexarbeit einzusteigen, wo sie zunächst für eine Escort-Agentur und für ein Pornografie-Label tätig war, bevor sie ihre Selbstständigkeit aufbaute. Heute empfängt sie an drei Tagen pro Woche Kunden in ihrer Gästewohnung und macht Hotelbesuche. Meist melden sich Männer aller Altersgruppen und Schichten, vereinzelt kommen Paare. Die höchst seltenen Anfragen von Frauen hätten bislang noch nicht zu einem Termin geführt. Lydias Schilderungen, wie sie die Kundentermine gestaltet, auf die jeweiligen Bedürfnisse des Gegenübers eingeht, gleichzeitig aber auch professionell ihre Grenzen wahrt und für ihre Sicherheit sorgt, verdeutlichten, welches Bündel an Fähigkeiten und Fertigkeiten hinter professioneller Sexarbeit steckt. Hier betonte Lydia die große Bedeutung der Vernetzung in der Szene, um sich etwa wechselseitig vor schwierigen Kunden und Betrugsmaschen zu warnen. Lydia ist in ihrem privaten Umfeld als Sexarbeiterin geoutet und engagiert sich für die Rechte von Sexarbeitenden, indem sie aufklärt und auch bereit ist, mit ihrem Gesicht vor die Kamera zu treten.

Es folgte der Vortrag der Sexualassistentin Sibille Schäfer (www.sibilleschaefer.com). Sie bietet passive und aktive Sexualbegleitung für Menschen mit Behinderungen und gesundheitlichen Einschränkungen an. Das bedeutet, dass sie ihre Dienstleistung nicht nur direkt mit den Kund*innen aushandelt, sondern dass noch Pflegekräfte, Angehörige, Wohnheimleitungen usw. involviert sind und mitentscheiden wollen, ob und wann die Dienstleisterin Bewohner*innen besuchen darf. Sibille Schäfer erklärte einfühlsam und engagiert, warum es für Menschen mit Beeinträchtigungen so wichtig ist, bei Bedarf „eine Adresse für Streicheleinheiten“ zu haben, wie sie ihren Service beschreibt. Dabei geht es nicht darum, sich als Sexualassistentin von der Sexarbeit abzugrenzen, sondern eher die Besonderheit ihres Tätigkeitsumfelds zu verdeutlichen. Ein wichtiger Akzent liegt darauf, Menschen, die durch Krankheiten oder Behinderungen häufig Einschränkungen in ihrer Körperlichkeit erleben, einen Freiraum zu eröffnen, in dem sie jenseits von Leistungsdruck – und teilweise erstmalig im Leben – verschiedene Dimensionen der Erotik erfahren. Unterschiedliche Arten von wohltuenden Berührungen und Massagen spielen eine wichtige Rolle, aber auch z. B. erotische Hypnose.

Im Verlauf des Tages dünnte das Publikum naturgemäß etwas aus, da Folgetermine wahrgenommen und Züge erreicht werden mussten. Doch am Ende war noch ein harter Kern von Interessierten geblieben, um abschließend in einer Plenumsdiskussion offene Fragen in konzentrierter und freundlicher Atmosphäre zu diskutieren. So stimmten die Fachberaterinnen von Allerd!ngs den Ausführungen von Sibille Schäfer zu, dass für Sexualbegleitung in Wohneinrichtungen die Offenheit der Leitungen und der Pflege sehr wichtig sei. Hier stehe man in Thüringen mit der Aufklärungsarbeit aber noch am Anfang, das Thema sei noch „sehr fremd“. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass gemäß dem Prostituiertenschutzgesetz mit seinen Sperrbezirksregelungen das Problem besteht, dass die Wohneinrichtungen meist im Sperrbezirk liegen. Als zukunftsträchtig wurde eine Projektidee des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD; https://www.berufsverband-sexarbeit.de/), beim Fachtag vertreten durch seine politische Sprecherin Johanna Weber, diskutiert: Eine bundesweite Datenbank für Sexualassistenz soll angelegt werden, damit Interessierte, Angehörige, Pflegekräfte usw. zielgerichtet in Erfahrung bringen können, welche Dienstleistenden in der Region tätig sind, die z. B. Sexualassistenz bei Demenz oder Querschnittlähmung anbieten. Nicht zuletzt durch den demografischen Wandel gewinnt das Thema Sexualassistenz an Bedeutung. Es ging aber auch um Fragen nach angemessenen Begrifflichkeiten: Ist „selbstbestimmte Sexarbeit“ ein passender Begriff, um von Menschenhandel und Zwangsprostitution abzugrenzen? Welche anderen Begriffe wären schlüssig, etwa „konsensuelle Sexarbeit“?

Immer wieder kam auch die Frage auf, welche Einstellungen zu Sexarbeit denn in der breiten Öffentlichkeit bestehen und wodurch diese geprägt werden. Dabei wurde wiederholt auf Negativbeispiele wie stigmatisierende Presseberichte verwiesen, ebenso jedoch auf positive, sensibilisierende Medienbeiträge (z. B. den US-Spielfilm „The Sessions – Wenn Worte berühren“). Hier besteht somit Forschungsbedarf, die fiktionalen und nicht-fiktionalen Mediendarstellungen der Sexarbeit systematisch zu analysieren. Auch weitere untererforschte Themen wurden im Verlauf des Fachtags angerissen: Welche Rolle spielt Elternschaft in der Sexarbeit? Welche langfristigen Effekte der COVID-Pandemie auf die Branche sind erkennbar? Gibt es womöglich als Reaktion auf die Distanz- und Hygieneregeln der Pandemiezeiten jetzt eine gestiegene Nachfrage nach kondomlosem Sex? Und welche Effekte haben die vom Prostituiertenschutzgesetz verlangte verpflichtende Gesundheitsberatung und Anmeldung? Inwiefern stoßen diese Maßnahmen auf Misstrauen und Angst und sorgen eher dafür, dass Sexarbeitende sich zurückziehen und gar nicht mehr erreichbar sind für Fachkräfte?

Genug Stoff also, um sich weiter mit den komplexen Arbeits- und Lebensrealitäten von Sexarbeitenden zu befassen und dabei mit ihnen zu sprechen anstatt nur über sie. Interessierte können sich den Termin für den 3. Fachtag „Sexarbeit in Thüringen“ gleich in den Kalender schreiben, denn der steht schon fest: 4. Oktober 2024.



Publication History

Article published online:
12 March 2024

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