Rehabilitation (Stuttg) 2011; 50(1): 4-6
DOI: 10.1055/s-0030-1270436
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bedarfsfeststellung: Gesetzliche Grundlagen, derzeitige Praxis und aktuelle Forschungsfragen – Thinking Outside the Box …

Needs Assessment: Legal Foundations, Current Practice and Research Topics – Thinking Outside the Box …
Further Information

Publication History

Publication Date:
14 February 2011 (online)

Der Anspruch des Neunten Sozialgesetzbuchs (SGB IX) ist hoch: Durch geeignete Maßnahmen sollen Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen am Leben in der Gesellschaft gefördert werden (§ 1 SGB IX). Noch einen Schritt weiter geht die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die seit März 2009 auch in Deutschland geltendes Recht ist. Sie fordert, „ein Höchstmaß an Unabhängigkeit … und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren” (Art. 26 Abs. 1 UN-BRK; Hervorhebung d. Verf.). Selbst wenn man diesen idealen Anspruch nicht in vollem Umfang zu teilen bereit ist und „nur” ein Optimum an Teilhabe erstrebt, ist klar, dass hierzu ein umfassendes Arsenal an Maßnahmen erforderlich ist. Diese Maßnahmen müssen unterschiedliche Lebensbereiche adressieren, darunter vor allem Gesundheit, Beschäftigung, Bildung, soziale Unterstützung und Unterhalt (vgl. auch [1]).

Eine wesentliche Voraussetzung für die Konkretisierung von Ansprüchen auf Leistungen zur Teilhabe im obigen Sinn ist die Feststellung von individuellem Bedarf. Auch die Planung von Diensten und Einrichtungen zur Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben hängt ganz wesentlich von der – in diesem Fall sozialepidemiologischen – Bedarfsschätzung ab [2]. Die individuelle Bedarfsfeststellung ist (in Deutschland) zentraler Bestandteil des Verwaltungsverfahrens über Leistungen zur Teilhabe und obliegt den Rehaträgern. Ihr kommt entscheidende Bedeutung zu, weil auf ihr nicht nur die anschließende Leistungsentscheidung beruht, sondern (z. B. im Rentenverfahren) durchaus auch relevante Aspekte der zukünftigen Lebensgestaltung der Antragsteller. Im Bereich der Reha übt sie darüber hinaus eine wichtige Steuerungsfunktion aus. Gerade angesichts knapper Ressourcen muss der mögliche Nutzen bereits bei der Planung von Maßnahmen berücksichtigt werden. Nicht zuletzt davon (und von der Wirksamkeit, ohne die es keinen Nutzen geben kann) hängt auch die gesellschaftliche Legitimation der Institution Rehabilitation ab. Insofern kommt dem Thema Bedarfsfeststellung hohe Bedeutung für die Rehaträger zu.

In dem vorliegenden Schwerpunktheft werden Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Bedarfsfeststellung für Leistungen zur Teilhabe, Probleme der derzeitigen Begutachtungspraxis sowie aktueller Forschungsbedarf aus der Sicht des Sozialrechts, der Sozialmedizin und der Sozialwissenschaften diskutiert. Es knüpft an eine Reihe von Expertentagungen und Workshops an, die seit 2001 am Institut für Sozialmedizin in Lübeck [3] [4], dem Institut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie in Würzburg [5] und der Abteilung für Qualitätsmanagement und Sozialmedizin in Freiburg meist in Zusammenarbeit mit Rentenversicherungsträgern durchgeführt wurden. Bislang letztes Glied in dieser Kette war ein Symposium zum Thema „Bedarfsfeststellung: Gesetzliche Grundlagen, derzeitige Praxis und aktueller Forschungsbedarf” anlässlich des rehawissenschaftlichen Kolloquiums 2010 in Leipzig.

Die Beschäftigung mit Fragen der Bedarfsfeststellung hat also eine lange Geschichte innerhalb der Rehawissenschaften. Auch das zeigt den hohen Stellenwert des Themas. Schwerpunkte dieses Themenheftes sind Fragen des Sozial- und Behindertenrechts (Welti sowie Beck et al.), der Begutachtungsprozess im Rentenverfahren (Hesse u. Gebauer), Probleme der sozialmedizinischen Begutachtung von Anträgen zu Leistungen der medizinischen Reha wegen psychischer Leiden (Legner) sowie die besondere Rolle der Bedingungen am Arbeitsplatz bei der Feststellung von Rehabedarf (Dragano u. Schneider). Ein wichtiges Fazit aus den Beiträgen dieses Heftes ist, dass es gilt, Grenzen zu überwinden (oder zu überschreiten?), wenn der gesetzliche Anspruch einer umfassenden Reha eingelöst werden soll: Grenzen der sektoralen Gliederung unseres Sozial- und Gesundheitssystems, Grenzen der Versorgungsformen und Grenzen der verschiedenen Disziplinen. Thinking outside the box

Wir wollen hier versuchen, dies anhand einiger Fragen deutlich zu machen, die von den Beiträgen in diesem Schwerpunktheft angeregt wurden.

Literatur

  • 1 Deutsche Vereinigung für Rehabilitation. . Behindertenrechtskonvention jetzt umsetzen! Strategien der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation.  Rehabilitation. 2010;  49 48-54
  • 2 Welti F, Raspe H. Zur Feststellung von individuellem Bedarf an medizinischen Rehabilitationsleistungen nach dem SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen.  Deutsche Rentenversicherung. 2004;  1–2 76-92
  • 3 Mittag O, Glaser-Möller N. Rehabedarf und Rehaprognose: Neue Entwicklungen. Einführung in den Themenschwerpunkt (Editorial).  Prax Klin Verh med Rehab. 2007;  78 179-180
  • 4 Raspe H, Deck R, Mittag O. Bedarfsermittlung in der medizinischen Rehabilitation: Konzepte, Forschung, Praxis.  Prax Klin Verh med Rehab. 2003;  63 236-239
  • 5 Vogel H, Jäckel WH. Zugang zur Rehabilitation. Entwicklungen in der sozialmedizinischen Begutachtung (Editorial).  Rehabilitation. 2007;  46 1-2
  • 6 Raspe H, Ekkernkamp M, Matthis C. et al . Bedarf an rehabilitativen Leistungen: Theorie und Empirie.  Rehabilitation. 2005;  44 325-334
  • 7 Raspe H, Hüppe A, Richter S. Wirksamkeitsstudien in der Rehabilitationsforschung – ja, aber wie?.  In: Deutsche Rentenversicherung Bund , Hrsg. Tagungsband, „Innovation in der Rehabilitation – Kommunikation und Vernetzung”, 18. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium, 9. bis 11. März 2009 in Münster. DRV-Schriften 2009;  (83) 417-418
  • 8 Mittag O, Raspe H. Praktikabilität, Akzeptanz und Nutzen eines Selbstausfüllbogens für die Feststellung von Rehabilitationsbedarf: Abschlussbericht. Lübeck: Institut für Sozialmedizin; 2008
  • 9 Gerdes N, Karl EL, Jäckel WH. Computergestützte Entscheidungshilfen zur Bewertung von Reha-Anträgen (CEBRA).  Rehabilitation. 2007;  46 16-23
  • 10 Mittag O, Raspe H. Selbstausfüllbogen zur Unterstützung der Begutachtung von Rehabedarf: Probleme und Lösungen.  Rehabilitation. 2007;  46 50-56
  • 11 Meng K, Holderied A, Vogel H. Rehabilitationsbedarf in der sozialmedizinischen Begutachtung: Entwicklung und Evaluation eines Entscheidungsalgorithmus.  Rehabilitation. 2007;  46 41-49
  • 12 Gerdes N, Blindow D, Folert P. et al . „Stellschrauben” des Zugangs zur Rehabilitation: Lösungsmöglichkeiten für das prognostizierte Budgetproblem der Rehabilitation durch die Gesetzliche Rentenversicherung.  Phys Rehab Kur Medizin. 2003;  13 330-338
  • 13 Höder J. Aufgaben- und Rollenverteilung in der medizinischen Rehabilitation bei muskuloskelettalen Erkrankungen. In: von Eiff W, Greitemann B, Karoff M HrsgRehabilitations-Management: Krankenhaus und Rehaklinik im Leistungsverbund Stuttgart: Thieme; im Druck

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Oskar Mittag

Universitätsklinikum Freiburg

Abteilung Qualitätsmanagement

und Sozialmedizin

Engelbergerstraße 21

79106 Freiburg

Email: oskar.mittag@uniklinikfreiburg.de

Prof. Dr. med. Wilfried H. Jäckel

Universitätsklinikum Freiburg

Abteilung Qualitätsmanagement

und Sozialmedizin

Breisacherstraße 62

79106 Freiburg

Email: wilfried.Jaeckel@uniklinikfreiburg.de

    >