Evidenz in der Gesundheitsversorgung / Evidence in Health Care
Priorisierung und Rationierung von Arzneimittel – eine experimentelle Analyse von DiskussionsprozessenPriority setting and rationing of pharmaceuticals – an experimental analysis of discussion processes

https://doi.org/10.1016/j.zefq.2017.04.010Get rights and content

Zusammenfassung

Ziel

Infolge steigender Krankenkassenausgaben wächst die Notwendigkeit einer Priorisierungsdiskussion im deutschen Gesundheitswesen. Eine solche wurde in den vergangenen Jahren vermieden, sodass normative Vorgaben fehlen. Dies kann zu einer verdeckten Priorisierung unter Leistungserbringern im medizinischen Alltag führen. Priorisierung ist auf staatlicher (Makro), korporatistischer (Meso) und Patientenebene (Mikro) möglich. Analysen zu den gesellschaftlichen Präferenzen verschiedener Kriterien liegen vor. Allerdings ist unklar, wie eine Gewichtung dieser Kriterien bei Priorisierungsentscheidungen auf der Ebene der Erstattung von verschiedenen Arzneimitteln (Meso) ausgestaltet sein kann. Deshalb untersucht diese Studie die Anwendung und Gewichtung der Priorisierungskriterien auf der Meso Ebene unter Berücksichtigung des Einflusses von Wertevorstellungen und Erfahrungen.

Methode

Sechs Gruppendiskussionen mit Vertretern aus den Bereichen Medizin, Ethik, Public Health, Ökonomie u.w. wurden durchgeführt. Dabei wurden Informationen zu vier fiktiven Arzneimitteln für die Behandlung verschiedener Lungenerkrankungen in die Gruppen eingebracht, priorisiert und mit der dokumentarischen Methode ausgewertet.

Ergebnisse

Die Kriterien Lebensqualität, Lebenserwartung und weitere patientenrelevante Endpunkte (PE) wurden in dieser Studie häufig im Verhältnis zueinander diskutiert. Veränderungen der PE konnten von nicht-medizinisch ausgebildeten Teilnehmern nur schwer erfasst werden. Darüber hinaus wurden die Kriterien Kosten, Krankheitsschwere und Anzahl Patienten gegeneinander abgewogen. Kosten wurden eher zurückhaltend eingesetzt, dienten aber oft als Unterstützungsargument für andere Kriterien. Ebenso traten Rollenkonflikte zwischen Profession und persönlicher Überzeugung, sowie die Übertragung der Diskussion auf eine andere Entscheidungsebene als Herausforderungen bei Priorisierungsentscheidungen hervor.

Diskussion

Nicht die verschiedenen Präferenzen für einzelne Kriterien stellten ein Problem bei der Priorisierung dar, sondern deren missbräuchliche Anwendung. Die Operationalisierung der Kriterien scheint abhängig von dem individuellen Bezug zu den Erkrankungen, der Einstellung zur Priorisierung und der Übereinstimmung von Evidenz und eigenen Erfahrungen. Diese Hypothesen sollten in weiteren Analysen untersucht werden.

Abstract

Background/Objective

In the face of rising expenditure among statutory sickness funds in Germany it is necessary to start a discussion about priority setting in the healthcare system. For a long time this issue has been avoided in healthcare debates. As a result, normative directives are still missing, which can lead to priority setting among healthcare providers in daily healthcare practice. Prioritization can be conducted at three different levels: at the government (macro), the institutional (meso), and the patient (micro) level. Surveys about societal preferences for different criteria exist; however, specifications on their respective weighting in the situation of approval and reimbursement of pharmaceuticals (meso) are missing. For this reason, the present study analyzed the implementation and weighting of the criteria for priority setting at the meso level, taking values and experiences of the participants into account.

Method

Six qualitative focus groups were carried out with representatives from the fields of medicine, ethics, public health and economics. During the discussions four fictitious drugs for the treatment of different lung diseases were prioritized based on guidelines. The discussion processes were analyzed according to Bohnsack's documentary method.

Results

The criteria “quality of life”, “life expectancy” and “other patient-relevant outcomes” were discussed in relation to each other. The evaluation of change in patient-relevant outcomes was difficult to perform for non-medical participants. The second argument concerned the criteria “costs”, disease severity and “number of patients”. Costs were given less weight, but were often used to support other criteria. Other challenges in reaching a consensus included emerging role conflicts between profession and personal opinion, and the transfer of the discussion to a different level of decision-making.

Discussion

In the discussions the problem of prioritizing did not arise from different preferences for prioritization criteria, but from the weighting of the criteria. The operationalization of the criteria seemingly depends on the decision-making situation, the participants’ personal connection with the relevant disease and on the correspondence between evidence and personal experiences.

Section snippets

Einleitung

Die Diskussion über die Priorisierung von Gesundheitsleistungen ist in den vergangenen Jahren in Deutschland nur schleppend verlaufen. Während im europäischen Ausland bereits Ende der 1980er Jahre über den Umgang mit der wachsenden Diskrepanz zwischen medizinischer Machbarkeit und nachhaltiger Finanzierbarkeit diskutiert wurde, stieß das Thema hierzulande in der politischen Debatte lange Zeit auf geringe Resonanz. Aufgrund der Fokussierung auf Maßnahmen zur Einnahmensteigerung wurde eine

Studiendesign

Aufgrund der Komplexität der Fragestellung und des Ziels, personenspezifische Einflussfaktoren zu identifizieren, wurde ein qualitatives Forschungsdesign gewählt. Die Autoren entschieden sich hierbei für Gruppendiskussionen, da die angestrebten kollektiv bedingten Entscheidungsprozesse nur im Rahmen von Diskussionen in einer Gruppe erfasst werden können, nicht durch Formen der Einzelbefragung. Gruppendiskussionen wurden bereits häufig als Instrument zur Erfassung von Entscheidungsprozessen

Ergebnisse

Bezüglich der Frage nach einer Erstattungsreihenfolge wurden in allen Gruppen zwei Szenarien diskutiert. Im ersten sollte ein Konsens zur Priorisierung gefunden werden ohne Budgetrestriktion einbeziehen zu müssen. Anschließend erfolgte der Diskurs unter der Annahme eines fiktiven Budgets. Die Teilnehmer diskutierten dabei eine Vielzahl von Kriterien, welche sie zum Teil miteinander in Beziehung setzten (Abbildung 1). Bei der anschließenden Auswertung und Interpretation konnten zwei Kernkomplexe

Diskussion

Dies ist die erste deutsche Studie, die einen konkreten Diskussionsverlauf zur Priorisierung von Arzneimitteln auf der Meso Ebene analysiert. Vereinzelte qualitative Untersuchungen zu den Präferenzen verschiedener Personengruppen existieren [20], [21], [22], basieren aber meist auf individuellen Sichtweisen, die im Rahmen von Interviews und nicht bei der Anwendung der Kriterien im Kontext einer Diskussion erfasst wurden und demnach zum Vergleich der Ergebnisse nicht herangezogen werden können.

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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